Familiendrama in New Orleans

Jami Attenberg zeichnet in dem Roman „Ist alles deins“ nicht nur ein empathisches Porträt ihrer Protagonisten, sondern auch eine aktuelle Momentaufnahme der immer noch an den Folgen von Hurrikan Katrina leidenden Stadt New Orleans in der Trump-Ära.

Von Monika GroscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Grosche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein schwülheißer Augusttag in New Orleans. Hier liegt der 73jährige „Boss“ Victor Tuchman nach einer Herzattacke bewusstlos in einem Krankenhaus und wird nur noch kurze Zeit zu leben haben. Doch seine Familie verfällt darüber nicht gerade in tiefe Trauer. Seine um ewige Jugend ringende Frau Barbra konzentriert sich lieber weiter darauf, Diät zu halten und in Form zu bleiben, indem sie ihr tägliches 10.000-Schritte Programm auf den Krankenhausfluren absolviert. Von den beiden Kindern reist allein Tochter Alex an, während Gary zwar in Los Angeles mehrere Tickets bucht, aber am Ende doch lieber kiffend in Kalifornien bleibt. Auch Alex kommt nicht, um sich von ihrem Vater zu verabschieden. Ihr Beweggrund ist der Wunsch, endlich die Hintergründe der verqueren Beziehung ihrer Eltern zu erfahren. Denn genau wie Gary leidet sie noch immer unter dem Trauma ihrer schlimmen Kindheit. Emotional von der Mutter vernachlässigt und vom narzisstischen Vater, der auch gerne Schläge austeilt, tyrannisiert, war allein die Großmutter Anya eine positive Bezugsperson für die beiden Kinder. Unbedingt möchte Alex wissen, warum Barbra die Gewalttätigkeit dieses bösartigen Mannes duldete und das toxische Familienleben aufrechterhielt. Doch ihre Mutter ist nicht gewillt, ihr diesen Gefallen zu tun. Schließlich war Schweigen schon immer ihr einziger Umgang mit den schlechten Seiten ihres Mannes. Allein Twyla, Garys Frau, scheint von dem Schicksalsschlag tief betroffen, zumindest deuten ihr haltloses Weinen auf dem Krankenhausparkplatz und ihr zwanghafter Großeinkauf von Lippenstiften darauf hin, dass der Vorfall sie nicht kalt lässt.

Zeitlich auf nur einen Tag fokussiert seziert Jami Attenberg auf meisterhafte Weise die Beziehungen dieser zerrütteten Familie, die geprägt ist von Gewalt und emotionaler Abhängigkeit. Mit einem messerscharfen analytischen Blick, voller Lust am Erzählen und einem Gespür für Nuancen lässt Attenberg die Verletzungen und Verwundungen ihrer Protagonisten offenbar werden, indem sie deren Beziehung zu Victor als Ehemann, Geliebtem, Vater und Großvater durchleuchtet. Auf diese Weise wird er nicht zum Monster stilisiert, sondern differenziert als Person dargestellt. – Die Frage jedoch, warum Victor einen solch zerstörerischen und manipulativen Charakter entwickelte, bleibt bis zum Schluss offen. Dementsprechend ist auch er der Einzige, dessen Sicht bei der multiperspektivischen Erzählweise unberücksichtigt bleibt. Er hat nun nichts mehr zu melden, lange genug war er für die anderen der Dreh- und Angelpunkt ihres Lebens, wobei er einige, so etwa Barbra und Twyla, auch zu Mittäterinnen in seinem grausamen Spiel gemacht hatte.

Von seiner physischen Präsenz befreit liegt es nun an ihnen, ihr Leben ohne Victor neu zu ordnen und zu bewerten. Das Ganze wird ohne jedes Pathos, dafür humorvoll und mit einem wundervollen Blick auf scheinbar Nebensächliches erzählt. Selbst eingestreute Nebenhandlungen mit Figuren, die nur einmal kurz auftauchen – so etwa die Gerichtsmedizinerin, ein Mitpatient oder der Totengräber – stören den Spannungsbogen nicht, sondern stellen zusätzliche, interessante Facetten im Kaleidoskop dieses Tages dar und schaffen aktuelle Bezüge zum Alltagsleben im hurrikangeplagten New Orleans und zur gesellschaftlichen Lage in der Ära Trump.

Am Ende bleibt Empathie und Trauer über die Abgründe, die sich im Lauf der Lektüre auftun – aber dank eines kurzen Ausblicks in die Zukunft auch die tröstliche Hoffnung, dass die weiblichen Personen der Familie es schaffen können, trotz der Schatten der Vergangenheit einen eigenen, selbstbestimmten Weg für ihr Leben zu finden. 

Titelbild

Jami Attenberg: Ist alles deins! Roman.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2021.
320 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783895613586

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