Auf dem Zauberberg steht ein Lindenbaum
Einige Überlegungen zur Bedeutung der Musik in Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“
Von Karl-Josef Müller
Hans Castorp liebt jede Art von Musik, sie versetzt ihn in eine träumerische Stimmung. Mit stierem Blick, den Kopf zur Seite geneigt, erinnert seine Haltung an die dumpfe Selbstvergessenheit Betrunkener.
Ganz anders der Humanist und Aufklärer Settembrini. Musik sei politisch verdächtig, sie verkörpere das „halb Artikulierte, das Zweifelhafte, das Unverantwortliche.“ Seine Liebe gilt dem Wort, dem „Träger des Geistes“, es ist sein „Werkzeug, die glänzende Pflugschar des Fortschritts“. Vor Natur und Musik muss gewarnt werden, handelt es sich bei deren Klarheit doch um
eine träumerische, nichtssagende und zu nichts verpflichtende Klarheit, eine Klarheit ohne Konsequenzen, gefährlich deshalb, weil sie dazu verführt, sich bei ihr zu beruhigen.
Gilt es doch, mit Hilfe des Wortes der alles begreifenden Vernunft zum Sieg zu verhelfen. Die Welt darf nicht bleiben, wie sie ist, weshalb, was den Menschen zum Innehalten verführt, von Übel ist.
Settembrinis Unterscheidung zwischen sprachlicher und musikalisch-natürlicher Klarheit gilt es im Auge zu behalten. Im sechsten Lied der Winterreise symbolisiert das Bächlein die unerfüllte Sehnsucht nach der Geliebten. Das Rauschen des Wassers und der Bäume taucht im Liederzyklus so häufig auf wie Quelle, Brunnen und Fluss. Die Natur, deren nichtige Klarheit Settembrini beklagt, spiegelt in den Liedern die Stimmungen und Gefühle des Wanderers. Klar sind solcherart Regungen eigentlich nicht, sind Wehmut und Sehnsucht doch Gefühle, die sich kaum auf einen vernünftigen Begriff bringen lassen.
Hans Castorps Ausflug in die Bergwelt von Davos führt auch ihn an ein Bächlein. Ausgestattet mit Stock und Hut, präsentiert Thomas Mann ihn uns als Hänschen klein, das in die weite Welt hinein geht. Der Hut, den Hans zu tragen pflegt, verweist bereits auf den Hut aus dem Lindenbaum, der dem Wanderer vom Kopfe fliegt.
Gehobener Stimmung, beginnt der Wanderer zu singen, ein Singen freilich, dem jede Klarheit fremd ist: „Sein Bariton war spröde, aber heute fand er ihn schön, und das Singen begeisterte ihn mehr und mehr.“ Auf einer Lichtung, durchplätschert von einem kleinen Bach, lässt sich unser Held vom Wasserrauschen und dem lieblichen Naturbild unterhalten, „denn rauschendes Wasser liebte Hans Castorp ebensosehr wie Musik, ja vielleicht noch mehr.“ So verfällt er der träumerischen, nichtssagenden und zu nichts verpflichtenden Klarheit, vor der Settembrini ihn gewarnt hatte.
Dessen Verdikt gegen die Musik, basierend auf pädagogisch-humanistischen Bemühungen um Hans Castorp, konterkariert der Roman mit einer ironischen Anspielung. Als Hans Settembrinis zum ersten Mal ansichtig wird, mutiert der Aufklärer zum Drehorgelmann:
Diese Mischung aber von Schäbigkeit und Anmut, schwarze Augen dazu und der weich geschwungene Schnurrbart erinnerten Hans Castorp sogleich an gewisse ausländische Musikanten, die zur Weihnachtszeit in den heimischen Höfen aufspielten und mit emporgerichteten Sammetaugen ihren Schlapphut hinhielten, damit man ihnen Zehnpfennigstücke aus den Fenstern hineinwürfe. ‚Ein Drehorgelmann!‘ dachte er.
Das letzte Lied der Winterreise trägt den Titel Der Leiermann. Settembrinis aufklärerische Suade verkommt hier zum Geleier, zum immer Gleichen, das keiner hören mag.
