Philosophische Stenographie

Frauke Kurbacher entschlüsselt das in Hannah Arendts Dissertation entfaltete Liebeskonzept

Von Maria BehreRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maria Behre

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1929 wurde Hannah Arendts Dissertation zuerst veröffentlicht, 2018 legt sie der Felix Meiner Verlag nun in seiner Reihe Philosophische Bibliothek neu auf, basierend auf einer Edition, die bereits 2006 bei Olms erschienen war. Wie bedeutend und erfreulich dies ist, zeigt die Veröffentlichungsgeschichte, lag die Arbeit doch nach der Ersterscheinung nur in der amerikanischen Ausgabe von 1996 und der französischen von 1991 vor. Auf Deutsch hatte Ludger Lütkehaus dann 2003, mit zweiter Auflage 2005, die Dissertation im Philo-Verlag veröffentlicht, zusammen mit Jaspers' Dissertationsgutachten und einem wichtigen Arendt-Artikel in der Frankfurter Zeitung zum Augustinus-Jubiläum 1930. Arendt hatte selbst Anfang der sechziger Jahre eine amerikanische Ausgabe vertraglich vereinbart, die jedoch nicht vollendet wurde. Die Übersetzungen unterzog sie sowohl hand- als auch maschinenschriftlich mehreren Revisionen. Sie nahm die Arbeit daran sehr ernst, wie sie ihrem Doktorvater Karl Jaspers in einem Brief vom 16. Januar 1966 mitteilte: „daß es ein Mensch verstehen kann, der philosophische Stenographie nicht gelernt hat“.

Die Herausgabe der aktuellen Ausgabe besorgte Frauke Kurbacher, die auch eine ausführliche Einleitung beisteuert. Hervorzuheben ist ebenso die Übersetzung der griechischen und lateinischen Stellen durch Kirsten Groß-Albenhausen sowie das Namens- und Sachregister durch Christine Albrecht.

Die bisher nur sporadisch erfolgte Rezeption der Arbeit könnte nun ansteigen. Kurbacher gibt in ihrer Einleitung wichtige Hinweise, um diese anzustoßen. Sie betont dort, wie wichtig die Bedeutung der Liebe in Arendts Gesamtwerk ist und wie sehr die Philosophin an Aristoteles‘ „philia“-Konzept anknüpft. Dass Arendt zur Darlegung ihres eigenen Liebeskonzepts von Augustinus ausgeht, trete demgegenüber zurück: Sie wende sich kritisch gegen die Einbindung der Anthropologie in eine Theologie und verharre auf der Autonomie einer „Subjekttheorie in interpersonaler Absicht“, der Frage nach der „Gestaltung des zwischenmenschlichen Raumes“, der Liebe in der Welt bzw. der Intersubjektivität als Anthropologem. Augustinus‘ Perspektive auf den Bezugspunkt Gott sei „außerhalb der Welt“ und damit nicht in Arendts Interesse. Kurbacher lässt Arendt aber immer wieder Modernitätssignale bei Augustinus entdecken, die in steten Wiederholungen leitmotivisch in der Dissertation wie im Gesamtwerk betont werden, z. B. die Fragehaltung des modernen Menschen, der sich selbst gegenüber entfremdet ist, die Quaestio-Haltung: „ich bin mir selbst zu Frage geworden“, oder die berühmte Beschwörung des Anfangsseins des Menschen, die Initium-Haltung seiner Natalität, Kernthese der Vita activa. Kurbacher vermag durch Bezüge auf die antike Philosophie Arendts Liebesphilosophie auf der Basis eines sehr freien Rezipierens des Augustinus zu klären, indem sie die Differenz zwischen Platons und Aristoteles‘ Liebesauffassung verdeutlicht. Im Kontrast zu Platons vertikaler idealistischer Transzendenz im Eros betonte der von Arendt favorisierte Aristoteles eine „philia“, die auf Wechselseitigkeit basiert und zwischen Liebe und Freundschaft bewusst die Waage hält. Sie ist die Tätigkeit einer Seele, die Emotionalität gemäß der „Phronesis“ mit Lebensklugheit und Verständigkeit ausdrückt. Diese ganz von der Lebenszugewandtheit und Freude am Lebendigen bestimmte Anthropologie des Aristoteles würdigt das Dasein ohne Vertröstungen auf ein Jenseits, sei es heidnisch oder christlich.

