Von Kierkegaard zu Kafka

Hannah Arendts „Die verborgene Tradition“ angesichts des offenen Abgrunds

Von Maria BehreRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maria Behre

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wieder ein erhellender Blick in Hannah Arendts Werkstatt sowie ihre Arbeit inmitten der amerikanischen und deutschen Veröffentlichungsgelegenheiten. Besonders vielversprechend, wenn auch anspruchsvoll, scheint es, bei der Betrachtung von Sechs Essays. Die verborgene Tradition den Unterschieden in den jeweiligen sprachlichen Fassungen nachzugehen.

In ihrer Zueignung an Karl Jaspers als erster deutscher Veröffentlichung nach den „zwölf Jahren von 1933 bis 1945“ spricht Hannah Arendt von einem Miteinanderreden „unter den Bedingungen der Sintflut“, des Zweiten Weltkrieges und der systematischen Ermordung der Juden. Auf die Vereinzelung und Zerstreuung anspielend richtet sie ihren Blick auf den durch Auschwitz geschaffenen „Boden der Tatsachen“, von dem aus erst eine „Welt“ neu begründet werden müsse, in der sich Menschen wieder begegnen können. Gemeinsam mit ihrem Doktorvater Karl Jaspers arbeitet Arendt am Konzept eines ‚Weltbürgertums‘ und ihrer gemeinsamen Existenz als ‚öffentliche Intellektuelle‘.

Der vorliegende Band gliedert sich in drei Hauptkapitel, die mit den Titeln Sechs Essays – darin die Texte der Sechs Essays, die im März 1948 im Heidelberger Verlag Lambert Schneider erstmals erschienen –, Die verborgene Tradition – darin Arendts Uwe Johnson zusätzlich vorgeschlagene Texte für die Neuausgabe der Sechs Essays bei Suhrkamp, 1976 – sowie Erstveröffentlichungen – darin Texte aus dem Umkreis der Sechs Essays – überschrieben sind. Den drei Hauptkapiteln folgt ein „Anhang/ Appendix“ mit einem ausführlichen Kommentar der Texte, sodass erst dort ihr Zusammenhang erschließbar wird, wie z.B. der zwischen Arendts Essays Juden in der Welt von gestern sowie Portrait of a Period und Stefan Zweigs Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers von 1942. Eine Zeittafel veranschaulicht die komplexe Chronologie der Entstehungsgeschichte der einzelnen Aufsätze. Das erste Hauptkapitel, Sechs Essays, umfasst u.a. die Essays Über den Imperialismus, englische Erstveröffentlichung unter dem Titel Imperialism: Road to Suicide, Februar 1946, und Organisierte Schuld, englische Erstveröffentlichung unter dem Titel Organized Guilt and Universal Responsibility, Januar 1945. Zwei weitere Aufsätze verweisen bereits auf Arendts Totalitarismus-Studie von 1951 beziehungsweise auf ihr Buch Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen von 1963. Das dritte Hauptkapitel Erstveröffentlichungen beinhaltet die der Ausgabe von 1976 hinzugefügten Texte wie den Artikel Aufklärung und Judenfrage, entstanden 1932 und damit der älteste Text dieser Ausgabe, eine wichtige Lessing-Analyse, sowie den Aufsatz Der Zionismus aus heutiger Sicht, geschrieben im November 1944, veröffentlicht im November 1945, englisch: Zionism Reconsidered, worin Arendt für die jüdisch-arabische Verständigung plädiert.

Gleichermaßen aktuell, auch im Sinne der Ausbildung demokratischer bürgerlicher Tugenden, ist Arendts Deutung Franz Kafkas, zu der im dritten Hauptkapitel mehrere Beiträge versammelt sind. Ihre Kafka-Deutung wurde schon früh als wegweisend und innovativ erkannt. Als Expertin überzeugt Arendt – wie der Kommentar darlegt – Salmon Schocken von der Dringlichkeit einer Kafka-Ausgabe. Der Verleger stellt sie im Sommer 1946 mit der Aufgabe, die amerikanische Kafka-Ausgabe zu betreuen, als Lektorin ein. Zusammen mit Max Brod gab sie The Diaries of Franz Kafka, Vol. 2, 1914-23 in New York 1949 heraus. Dass ihr unter dem Titel Franz Kafka: A Revaluation (On the occasion of the twentieth anniversary of his death) gedruckter Vortrag einer der ersten Texte war, die sie auf Englisch schrieb, lässt sich dem Kommentar entnehmen, der auch einen Blick auf die Wirkung eröffnet. Der renommierte Politikwissenschaftler Dolf Sternberger brachte als damaliger Herausgeber der Zeitschrift „Die Wandlung“ Arendts Vermittlungsleistung auf den Punkt, indem er betonte, dass sie „ganz ohne Metaphysik und Religionsphilosophie“ auskomme. Als lebenslanger Briefpartner Arendts erinnert er in einem Brief vom 4. Mai 1974 an deren frühe Kafka-Lektüre zur Heidelberger Studienzeit in den 1920er Jahren.

