Auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten

Müssen Kulturschaffende normschön sein?

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler und Stefanie von WietersheimRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie von Wietersheim

Rätsel des Lebens. Warum, um Himmels willen, haben wir den Eindruck, dass auffallend viele in der Öffentlichkeit auftretende Wissenschaftlerinnen, Schriftstellerinnen und Musikerinnen schön sind? Also schön nach der Vorstellung von „normschön“: nicht zu dick, nicht zu runzelig, nicht zu schlampig. Stattdessen: poliert, glänzend, gestylt. Mit ebenmäßigen Gesichtszügen. Müssen sie obligatorisch schön sein in einer Welt, in der die digitale Aufmerksamkeitsökonomie sich sekundenschnell vor allem jenen Wesen zuwendet, die glatten Avataren gleichen? Und damit pekuniären Profit für alle Beteiligten im Merchandising von Kreativen abwirft? Gibt es einen verstärkten Kampf im elitären Kulturbereich zwischen Menschen mit schlanken, filtergenormten Gesichtern, der vor allem Frauen schadet, die diesen Vorgaben nicht genügen – bei allen Diskussionen über Body Positivity oder zumindest Body Neutrality?

Es war eine Stimme aus dem gerade von Liquid Center herausgegebenen Kollektivroman Wir kommen, die uns auf das Thema brachte. Denn eine der Autorinnen berichtete davon, dass ihr – als sie ihre Mitschreiberinnen im Internet googelte – auffiel, wie „ziemlich normschön“ alle seien.

Wir haben zum Beispiel keine stark mehrgewichtige Person in dieser Runde dabei. Wir sind, was Alter, Neigung, Interessen und Herkunft betrifft, relativ breit aufgestellt, doch es schreibt hier keine Person mit sichtbarer körperlicher Beeinträchtigung. Und dann schaue ich auf den deutschsprachigen Literaturbetrieb, und mir fällt ganz allgemein auf, wie schön Autor*innen hierzulande sind. Ist das Zufall oder pretty privilege? (https://literaturkritik.de/center-wir-kommen-schreibspiele-von-frauen,30788.html)

Schöne Frauen in seriösem Verlag

Wir machen die Probe aufs Exempel: Der zutiefst geschätzte „Hausverlag“ des männlichen Autors dieser Kolumne, der Münchner Verlag C.H.Beck, legt fünf umfangreiche Kataloge des diesjährigen Herbstprogramms vor. Die Rubriken sind „Sachbuch/Philosophie/Religion/Kunst & Musik“, „Geschichte/Zeitgeschichte/Kulturgeschichte/Politik“, „Paperback Gesellschaft/Geschichte/Politik/Kultur“, „Wissen“, „Literatur“.

Im Katalog „Wissen“ gibt es Fotos der Buchcover, nicht jedoch der Autorinnen und Autoren. In den weiteren vier Katalogen sieht man Fotos von 47 Autoren und von 14 Autorinnen. Wir betrachten die Fotos jener Autorinnen, wenn sie allein und nicht als Co-Autorin mit einem Mann auftauchen. Es bleiben 11.

Im ersten Katalog lächeln uns an die Juristin Angelika Nussberger, die Illustratorin Rotraut Susanne Berner, die Mathematikerin Eugenia Cheng, die KI-Forscherin Kate Crawford, die Historikerin Martina Hessler, die Historikerin Dorothea Weltecke. Im zweiten Katalog erscheinen die Historikerinnen Tatjana Tönsmeyer und Johanna Katrin Fridriksdottir. Im Katalog „Paperback“ schaut nur eine Autorin dem Betrachter streng ins Gesicht: die Frankfurter Juristin Samira Akbarian. Bei „Literatur“ betrachten wir die ernsthafte Schweizerin Zora del Buono und die fröhlich lachende Elke Schmitter.

Ja, es kann kein Zweifel sein: Es sind unstrittig normschöne Frauen. Die meisten lächeln freundlich in die Kamera. Die Männer schauen zumeist ernst, konzentriert, seriös. Sieht der geschätzte Münchner Soziologe Armin Nassehi „schön“ aus? Wohingegen bei Samira Akbarian vermutlich niemand deren äußere Schönheit nicht rühmen würde.

Nun wissen wir, dass gerade der Verlag C.H. Beck ausschließlich auf die wissenschaftliche oder literarische Qualität bei seiner Programmplanung achtet. Dennoch können wir nicht an den puren Zufall glauben, dass die elf Autorinnen sehr viel fotogener aussehen als manche ihrer recht verknittert dreinblickenden Kollegen. Woran liegt das?

Dass sich generell Produkte besser verkaufen lassen, die als „schön“ wahrgenommen werden, ist vermutlich unstrittig. Aber soll das auch bei wissenschaftlichen oder literarischen Produkten gelten? Heißt es nicht gerade hier: „Never judge a book by its cover“? Es ist doch vollkommen egal, wie die Autorin oder der Autor eines Buches aussieht, oder?