Damit rückt Kurbacher auch Arendts Auseinandersetzung mit Heidegger und dessen Konzept der Thanatologie als geheime Folie der Arendtschen Dissertation ins Bewusstsein, denn Natalität steht Heideggers „Sein zum Tode“, der Mortalität, gegenüber. Auch Lütkehaus machte diese Bewegung explizit, wenn er die Dissertation „als verschwiegenes Protokoll der Liebe zu Martin Heidegger“ las. Die Berechtigung ergibt sich auch aus der von Arendt Heidegger gegenüber offenbarten Widmung ihrer Handlungstheorie der Vita activa an ihren Lehrer, denn dieses Werk zielt auf die Handlung des Liebens in Form der Macht des Verzeihens und Versprechens.

Kurbacher sieht die zentralen Augustinus-Bezüge der Vita activa noch nicht in der Dissertation angedeutet. Das kann man anders sehen, wenn man die zentralen Augustinus-Zitate in der Vita activa betrachtet und auf der Folie der Begriffsunterscheidungen der Dissertation gegenliest. Der Mensch ist das Wesen, das sich selbst zur Frage geworden ist. Arendt unterscheidet mit Augustinus dabei die beiden Fragen „Wer bin ich?“ und „Was bin ich?“ (im ersten Kapitel). Die Dissertation zielt schon auf eine Anthropologie. Die aristotelische Lebensform „bios politikos“ heißt bei Augustinus noch nicht „vita activa“ in den mittelalterlich defizitär bestimmten Formen des Arbeitens und Herstellens, sondern „vita actuosa“ als wertvolles Handeln, als eine den politischen Dingen zugewandte „Praxis". Die Dissertation begründet das Handeln als ein vorbildliches Lieben. Augustinus beschreibt die Gemeinschaft einer christlichen Gemeinde auf der Basis der Nächstenliebe als Stiftung eines „Zwischenraums“, eines öffentlichen Raums, der sich der Welt im Paradox der Weltlosigkeit öffnet, nach spezifischen Regeln der menschlichen Beziehungen in ihrer eigenen Welt. Die Dissertation veranschaulicht die Liebe innerhalb der Gemeinde als Energie innerweltlicher Gemeinschaft. Schließlich begründet Arendt mit Augustinus‘ Unterscheidung des Anfangs der Welt (principium) und des jeweils neuen Anfangens menschlichen Handelns (initiums) ihren Handlungsbegriff. Die Dissertation wendet die Kosmologie in eine Liebespraxis auf Erden.

Aus dem in der Dissertation dargelegten Denken des Augustinus gewinnt Arendt somit gleichsam eine ihr Werk bestimmende manichäische Oppositions-Struktur: Zerstreuung als Flucht vor sich selbst, angstvolle Abwendung vor dem Malum vs. Liebe als Zuwendung zum Bonum; Verlorenheit in der Neugier nach dem Totum („Multa“ als Vollheit) vs. Suche nach Erinnerung, Rückbezug, Rückbindung an die Religion, ein Sich-selbst-Erfragen im „pars pro toto“ („Multum“ als Fülle). Analog liegt der Kontrast zwischen „extra me", in der Libido des Sich-selbst-Versklavens an die Welt, und „intra me", im Dienen in der Liebe der dienenden Caritas, einer Einheit aus „amor sui“ und „amor mundi“. Bei Augustinus schlösse diese Liebe die „amor Dei“ mit ein, da sie die liebende Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf im Doppelsinn von Genitivus subiectivus und obiectivus umfasst. Aus einer theologisch-exegetischen Perspektive wäre Arendts Weg von der Deutung des Augustinus weg von philosophischer Transzendenz zu einer Immanenz zu betonen. Damit ist immer noch ein Forschungsimpuls formuliert. Der ihre Dissertation abschließende Gedanke der „vita socialis“ und die in den letzten Dissertationssätzen angesprochene „communis fides, die Gemeinschaft der Gläubigen“, könnte anhand der Augustinus-Zitate zum Johannes-Evangelium entfaltet werden. Hier wäre nach Rudolf Bultmanns Deutung, als Arendts Lehrer in Protestantischer Theologie, zu fragen, dessen Entmythologisierung Arendt als Enttheologisierung der Liebe weiterführt. Die Dissertation als „philosophische Stenographie“ bietet somit noch viele Möglichkeiten des Weiterdenkens.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Hannah Arendt: Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation.
Philosophische Bibliothek 688. Mit einer Einleitung und Anmerkungen von der Herausgeberin Frauke A. Kurbacher.
Felix Meiner Verlag, Hamburg 2018.
LXVIII, 174 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783787329908

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