Eine poetische Einladung zum Tanz

Margaret Atwood dichtet in „Innigst – Dearly“ über Mensch und Natur

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ob es sich ziemt, Margaret Atwood, der großen, weltberühmten Schriftstellerin, die ihre Leserinnen und Leser mit einem neuen Gedichtband in einer zweisprachigen Ausgabe erfreut, behutsam und schüchtern zu Beginn zu widersprechen? Die Lektüre beginnt – nicht unüblich – mit dem Klappentext, denn die „jüngsten Gedichte“ sind natürlich „späte Gedichte“, ein bisweilen weises, doch auch jugendfrisches, scharfsinniges und scharfsichtiges Werk, verfasst von der 83 Jahre alten Autorin. Gedichte wie diese, so schreibt sie in „Späte Gedichte“, seien „wie Treibgut“. Die eine oder der andere mag zaudern und nachdenklich werden, was Atwood bewegt und von Jan Wagner ins Deutsche übertragen wurde:

It’s late, its very late;
too late for dancing.
Still, sing what you can.
Turn up the light. Sing on:
sing: On.

Es ist spät, allzu spät;
zu spät zum Tanzen.
Und doch, sing, was du nur kannst.
Dreh die Lichter auf: Sing weiter,
sing: Weiter.

Verse wie diese können skeptisch gelesen werden. Kann es wirklich je im Leben zu spät sein, um noch einmal zu tanzen? Der Rhythmus, der Klang und auch die Farben der Sprache ändern sich. Zu später Stunde also zeigt die Dichterin an, dass es zu spät sein kann, um einen Tanz zu wagen, vielleicht auch – um einen Roman zu schreiben. Die Form ändert sich, aber aus der angedeuteten Resignation erwächst Neues. Wer nicht mehr zu tanzen vermag, der kann und darf zu singen beginnen, eine neue Melodie, ein anderes Licht strahlt auf. Die Lebensglut dauert fort, das Feuer ist noch nicht erloschen. Wir verstehen die Botschaft, doch die Frage darf bleiben – kann es je „zu spät zum Tanzen“ sein? Margaret Atwood lässt in ihrem neuen Lyrikband auch die Wörter tanzen, nicht spielerisch vergnügt, doch achtsam, sorgfältig, freimütig und kunstvoll. Womit Lyrik sich beschäftigt, legt sie im Vorwort dar – dankenswerterweise ganz knapp –, dazu gehören Liebe, Tod und Vergänglichkeit, auch „Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit“, vieles mehr. Atwood ergänzt, dass Vögel unverzichtbar seien:

Es tauchen in diesen Gedichten mehr Vögel als jemals zuvor auf. Ich wünsche mir, daß es im nächsten Lyrikband, sollte es denn einen geben, abermals mehr sind, und auch in der Welt, wünsche ich mir, möge es mehr Vögel geben. Laßt uns alle miteinander hoffen.

Denkt Margaret Atwood an Tiere oder Menschen? Vielleicht auch an beide zugleich – auf je eigene Weise? Sie dichtet über die „Vogelseele“, denn wer wollte ausschließen, dass Vögel „menschliche Seelen“ sind oder sein könnten, und fragt: „Was bist dann du für ein Vogel?“ Es gebe den „Frühjahrsvogel mit freudigem Gesang“, auch den „Höhenflieger“, doch Letzterer mag entschweben oder sich in metaphysische Gefilde emporschwingen:

Bist du eine Eule,
Räuber mit weichem Gefieder?
Jagst du, rastlos, ruhelos
Die Seele deines Mörders?

Die poetische Geschichte zeigt Variationen an, Denkräume, Denkmöglichkeiten – nicht mit bloßer Klugheit verbindet die Lyrikerin die Eule, macht aus ihr auch keinen Philosophenvogel, sondern einen „Räuber“, eine Seele auf der nächtlichen Jagd, die – das bleibt ein poetisches Rätselwort – nicht dem Mörder „rastlos“ nachspürt, sondern dessen Seele. Dies Geheimnis löst sich nicht auf. Die letzte Strophe zeigt die leise Traurigkeit über eine entschwundene Seele. Das lyrische Ich sieht bekümmert: der Andere ist fort. So dichtet Atwood:

Ich weiß, du bist kein Vogel,
Wenngleich dein Flug
Dich in die Ferne trug.
Irgendwo muß ich dich wissen …