Oft fühlt sich Hans von Settembrini auf unangenehme Weise korrigiert und beobachtet; späterhin emanzipiert er sich von seinem Erzieher, dessen „Leier“ ihm „nimmer still“ steht. Andererseits klingen Settembrinis Suaden in ihrer so makellosen wie selbstverliebten Klarheit beinahe wie Musik, der reine Klang verdrängt die Botschaft, um die es Settembrini doch zu tun ist:
Die Worte kamen ihm prall, nett und wie neuschaffen von seinen beweglichen Lippen, er genoß die gebildeten, bissig behenden Wendungen und Formen, deren er sich bediente (…).
Auf einer Skiwanderung verlässt Hans den vorgezeichneten Pfad und folgt damit dem Wanderer in dem Lied Der Wegweiser. Beide, der romantische Wanderer wie der seinem eigenen Weg folgende Skifahrer, begeben sich in Gefahr. Beide vermeiden „die Wege, / Wo die andern Wandrer gehn.“ Und beide begeben sich auf eine Straße, die „noch keiner ging zurück.“ Zwar kehrt Hans Castorp von seinem Ausflug zurück, späterhin allerdings wird er, gemeinsam mit seinen Altersgenossen, den Weg in den Tod auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges gehen müssen.
Kaum etwas ist gewonnen, erkennt man die Parallelen zwischen Wilhelm Müllers Lyrik und Hans Castorps Leben auf dem Zauberberg. Schuberts Musik erst verleiht den Gedichten eine subversive Kraft, die Settembrini politisch verdächtig erscheint.
Ein Grammophon hat im Sanatorium Einzug gehalten. Hans Castorp übernimmt die Bedienung des Gerätes für die Gäste, insbesondere aber dient es ihm selbst zum einsamen Kunstgenuss. Doch während die Gäste des Sanatoriums unterhalten werden wollen und sich an der artistischen Virtuosität eines Enrico Caruso erfreuen, fühlt Hans sich zum Volkslied hingezogen. Nicht zum schlichten Volkslied, sondern zu Liedern, die
zwar Produkte geistiger Kunst, aber im Sinn und Geist des Volkes tiefecht und fromm empfunden und erfunden waren; künstliche Volkslieder, wenn man so sagen durfte, ohne durch das Wort ‚künstlich‘ ihrer Innigkeit zu nahe zu treten: eines zumal, das Hans Castorp von Kindesbeinen an gekannt hatte, zu dem er aber jetzt eine geheimnisvoll-beziehungsreiche Liebe faßte und von dem die Rede sein wird.
Gemeint ist der Lindenbaum, dem er sich innigst verbunden fühlt, und doch gibt er sich diesem Lied nicht willenlos hin. Seine Leidenschaft ist eine der zweifelnden Liebe, ohne dass der Zweifel diese Liebe schmälern würde, hebt jener diese doch in den Bereich höchster Bedeutsamkeit. Das künstliche Volkslied bedeutet Hans „eine ganze Welt, und zwar eine Welt, die er wohl lieben mußte, da er sonst in ihr stellvertretendes Gleichnis nicht so vernarrt gewesen wäre.“
Diese Welt, vor der Hans wiederholt gewarnt wird, ist die der Romantik, der vermeintlich kranken. Diese widerspricht all dem, was der Humanist Settembrini, darin Goethe folgend, klassische Reinheit nennen würde.
Der Versuch, die tiefgreifende Wirkung zu beschreiben, die der Lindenbaum auf Hans ausübt, führt an die Grenze sprachlicher Darstellungsmöglichkeiten:
Allein begreiflich zu machen, was diese letzte, dies Lied, der alte ‚Lindenbaum‘ ihm bedeutete, das ist nun freilich ein Unternehmen der kitzligsten Art, und höchste Behutsamkeit der Intonation ist vonnöten, wenn nicht mehr verdorben als gefördert werden soll.
Wenige Zeilen später lobt der Autor die besondere Qualität der Aufnahme:
Ein Tenorist trug es vor zum Klavier, ein Bursche von Takt und Geschmack, der seinen zugleich simplen und gipfelhohen Gegenstand mit vieler Klugheit, musikalischem Feingefühl und rezitatorischer Umsicht zu behandeln wußte.
Rufen wir uns nochmals in Erinnerung, was der Erzähler von seinem Handwerk verlangt, nämlich dass es „höchste Behutsamkeit der Intonation“ fordert, wobei der Begriff der Intonation dem Bereich des Gesanges zugeordnet werden muss. Es ist nur ein kleiner Schritt, um die Worte, mit denen der Liedinterpret gelobt wird, auf den Romanerzähler zu übertragen: Diesem gelingt es nach unserer Ansicht, den „gipfelhohen Gegenstand“, nämlich die Frage nach der Bedeutung des Lindenbaums für Hans Castorp, „mit vieler Klugheit, musikalischem Feingefühl und rezitatorischer Umsicht zu behandeln“.
