Schreibspiele von Frauen

Der Kollektivroman „Wir kommen“ ist Pflichtlektüre für Männer

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie geht ein Schreibspiel? Eine nimmt einen Zettel und beschreibt eine Figur mit ein paar Stichwörtern, z.B. Elise, 77, Attentäterin, liebt alles, was irgendwie mit Beethoven zu tun hat. Nun wird der Zettel der Person links daneben gegeben, die einen ersten Satz zum Thema schreibt. Bevor sie den Zettel weiterreicht, knickt sie ihn so um, dass die nächste Person ihn nicht lesen kann, aber auch etwas schreibt. Wenn der Zettel die komplette Runde gemacht hat, wird vorgelesen. Das kann sehr lustig werden.

So scheint es beim hier anzuzeigenden Buch nicht gewesen sein, bei dem sich 18 Autorinnen aus mehreren Generationen und Nationen gemeinsam über Sexualität und Begehren austauschten. Denn anscheinend durften/konnten/mussten (?) alle lesen, was in dem kollektiven Online-Text-Dokument geschrieben wurde. Nur indirekt erkennt man, wie das Schreiben vor sich ging:

Meine Therapeutin hat mich gefragt, ob ich es denn gar nicht schade finde, wenn nicht zu erkennen ist, welche Textpassagen im Buch von mir sind. Ich habe kurz überlegt. Aber nein, wirklich nicht. Außerdem: Ich denke manchmal, ich will dieses oder jenes noch in den Text einbringen, aber dann lese ich es bereits an anderer Stelle, viel besser formuliert, als ich es im Kopf hatte. Das gibt mir Geborgenheit.

Die Autorinnen waren sich anscheinend einig: Die „Besitzverhältnisse“ an Texten sollten aufgelöst werden.

Stand auf dem ersten Zettel: „Wie und wann und wen begehrst Du?“ Sie hatten Anonymität vereinbart bei diesem Experiment, das sie „Wir kommen“ überschrieben. Es sollte ein „Kollektivroman“ werden, den die feministische Gruppe Liquid Center schaffen wollte. Programmatisch heißt es:

Wir halten uns für aufgeklärt, offen und frei, doch wenn es um die eigene Lust geht, verstummen besonders Frauen und nicht-männlich gelesene Personen sehr schnell. Zu schambesetzt, zu potenziell gefährlich scheint das Thema. Dies gilt vor allem für nicht mehr junge Frauen. Die Mitglieder der Gruppe LIQUID CENTER setzen dieser Sprachlosigkeit den Kollektivroman WIR KOMMEN entgegen. Sie haben 15 Autor*innen verschiedenen Alters eingeladen, sich im Schutz der Anonymität schreibend zusammen mit ihnen über die Ausdrucksformen weiblichen Begehrens auszutauschen. So ist ein einzigartiger Kollektivroman entstanden, der gesellschaftlich verdrängte Facetten weiblicher und queerer Sexualität sichtbar macht.

Vollkommen anonym wollten die Autorinnen dann anscheinend doch nicht sein: Auf dem Titelblatt, an der Stelle, wo üblicherweise der Name des Autors oder der Autorin steht, ist zu lesen: „Lene Albrecht, Ulrike Draesner, Sirka Elspaß, Erica Fischer, Simoné Goldschmidt-Lechner (sgl), Olga Grjasnowa,Verena Güntner, Elisabeth R. Hager, Kim de l‘Horizon, I.V. Nuss, Maxi Obexer, Yade Yasemin Önder, Caca Savić, Sabine Scholl, Clara Umbach, Julia Wolf und zwei Autor*innen, die anonym bleiben wollen“. Als Herausgeberinnen des Kollektivromans firmieren Verena Güntner, Elisabeth R. Hager und Julia Wolf. Dazu heißt es:

Der folgende Text ist eine Collage aus den Stimmen von 18 Autor*innen verschiedener Generationen, die sich auf Einladung der Gruppe LIQUID CENTER im Sommer 2023 einem Experiment gestellt haben. In einem Zeitraum von sechs Wochen schrieben sie gemeinsam und anonym an einem einzigen Dokument. Das so entstandene Material verdichteten die Herausgeberinnen zum vorliegenden Buch. Gesetzt war nur das Thema: weibliches Begehren, Sex und Alter.