Wie aber erscheint uns Arendts Vermittlung der Existenzphilosophie heute? Wie geht die Philosophin mit ihren Lehrern Martin Heidegger und Karl Jaspers um? Warum entschied sie sich gegen die Zulassung der weiteren Neuauflage des Aufsatzes Was ist Existenzphilosophie? Vermisst Arendt bei der Existenzphilosophie den Weg von der Anthropologie zur Ethik und Politik, wie sie in der Spannung von „solitaire“ zu „solidaire“ in Albert Camus‘ Werk gesucht werden kann und in dem Kontrast zwischen der einsamen Revolte angesichts des Absurden und der Revolte als Vollzug einer um Gerechtigkeit kämpfenden politischen Aktion – wie Camus‘ erfolgreichem Kampf um die Abschaffung der Todesstrafe – auch gefunden wurde? Wollte sie sich nicht mit der Differenz zwischen deutscher Existenzphilosophie und französischem Existentialismus beschäftigen? Sah sie zwischen dessen Protagonisten Jean-Paul Sartre und Albert Camus Unterschiede, die sich letztlich nicht mehr unter einem Etikett zusammenführen ließen? Oder sieht sie hinter den Leitworten der „Heimatlosigkeit“ und „Unbehaustheit“ nur noch eine modische „Pose“?

Die Beantwortung dieser Fragen bleibt einer intensiven Beschäftigung mit den hier vorgelegten Textfassungen in ihren feinen Differenzen vorbehalten. Auch Camus hatte sich ja mit Kafka beschäftigt. 1948 erschien Der Mythos des Sisyphos erstmals mit der in der Erstauflage von 1942 (die Arendt besaß) nicht enthaltenen Kafka-Studie.

Arendt sieht in Søren Kierkegaard den eigentlichen Schöpfer der Existenzphilosophie, weil er den „Einzelnen“ gegen Hegels „Ganzes“ etabliert; Kierkegaards Konzept von einer „Ausnahme“-Existenz, die sich nicht in einer Gemeinschaft weiterentwickelt, verharrt in einer sehr ernsten Sphäre der „Trübsinnigkeit“, die Auseinandersetzung mit „Tod, Zufall und Schuld“ geschieht in einem einsamen Denkgeschäft. Schon Jaspers vermisst im Kapitel Existenzphilosophie in seiner Schrift Die geistige Situation der Zeit (1931) bei Kierkegaard eine „Mitteilungsmethode“. Jaspers‘ Auseinandersetzung mit Kierkegaards Trias der „Grenzsituationen“ „Tod, Zufall und Schuld“ und die Weiterführung in einem „Kommunikationsbegriff“ interessiert Arendt. Sicher wäre es spannend, Werke zu suchen, die Jaspers‘ „spielender Metaphysik“ (playful metaphysics) experimentierender Gedankenbewegungen entsprechen. Arendt findet sie bei Kafka. In Kafkas Kunst liegen neue Formen der „Mitteilung“ vor, sei es über Prozesse des Kampfes oder der Liebe. In Kafkas Schreiben sieht Arendt die Expression vor einer Leserschaft, deren Reaktion aktiv gewollt ist, eine Aufforderung zu einer freien, befreienden Handlung.

Wiederum liefert die Kritische Gesamtausgabe im ausführlichen Kommentar von über 100 Seiten interessante Feinheiten des genauen Denkens und um Mitteilung bemühten Schreibens Arendts. Arendt zitiert z.B. aus Jaspers‘ Schrift Die geistige Situation der Zeit von 1931 die zentrale Definition der Existenz: „[D]er Mensch als Möglichkeit seiner Spontaneität wendet sich gegen sein bloßes Resultatsein“, ebenso in der englischen Übersetzung, während dieser Satz in der englischen Übersetzung von Jaspers‘ Buch, die bereits vorlag (Man in the Modern Age, 1933), fehlt.