Erhebt Thomas Mann als Romanautor damit etwa den Anspruch, seiner Prosa das Prosaische ausgetrieben zu haben in dem Sinne, dass es eben dieser Prosa gelingen soll, die Qualität eines „gipfelhohen“ Kunstliedes zu erreichen? Einer Qualität, die letztlich darin besteht, nicht von dieser Welt zu zeugen, sondern von der Frage nach der Grenze des bürgerlich-alltäglichen Lebens. Es klingt fast banal, wenn wir diese Grenze als den Tod definieren.
In einem Gespräch mit Clawdia Chauchat umreißt Hans seine Situation auf dem Zaubergerg:
Ich habe niemanden. Ich habe gar keine Fühlung mehr mit dem Flachland, die ist mir abhanden gekommen. Wir haben ein Lied in unserem Volksliederbuch, worin es heißt: ‚Ich bin der Welt abhanden gekommen.‘ So steht es mit mir.
In der Vertonung des Gedichtes von Friedrich Rückert durch Gustav Mahler, die Thomas Mann kannte, steigert sich die Weltflucht des lyrischen Ichs durch die Musik ins Absolute und Unermessliche. Alphons Silbermann charakterisiert das unauflösliche Zusammenwirken von Text und Musik als eine Form der Kunst, „bei der das Schöne der jenseitigen und das Traurige der diesseitigen Welt den Jammer unserer Erdentage verklärt.“
Thomas Manns Roman wirkt phasenweise intellektuell überfrachtet. Die Streitgespräche zwischen dem ‚Romantiker‘ Naphta und dem ‚Klassiker‘ Settembrini sind von sehr spezieller Natur. Doch erinnern wir uns: „Die Worte kamen ihm prall, nett und wie neuschaffen von seinen beweglichen Lippen (…).“
Was aber wäre der Roman ohne Hans Castorps Begeisterung für Musik im Allgemeinen und das Kunstlied im Besonderen? Ein klassischer Bildungsroman in der Tradition von Wilhelm Meister Lehrjahre von Goethe und dem Grünen Heinrich von Keller. Und es bestünde wohl die Gefahr, dass Hans von der Höhe des Zauberberges nach seinen sieben Lehrjahren hinabsteigen müsste ins Gewimmel der prosaisch-bürgerlichen Welt, wie Hegel sie auf unnachahmliche Weise beschrieben hat:
Dies Romanhafte ist das wieder zum Ernste, zu einem wirklichen Gehalte gewordene Rittertum. Die Zufälligkeit des äußerlichen Daseins hat sich verwandelt in eine feste, sichere Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft und des Staats (…). Diese Kämpfe nun aber sind in der modernen Welt nichts Weiteres als die Lehrjahre, die Erziehung des Individuums an der vorhandenen Wirklichkeit, und erhalten dadurch ihren wahren Sinn. Denn das Ende solcher Lehrjahre besteht darin, daß sich das Subjekt die Hörner abläuft, (…) in die Verkettung der Welt eintritt und in ihr sich einen angemessenen Standpunkt erwirbt. Mag einer auch noch soviel sich mit der Welt herumgezankt haben, umhergeschoben worden sein, zuletzt bekommt er meistens doch sein Mädchen und irgendeine Stellung, heiratet und wird ein Philister so gut wie die anderen auch; die Frau steht der Haushaltung vor, Kinder bleiben nicht aus, das angebetete Weib, das erst die Einzige, ein Engel war, nimmt sich ungefähr ebenso aus wie alle anderen, das Amt gibt Arbeit und Verdrießlichkeiten, die Ehe Hauskreuz, und so ist der ganze Katzenjammer der übrigen da.