Weit weg von weiblichem Begehren fängt es an: Eine der Autorinnen berichtet unter der Überschrift „Enteignung“ davon, wie ihr Vater mit diversen Formen des „Zugriffs“ sich ihres Körpers bemächtigte. Nicht nur, dass er ihr von hinten an den Po griff, um zu beurteilen, wie fett oder nicht fett – also „attraktiv“ für andere Männer – sie war. Er beurteilte und kommentierte die körperliche Erscheinung seiner Tochter ihr Leben lang: „auch als ich 50 wurde, als ich 60 wurde.“ Die Pointe dieses ersten Kapitels lautet, dass die Autorin sich die Aufgabe verordnet, dass sie nun nach dem Tod des Vaters „herauswachsen“ muss aus dieser „Beurteilungsmaschine“. Der männliche Leser fragt sich: Ist das so mit Frauen? Unterliegen sie von Anfang an dem „Zugriff“ auf ihren Körper durch ihre Väter? Im Buch taucht das Thema des väterlichen Taxierens und Beschämens öfter auf.

Ungemütlich und immer noch weit weg vom Thema „weibliches Begehren“ geht es weiter. Das ganze Kapitel „Da unten“ ist eine einzige Aneinanderreihung von episodischen Berichten über die erste Menstruation. Alle ekeln sich davor, alle Texte wiedererwecken Entsetzen, Abscheu, Schmerzen, Scham. Der männliche Leser erschrickt: Ist das wirklich so? Kein Stolz, nun „Frau“ geworden zu sein? „Meine Freundinnen waren noch Kinder. Ich aber wischte das Blut zwischen meinen Schenkeln ab und dachte: So, jetzt musst du bumsen.“ Es klingt nicht vorfreudig.

Wurde es gerade ein wenig erfreulicher – eine Zwölfjährige genießt das körperliche Zusammenschwappen mit einem erwachsenen Mann in der Londoner U-Bahn –, folgen ernüchternd die Skizzen der „ersten Male“. Und erneut schwingt viel Angst mit beim Hineinlaufen „in den dunklen Wald“, in dem leicht „etwas Schlimmes“ passieren kann. Und das Bild der Hexen erscheint: alte, hässliche Frauen, die immer allein leben und manchmal gackernd und dreckig miteinander lachen.

Und so führt uns das Buch kapitelweise in die Themenwelten Masturbation, erste Orgasmen, Selbst- und Fremdekel vor sprießenden Körperhaaren – „die Schamhaare müssen aber weg, wenn du willst, dass ich dich lecke (mit 27/28)“ –, die ersten Erfahrungen mit sex toys. Und dann folgen schon die „27 Stunden“, die manche Geburt dauern kann: die Schmerzen, die Erschöpfung, das Glück über die PDA (Periduralanästhesie). Danach kommt aber auch total befreite Lust an Sex, die sich nicht am Wert der „Fuckability“ messen lässt: „Ich habe das so satt. Ich will ficken wie ein Vieh. Ekstase ohne Denken. Pure Lust.“

Für diese Rezension soll und wird nun nicht das ganze Buch referiert. Es ist, das sei gesagt, ein tolles Buch. Natürlich fragt sich der männliche Leser bei vielen Texten, wie alt die jeweilige Autorin ist, welcher sexuellen Fraktion sie sich zurechnet. Manche spielen mit ihrer Fluidität, andere sind klar hetero, andere queer. Im Prozess des Schreibens war wohl nicht rückverfolgbar, wer welches Thema aufgeworfen, welche Szenen beschrieben hat, ob sie selbst erlebt oder fiktiv sind, welche Personen und wie viele den Faden weitergesponnen haben und wie der Austausch ohne persönliche Identifikation der Schreibenden genau gelaufen ist. Wer mag den Diskurs über die vergewaltigte Maria Schneider im Film Der letzte Tango in Paris (1972) angefangen haben? Einige haben den Film gesehen, eine Frau schreibt, dass es Bilder gibt, die man „nicht ungesehen“ machen kann.