Dass Klaus Wagenbach, Mitglied der Gruppe 47, im Juni 1964 bei Arendt anfragt, ob er mit ihren Essays seinen im Herbst des Jahres zu gründenden Verlag zum Start bringen könnte, und dies Ansinnen bis April 1965 – wenn auch vergeblich – weiterverfolgte, war bisher so nicht bekannt, lässt sich aber gut nachvollziehen. Denn Wagenbach veröffentlichte 1958 eine Kafka-Biographie zu den Jahren 1883-1912, dann 1964 seine berühmte Rowohlt-Monographie; wie wäre es gewesen, wenn dies im Jahr der Veröffentlichung von Arendts Eichmann in Jerusalem (1963) gelungen wäre? Arendts Analyse des Totalitarismus im Kafka-Roman Der Prozess offenbart die Mitwirkungsbereitschaft eines Bürokraten, in dessen Kopf sich die Verhaftung als ein Verhaftet-Sein in selbstinduzierter Ohnmacht offenbart.

Aber was bedeutet der Titel Die verborgene Tradition? Bietet er die in den gescheiterten Veröffentlichungsverhandlungen mit Klaus Wagenbach nicht gefundene „innere Konzeption“ der Sechs Essays, ist es eine „verlorene Tradition“, eine „geborgte Tradition“, eine „zu bergende Tradition“ oder eine „zu verbergende Tradition“ des Jüdischen zugunsten einer die Religionen oder Konfessionen übergreifenden, in ein neues Ganzes integrierenden Erneuerung des Humanismus nach dem Holocaust, nach der Dialektik der Aufklärung als einer naiven Vernunftgläubigkeit ohne politische Widerstandskraft gegen die Entrechtung der Menschen? Ist es die „Tradition“, die Jaspers für den ‚ungeborgenen Menschen‘ seiner Zeit schon 1931 vermisste und auch im Genfer Vortrag vom September 1946 Vom europäischen Geist als das „Ungenügen an der Geborgenheit in einer abgeleiteten Welt“ und in einer „beruhigten, den Menschen geistig bergenden Welteinrichtung“ nicht mehr fand? Beschwört Arendt etwas Bleibendes anstelle der verlorenen deutschen Nationalität, wenn sie gegenüber Jaspers mit Friedrich Hölderlin sagt: „Was bleibt, ist die Sprache, und wie wichtig das ist, weiß man wohl erst, wenn man mehr nolens als volens andere Sprachen spricht und schreibt. Ist das nicht genug?“ (Briefschluss vom 17. Dezember 1946).

Schon Arendts Freundin, Nachlassverwalterin und Biographin Elizabeth Young-Bruehl betonte, ausgehend von Arendts Randnotizen in der englischen Bearbeitung ihrer Dissertation, dass Arendt Liebe als Linderung der Todesfurcht weniger mit psychologisch kategorisierbarer Begierde denn mit philosophisch geprüfter Existenz auf der Basis von Erinnerung und Dankbarkeit, also Tradition, verbindet: „Sei dankbar, so sein zu wollen, wie du bist“. Für Young-Bruehl weist die Formel „Werde, was du bist“ in der Deutung „erkenne dankbar an, was Dir die Tatsache des Geborenseins bietet“, über Martin Heidegger, Friedrich Nietzsche und Augustinus zurück auf Pindar. Hier wäre auf Arendts Lehrer schon vor ihrem Externenabitur hinzuweisen, Romano Guardini. Dieser kritisiert „ein bloßes psychologisches Kennen“ und betont „personales Verstehen“. In einem 1932 veröffentlichten Artikel, Möglichkeiten und Grenzen der Gemeinschaft, wiederveröffentlicht 1950 unter dem Titel Vom Sinn der Gemeinschaft, deutet die Existenzformel entsprechend: „Sei, der Du bist; und wachse voran, damit Du werdest, der Du sein sollst!“

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Hannah Arendt: Sechs Essays. Die verborgene Tradition.
Kritische Gesamtausgabe, Band 3. Herausgegeben von Barbara Hahn unter Mitarbeit von Barbara Breysach und Christian Pischel.
Wallstein Verlag, Göttingen 2019.
503 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783835332782

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