Thomas Mann weigert sich, seinen Helden einer „feste(n), sichere(n) Ordnung“ zuzuführen und setzt sich damit ab von Goethe, der seinen Wilhelm Meister Arzt werden lässt. Die Figur in Goethes Roman, die der Musik und ihren Verführungen am nächsten steht, ist Mignon, die zur Begleitung des Harfners ein Lied singt, dessen Noten im Roman selbst noch nicht vorliegen: „Kennst Du das Land, wo die Zitronen blühn?” Verbirgt sich aber hinter der deutschen Italiensehnsucht, als deren Inbegriff dieses Gedicht gilt, denn eigentlich nichts anderes als der Wunsch, dem prosaischen Weltgewimmel zu entfliehen? Goethe lässt Mignon sterben und damit gewissermaßen auch das Konzept romantischer Sehnsucht. Tätigkeit ist das Ziel Wilhelms, das es zu erreichen gilt. Nun ist es aber ein Widerspruch, dass Goethe einerseits seinen Romanhelden einer eher bürgerlichen Existenz als Arzt zuführt, ohne ihn in Hegels Manier ironisch zum Philister werden zu lassen, andererseits aber Mignons Italien-Lied zum wohl am meistens vertonten deutschsprachigen Gedicht wurde. Offensichtlich wollen wir uns nicht abfinden mit dem Liebchen, Bübchen und Stübchen, wie es in Eichendorffs Gedicht Die zwei Gesellen heißt. Denn das, so Wolf Biermann, „kann doch nicht alles gewesen sein”, da möchte man doch zumindest noch „ein paar eckige Runden drehn”.
Ist es aber nicht so, dass Hans Castorp diese Art von Verlust in den Liedern von Schubert eher erahnt, als dass er in der Lage ist, ihn auf den Begriff zu bringen? Seine Gefühlslage beim Hören des Lindenbaumes entrückt ihn einer historischen Realität, die in den Ersten Weltkrieg münden wird. Diese Realität kann jedoch durch die „Rückneigung“ in die Sphäre autonom-romantischer und damit moderner Kunst in keiner Weise verändert werden. Hans Castorp ahnt, was sein Schöpfer weiß: Die Kunst muss von der Forderung, die vorhandene Wirklichkeit verändern zu sollen, entlastet werden. Dennoch zeugt das emphatische Kunsterlebnis von den Defiziten dieser Wirklichkeit. Doch bleibt die Ruhe, die der Lindenbaum zu gewährleisten scheint, im Lied ein eher vages Versprechen, über das nur im Konjunktiv gemutmaßt werden kann:
Und seine Zweige rauschten
Als riefen sie mir zu:
Komm her zu mir, Geselle,
Hier findst du deine Ruh!
Solcherart Ruhe lässt sich einzig im Tod finden – oder in der Kunst.
Und wieder ist er da, der Tod, dem wir, nach dem Ende der allgemein verbindlichen religiösen Deutung, in der Moderne keine fraglose Sinngebung mehr zuzukommen im Stande sind. Darauf reagieren kann nur eine Kunst, die ihres eigenen Abstandes zum Leben eingedenk bleibt. Die Welt, so heißt es in Mahlers Lied, „mag wohl glauben, ich sei gestorben“. Das Leben im „stillen Gebiet“ des Liedes und der Kunst darf aber nicht als romantisch-utopische Weltflucht und pathologische Todessehnsucht missverstanden werden. Wenn die Kunst in Distanz zur Welt und zum Leben tritt, so zeugt sie nach Ansicht von Adorno von einer Humanität, deren christliche Wurzeln kaum übersehen werden können:
In der Welt des selbstherrlichen und sich in sich selbst befestigenden Menschen wäre das Bessere allein, die Klammer der Identität zu lockern und nicht sich zu verhärten. Was man Thomas Mann als Dekadenz vorhält, war ihr Gegenteil, die Kraft der Natur zum Eingedenken ihrer selbst als hinfällige. Nichts anderes heißt Humanität.
Diese Definition von Humanität muss überraschen, bindet sie doch, eben darin verwandt der Religion, die Existenz des Menschen wie des Menschlichen an die bewußt vollzogene Akzeptanz und Wahrnehmung seiner Sterblichkeit. Human im Sinne Adornos wie Thomas Manns wäre somit eine Gesellschaft, die bereit wäre, die alte Aufforderung zum Memento mori erneut zu akzeptieren
Was wären Überlegungen zur Musik in Thomas Manns Roman ohne die Musik selbst?
Wir empfehlen:
Christian Gerhaher, Gesang, Gerold Huber, Piano: Schubert Winterreise D 911, RCA
Gerhaher/Huber: Mahler Lieder, RCA
Hinweis der Redaktion:
Der Text ist eine vom Autor gekürzte und neu bearbeitete Fassung des folgenden Textes:
Karl-Josef Müller: „die Leidenschaft als zweifelnde Liebe“. Schuberts Winterreise in Thomas Manns Zauberberg. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 44/2 (1994). S. 191-204.