Schöne Frauen in der schönen Literatur

Wenn man aktuell in die rein deutschsprachige Belletristik schaut, die ja schon das „schön“, das „belle“, als Etikett vor sich herträgt, findet man eine erstaunliche Schönheitengalerie bei den beliebtesten Buchautorinnen. Laut „Börsenblatt“, das zum Weltfrauentag am 8. März 2024 den Re-Commerce-Händler Momox fragte, wer die Top 10 der beliebtesten Buchautorinnen in Deutschland im Jahr 2023 waren, ergibt sich diese Liste:

1. Mariana Leky
2. Juli Zeh
3. Charlotte Link
4. Nele Neuhaus
5. Rita Falk
6. Susanne Abel
7. Hera Lind
8. Miriam Georg
9. Cornelia Funke
10. Margit Auer

Wir haben sie uns angesehen, diese zehn Frauen. Und ihnen beim Sprechen zugehört und zugesehen. Bis auf zwei Ausnahmen (Susanne Abel und Miriam Georg) findet man auf YouTube kurze und manchmal sogar recht lange Filme mit ihnen. Es sind alles im herkömmlichen Sinne gutaussehende Frauen, keine wirklich jungen zudem. Alle wirken überaus sympathisch auf dem Bildschirm, besonders dann, wenn sie davon erzählen, wie sie zum Schreiben gekommen sind.

Dann dachten wir nach über Agatha Christie und Astrid Lindgren. Über diese beiden überaus erfolgreichen Autorinnen gibt es lange Dokumentarfilme, in denen man zeitgenössische Fotos der beiden Frauen betrachten kann. Keine der beiden entspricht heutigen – aber auch schon damals zeitgenössischen – Schönheits-Idealen. Wären sie heute überhaupt noch vermarktbar? Wie wäre es mit Virgina Woolf, George Sand oder den Brontë-Schwestern? Welche wären die Favoritinnen bei Booktokern? Geht es am Ende um den Inhalt – oder doch um die Autorin als Marke, als Brand?

„Ein ansprechendes, attraktives Äußeres ist für beide Geschlechter enorm hilfreich, wenn sie Beiträge in die Vermarktungsketten ‚kreativer‘ Berufe einbringen wollen“, sagt der ehemalige Chefredakteur einer deutschen Wochenzeitung, der auch federführend bei mehreren auflagenstarken Magazinen gearbeitet hat. „Dicke, picklige, ungepflegte und schlampig angezogene Männer tun sich auch schwer auf der Art Basel, beim Bachmann-Preis, in Cannes, bei den Grammys oder den Pulitzers“, sagt er.

In der Szene der klassischen Musik gehört das Äußere ebenfalls dazu. Die Bühne ist immer auch Große Oper, und in Allround-Online-Zeiten potenziert das pretty privilege mediale Aufmerksamkeit: So sind die Geigerinnen Anne-Sophie Mutter und Hilary Hahn, die Dirigentinnen Oksana Lyniv und Joana Mallwitz, die Sängerinnen Lisette Oropesa oder Jeanine De Bique nicht nur künstlerische Ausnahmetalente, sie vertreten in einem Beruf, der Kunst durch und aus dem Körper macht, zudem ein ganzheitliches Schönheitsideal. Die Sopranistin Lisette Oropesa, 180.000 Instagram-Follower, zeigt sich glamourös beim Schminken vor ihrem Wiener Auftritt in „La Traviata“, gibt aber auch ungeschminkt technische Gesangstipps. Jeanine De Bique, 76.000 Instagram-Follower, erscheint in ihren Fotoshoots für das Album „Mirrors“ wie ein Pop-Star. Publikum zu begeistern auch über das Präsentieren der eigenen Hülle, Selfies, Behind-the-Scenes-Schnipsel gehört eben heute zum Spiel, gerade wenn Menschen am Anfang ihrer Karriere stehen.

Bei all dem Glamour fragen wir uns, ob und wo visuell unbequeme Spitzentalente, die in diesen Tagen ihre Karrieren in der Welt der klassischen Musik starten, überhaupt noch eine Chance haben, von den wichtigen Agenturen aufgenommen und von Labels produziert zu werden. Und ob die weibliche Version eines Michel Houellebecq die Schwelle der wichtigsten Literaturagenturen und Bestsellerlisten überschreiten würde. Wir warten gespannt auf den Tag, an dem Autorinnen auf offiziellen Verlagsbildern endlich genauso knurrig, zerzaust und vom Leben gezeichnet aussehen dürfen wie Männer.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zur monatlich erscheinenden Kolumne „Rätsel des Lebens“ von Dirk Kaesler und Stefanie von Wietersheim.