Lesend halten wir inne, denken nach, sinnieren, auch über „Trugbilder“ – und „du entscheidest: / alles fand niemals statt“. Die poetische Fantasie bewegt sich durch die Sphären der Erinnerung, kreiert sich ihre eigene Wirklichkeit oder erklärt die erinnerte Welt zur lyrischen Fiktion. Der Blick ins Innere bleibt haften an den Konturen und Facetten der Zeit, „ausgebreitet wie ein Picknick“ gegenwärtig ist, und „noch leuchtet, / obschon es Nacht ist“. Dazu gehören lustvolle Momente, ebenso Beobachtungen, die Margaret Atwood realistisch und mit feiner Ironie präsentiert: „Das Geschlechtsleben aller anderen wirkt völlig unmöglich.“ Im Originaltext steht auf der Seite gegenüber: „Everyone else´s sex life seems so impossible.“ Warum also „völlig unmöglich“? Hätte „so unmöglich“ oder „einfach unmöglich“ dies nicht treffender beschrieben? Jan Wagner sucht den passenden Ton, um Atwoods Lyrik atmosphärisch zu fassen – und zumeist gelingt ihm das sehr gut, nuanciert und sorgfältig. Hier dichtet er selbst ein Wort hinzu, das nicht ganz zu passen scheint. Im Gedicht heißt es weiter:

Bitte laßt eure Kleidung an.
Es gibt sie ja nicht ohne Grund:
um euch vor euch selbst zu schützen,
vor dem Voyeur in euch.

Niemand sehe wie ein Filmstar aus, nicht einmal Filmstars, „wenn sie einen Tag frei haben“. Doch dann beginnt Margaret Atwood, was Lesende längst ahnten, sie preist die Liebe, das „irrsinnige, rosarote Zirkuszelt“, dessen „Halbdunkel jeden Anblick verzeihlich macht“ und ein „Feigenblatt für unsere Liebenden“ ist. Auch die Liebe selbst wird, sehr treffend, als Zirkuswelt bezeichnet, grotesk, heiter und bizarr, kunstvoll und artistisch, eine Welt, in der ein ganz eigenes Spiel stattfindet: 

So verlockend dieser Bogen aus falschem Marmor,
in der Mitte zwischen Klassik und Kirmes –
so griechisch, so Sarrasani,
solch ein Fanal,
mit einem Schild aus gasblauem Neon:

Liebe! Hier entlang!
Hereinspaziert!

Leserinnen und Leser erwägen noch immer, dass sie dem Spiel nicht zuschauen mögen und doch den Blick davon nicht wenden können, denken auch an sich selbst, an die eigene Zweisamkeit, mit ihren Regeln und Gewohnheiten, spielerisch entrückt, verzückt und vergnügt. Zugleich bemerkt Margaret Atwood, sehr viel später in einem anderen Gedicht, was auch für diese Verse gelten könnte:

Die Welt, die wir zu sehen glauben,
ist nicht mehr als eine Mutmaßung.

Das Leben, das wir und andere leben, wirkt mitunter ebenso, von außen, auch von innen betrachtet, im Rückblick und in der so schwierigen Vorschau auf das Kommende, eine „Mutmaßung“, ein philosophischer Gedanke oder ein lyrisches Spiel, in das das mit Wucht medial die brutale Realität und die tiefe Traurigkeit hineintritt, ein am Verpackungsmüll verendeter Wal. Die Natur- und Tierfreundin Margaret Atwood dichtet:

Alle weinten, als sie es sahen
im blauen Rechtecksmeer des Fernsehers:
so groß und traurig

die Walmutter –
sie führt ihr Kalb
drei Tage mit sich, voller Kummer,
weil es durch giftiges Plastik starb.

So groß und traurig,
daß wir es kaum begreifen.

Aber jetzt ist da ein toter Wal,
direkt vor uns auf dem Bildschirm:
so groß und traurig,
daß etwas getan werden muß.

Wird es auch! Wirklich jetzt?
Werden wir’s tun, zuguterletzt?

Margaret Atwoods bohrende Fragen sind mitleidvoll und reichen darüber hinaus. Für eine weltläufige Ironie ist keine Zeit übrig. Am Fernseher sehen Menschen, was sie und ihresgleichen durch ihr Tun unbedacht anrichten. Ja, sie wollen sich verändern, sie wollen etwas verändern – sie wollen also nie wieder das Kalb eines Wales sterben sehen. Das Fragezeichen bleibt: „Werden wir’s tun?“ Das Fragezeichen bleibt berechtigt. Mitleid genügt nicht. Dieser tote Wal lädt nicht zu einem gefälligen Tanz ein, sondern fordert zu einem veränderten Handeln auf. Margaret Atwood rebelliert poetisch und hoffnungsvoll:

Und doch, sing, was du nur kannst.
Dreh die Lichter auf: Sing weiter,
sing: Weiter.

Die Autorin legt facettenreiche, vielfarbige Gedichte vor, die bisweilen – wie in den Versen über den toten Wal – wie sehr besondere Gesänge anmuten. Die tiefe Ernsthaftigkeit dieser Verse, lyrisch kunstvoll angefertigt, berührt sehr. Margaret Atwoods neuem Gedichtband ist eine breite Resonanz und Rezeption zu wünschen.

Titelbild

Margaret Atwood: Innigst / Dearly. Gedichte eines Lebens / Poems of a Lifetime.
Zweisprachige Ausgabe.
Deutsch von Jan Wagner.
Berlin Verlag, Berlin 2022.
240 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783827014689

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