Brauchen wir einen neuen Gesellschaftsvertrag?

Über Aleida Assmanns lesenswerte Wiener Vorlesung

Von Leif KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Leif Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Anbetracht der „Krise der EU“ – Brexit, Migrationsbewegungen und vieles mehr wäre zu nennen – fordert die emeritierte Konstanzer Anglistin und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann in ihrer nun im Druck vorliegenden Wiener Vorlesung eine „Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten“ als Ergänzung und Komplettierung der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“.

Die Erfahrung von Flucht, Vertreibung und Migration hat in Europa eine lange Geschichte. […] Migration [ist] ein zentraler Teil der europäischen Gewaltgeschichte, die 1945 keineswegs ein Ende fand, sondern sich weit in die Nachkriegszeit fortsetzte.

Ausgehend von dieser Feststellung rekapituliert Assmann im ersten Teil ihres für den Druck überarbeiteten und ergänzten Vortrags die europäische Immigrationsgeschichte. Assmann, die zusammen mit ihrem Mann, dem Ägyptologen Jan Assmann, in diesem Jahr mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wird, zieht deutliche Parallelen der aktuellen Flüchtlingskrise vor allem zu den Jahren nach 1990 in Deutschland und in Europa. Die Europäische Union sieht sie durch die Flüchtlingskrise und die damit verbundenen Mobilitätsbewegungen, die anders als in den 1990er Jahren nicht von Europa ausgeht, sondern auf Europa zukommt, tief gespalten. Zugleich stelle sich die Frage neu, auf welchen Grundlagen wir tagtäglich miteinander umgehen beziehungsweise umgehen sollten. Die Lösung dieses Problems und die Antwort auf die Frage, wie Europa seine Spaltung überwinden und die Integration der Flüchtlinge bewältigen kann, sieht Assmann in einem neuen Gesellschaftsvertrag, der aus Menschenrechten und den dazugehörigen Menschenpflichten besteht.

Aleida Assmann zeigt eindrucksvoll, dass die Essenz der Menschenplichten in den verschiedenen Kulturen und Zeitepochen im Kern identisch ist. In einem Diskurs über die Geschichte der Menschenpflichten schlägt Assmann einen Bogen von den altägyptischen Weisheitslehren und idealbiografischen Darstellungen in ägyptischen Gräbern, über die „Sieben Werke der Barmherzigkeit“ im Christentum bis hin zu den neuzeitlichen „Humanen Tugenden“ von Sigfried Kracauer. Die Kulturwissenschaftlerin zeigt dabei, dass die Quintessenz – nämlich die Goldene Regel „Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg auch keinem andern zu“ – in der einen oder anderen Form seit Jahrtausenden existiert.

Im letzten Teil ihres Beitrags erörtert Aleida Assmann zuerst die Rolle der Menschenrechte, um daran anschließend die Frage nach der wichtigeren Bedeutung der Menschenpflichten zu konkretisieren. Dabei gilt es zu betonen, dass die Menschenplichten und die Menschenrechte keinesfalls konkurrierende Konzepte bedeuten, sondern im Gegenteil sich gegenseitig ergänzen:

Damit zukünftige Generationen überhaupt noch Rechte wahrnehmen können, müssen sich ihre Vorgänger Schranken auferlegen und Selbstverpflichtungen eingehen. […]. Man muss mit den Pflichten beginnen, um auch Rechte in Anspruch nehmen zu können.

Mit diesen, im gegenwärtigen Diskurs leider zu oft vergessenen Weisheiten beleuchtet Assmann die aktuellen Diskussionen zu Menschenpflichten, beginnend mit den „Zehn Thesen zur deutschen Leitkultur“ des damaligen Innenministers Thomas de Maizière, die sie kritisch in die Übelregungen über die allgemeinen Menschenpflichten einordnet. Nach einem Rückgriff auf die erwähnte Goldene Regel, diskutiert Assmann abschließend die existierende „Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten“, die 1997 von Helmut Schmidt und anderen Staatsführern unterzeichnet und bei der UN eingerichtet wurde. Leider geht Assmann nicht mehr darauf ein, wie man die seitdem nicht mehr beachtete Erklärung in den Fokus rücken und sie neben der Menschenrechtserklärung installieren könnte. Aber wahrscheinlich würde eine Diskussion über diese Machbarkeit auch den Rahmen einer literaturwissenschaftlich-kulturwissenschaftlich angelegten Vorlesung sprengen, oder müsste um politologische und soziologische Implikationen erweitert werden.

Aleida Assmann schließt mit dem Satz: „Wie gut, dass es die Menschenpflichten schon gibt – wir müssen sie gar nicht neu erfinden, sondern brauchen sie nur wiederzuentdecken und umzusetzen!“

Zu der Wiederentdeckung der Menschenplichten liefert ihr Wiener Vortrag insgesamt einen wichtigen und anregenden Beitrag. Man kann nur hoffen, dass dieser Diskurs auch in die breite Öffentlichkeit und die Politik nachhaltig Einzug hält!

Titelbild

Aleida Assmann: Menschenrechte und Menschenpflichten. Auf der Suche nach einem neuen Gesellschaftsvertrag.
Picus Verlag, Wien 2017.
106 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-13: 9783711730077

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