Eine Stimme berichtet davon, dass sie ihre Mitschreiberinnen im Internet gesucht hat und wie ihr auffiel, wie „ziemlich normschön“ alle sind:

Wir haben zum Beispiel keine stark mehrgewichtige Person in dieser Runde dabei. Wir sind, was Alter, Neigung, Interessen und Herkunft betrifft, relativ breit aufgestellt, doch es schreibt hier keine Person mit sichtbarer körperlicher Beeinträchtigung. Und dann schaue ich auf den deutschsprachigen Literaturbetrieb, und mir fällt ganz allgemein auf, wie schön Autor*innen hierzulande sind. Ist das Zufall oder pretty privilege?

Herausgekommen ist ein lesenswerter, facettenreicher, intimer, lustiger, diskussionswürdiger, nachdenklich machender und fließender „Roman“, der sich wie ein durchgehender Gesprächsfluss liest.Das Kollektive mit vielen Stimmen und Perspektiven findet einen gemeinsamen Rhythmus. Die Beiträge sind thematisch collagiert, oft mit kurzen Passagen, die in einen ermutigenden Austausch münden oder zu nächsten Themen führen. Es gibt Szenen, die sich Raum nehmen, sich zu richtigen Dialogen entwickeln („das kenn ich“ und dann wird der Ball aufgenommen), es gibt ein breiteres Teilen von Erfahrungen, die Thematisierung von Scham, inneren Widersprüchen, Steckenbleiben, Weiterkommen, Lust und Unlust, schmerzhafte Erinnerungen oder Passagen. Viele Seiten handeln von psychischen und physischen Erkrankungen, von Suizidversuchen, zumindest Suizidgedanken, von Vergewaltigungen. Von den „Wechseljahren“, vom Altern, vom Sterben und vom Tod ist viel die Rede. Eine Passage macht den männlichen Leser betroffen: „da gibt es anscheinend eine reihe von erfahrungen, die jede frau im laufe ihres lebens macht: der erste sex, die erste vergewaltigung, das erste kind, die erste scheidung etc. stationen weiblicher existenzen.“

Für einen cis-heteronormativen Mann wie diesen Rezensenten ist dieses Buch ein Geschenk. Deswegen sei es allen Geschlechtsgenossen nachdrücklich zur Lektüre empfohlen. Allen anderen Menschen auch. Zwar erschrickt man über manche persönliche Befindlichkeiten der Autorinnen. Und über den rotzigen Ton vieler Passagen. Es wird an vielen Stellen sehr deutlich, dass viele der hier schreibenden Frauen die Männerwelt zum Kotzen finden. Aber viele Männer finden manche Männer ja auch zum Kotzen.

Man(n) lernt Themen kennen, an die er noch nie gedacht hat: Gibt es eine Vergewaltigung in lesbischen Beziehungen? Wie verlässt Frau die „Hetero-Kampfzone“, ohne zur Lesbe zu werden? „Ich suche nach einem Begehren, das nicht gesteuert ist vom in mich hineingefressenen Male Gaze. Ich suche eine neue Quelle und ein neues Zuhause für meine Lust.“ Warum wurde eine Passage über die Erfahrungen einer weißen Urlauberin mit dunkelhäutigen männlichen Prostituierten am Strand von den Herausgeberinnen gestrichen?

Wer dieses Buch als „Masturbationsvorlage“ (NDRkultur) einordnet, kann es nicht vollständig gelesen haben. Die hier versammelten Frauenstimmen helfen dabei, ihre Welten voller Ängste, Schmerzen, Begehren und Lust ein wenig besser zu verstehen. Man(n) lernt die Wut über den male-gaze, das „Blickregime der Männer“ kennen, man(n) ahnt, wie ein female-gaze auf Männer und Frauen gehen könnte. Viele Menschen sollten das Buch lesen, auch und gerade jene, die mit Sexualität noch nichts oder nichts mehr zu tun haben, haben wollen. Vielleicht (wieder)entdecken sie auf diese Weise ihr eigenes Begehren und ihre eigene Lust auf gute und genussfreudige Sexualitäten: „Wenn alle, die eine Vulva haben, in der Schule ein Yoni-Ei zum Trainieren des Beckenbodens bekämen, würden wir bald in einer Welt mit besserem Sex leben.“

Titelbild

LIQUID CENTER (Hg.): Wir kommen. Kollektivroman.
DuMont Buchverlag, Köln 2024.
206 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783832168339

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch