Auf den Spuren eines ungeheuerlichen Kriminalfalls aus dem klassischen Weimar
Gabriele Klunkert zeichnet in „Mit fremder Feder“ den Fälschungsfall um angebliche Autographen Schillers nach
Von Manfred Orlick
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseFake News und Fälschungen sind heute etwas Alltägliches. Sie sind aber bei weitem kein Phänomen der Neuzeit. Bereits in der Antike haben Menschen Münzen, Schriftrollen oder Schmuck gefälscht.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts ereignete sich in Weimar ein einzigartiger Kriminalfall. Der Architekt und Geometer Heinrich von Gerstenbergk (1814-1887) fälschte hunderte Autographen von Friedrich Schiller (1759-1805). Dieser brisanten Kriminalgeschichte widmete das Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar die Ausstellung Mit fremder Feder – Der gefälschte Schiller (15.09. – 17.12.2023), die seit 2018 von der Kuratorin Gabriele Klunkert vorbereitet wurde. Eigentlich liegt das Hauptaugenmerk des Literaturarchivs auf originalen und somit authentischen Dichterhandschriften, doch nun wurde der historisch bedingt große Bestand an Schiller-Fälschungen präsentiert, die letztmals der Öffentlichkeit 1856 im Kreisgericht Weimar gezeigt wurden.
Das begleitende Ausstellungsbuch beleuchtet neben einem Überblick über die Geschichte des Sammelns und Fälschens ausführlich die Person des Fälschers, die gefälschten Provenienzen und die Dimension des Kriminalfalls. Heinrich Carl Jacob von Gerstenbergk wurde am 7. Mai 1814 in Markvippach, einem Weimarischen Dorf, als viertes Kind eines Schneidermeisters geboren. Ab 1823 besuchte er das Gymnasium in Weimar. Über seine anschließende Ausbildung – er nannte sich Architekt und Geometer – ist kaum etwas bekannt. Bereits in jungen Jahren verfasste er populärwissenschaftliche Schriften zu den unterschiedlichsten Themen, von der Mathematik über die Bienenzucht und Fischerei bis zur Magie und Alchemie, die meist in Leipziger Verlagen gedruckt wurden. Die Liste seiner Publikationen füllt mehrere Seiten. Trotzdem lebte er mit seiner Familie in ziemlich ärmlichen Verhältnissen.
Ab 1851 – also über 45 Jahre nach Schillers Tod – tauchten dann in Weimar auf einmal Handschriften des Dichters auf. Zu Gerstenbergks Motiv und genauer Vorgehensweise ist nichts bekannt. Er ahmte Schillers Schriftzüge freihändig nach, die er wahrscheinlich auf Autographen in der Großherzoglichen Bibliothek in Weimar vorfand. Seine Fälscherfabrikation umfasste nahezu alle Gedichte Schillers, einige dramatische Werke (u.a. Die Räuber) sowie Aufsätze und Briefe. Angetrieben durch den Erfolg schreckte Gerstenbergk auch nicht davor zurück, ganze Schiller-Briefe zu erfinden. Die Fälschungen verkaufte er geschickt über ein Netzwerk von stets bekannten, ehrbaren und zuverlässigen Bürgern. Dazu gehörten Buchhändler, Bibliotheksdiener und Personen des literarischen Lebens. Einige Prominente ließen sich auch zu Echtheitsbeglaubigungen hinreißen.
Die Sache flog schließlich auf, weil Gerstenbergk es mit über 400 Fälschungen der in Sammlerkreisen begehrten Handschriften übertrieb. Ende 1854 kam er in Untersuchungshaft und die Weimarer Behörden nahmen die Ermittlungen auf. Gerstenbergk wurde wegen „Betrugs bei Eingehung von Verträgen“ angeklagt. Anhand detaillierter Sachverständigengutachten konnte Gerstenbergk, der bis zum Schluss seine Unschuld beteuerte, schließlich überführt werden. Der Scharlatan wurde zu zwei Jahren Strafarbeitshaus verurteilt, außerdem wurden ihm die staatsbürgerlichen Rechte auf drei Jahre entzogen. Im März 1857 wurde Gerstenbergk jedoch vorzeitig aus der Haft entlassen und kehrte nach Weimar zurück. Ein paar Jahre später zog er nach Erfurt. Nach einer zweiten Heirat, tauchte das Ehepaar in Kassel, Braunschweig und Frankfurt am Main auf. Am 5. Januar 1887 starb Gerstenbergk in Eisenach, wo er drei Tage später beerdigt wurde.
Zu den ahnungslosen Opfern, die die dreisten Nachahmungen erstanden hatten, gehörten Bibliotheken, Buchhändler, Handschriftensammler oder Weimarer Privatpersonen. Selbst Schillers jüngste Tochter Emilie von Gleichen-Rußwurm (1804-1872) war auf den Betrüger hereingefallen. Sogar Großherzog Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach oder Franz Liszt hatten zu Gerstenbergks Abnehmern gehört. Heute verfügt das Goethe- und Schiller-Archiv mit etwa 240 Handschriften über den größten Bestand der Schiller-Fälschungen, während die Staatsbibliothek Berlin 13 Machwerke aus Gerstenbergks Feder ihr Eigen nennt, darunter Das Lied von der Glocke, Die Kraniche des Ibykus und Der Handschuh.
Die große Schiller-Verehrung im 19. Jahrhundert war gewissermaßen die Voraussetzung für das Geschäft mit den Fälschungen. Die Heroisierung und Mythisierung gipfelte 1859 zum 100. Geburtstag, als der „Dichter der Nation als Prophet der ersehnten nationalen Einheit“ gefeiert wurde. In fast 500 deutschen Städten des deutschen Sprachraums fanden damals Schiller-Feiern statt.
Doch rümpfen wir nicht die Nase. Auch das 20. Jahrhundert hatte mit den gefälschten Hitler-Tagebüchern einen spektakulären Fall in Sachen Handschriftenfälschung. Ist unsere Sensationslust nicht häufig Teil dieser Antriebsfeder? So wird die Ausstellung Mit fremder Feder – Der gefälschte Schiller wegen des großen Besucherzuspruchs bis zum 17. März 2024 verlängert und bietet daher die Gelegenheit, die mit Dreistigkeit nachgemachten Papiere zu sehen und mehr über den spannenden Kriminalfall zu erfahren. Inzwischen gibt es auch längst Sammler der Gerstenbergk-Fälschungen, für die man mitunter eine drei- oder vierstellige Summe auf den Tisch legen muss. Und die Preise für die Falsifikate steigen ständig weiter.
Das Ausstellungsbuch von Gabriele Klunkert liest sich wie eine Kriminalgeschichte, beleuchtet dabei aber auch die literarischen Hintergründe im klassischen Weimar des 19. Jahrhunderts, ergänzt durch eine üppige Illustration mit historischen Abbildungen von Originalhandschriften, Fälschungen, Porträts und Weimarer Ansichten.
Eine weitere Neuerscheinung macht bisher noch unbekannte Aspekte dieses literarischen Kriminalfalls sichtbar. Die Autorin Frauke Tisken entdeckte vor zehn Jahren, dass sie die letzte Nachfahrin im Fall Gerstenbergk ist. In alten Familienpapieren fand sie klare Hinweise, dass Heinrich von Gerstenbergk kein Einzeltäter war, sondern sein ältester Sohn, ihr Urgroßvater Karl von Gerstenberg (1838-1888), der der eigentliche Kopf der Fälscherwerkstatt und des Unternehmens war, in dem nicht nur Friedrich Schiller sondern mehrere andere Dichter gefälscht wurden.
Karl von Gerstenbergk war nach einem Studium an der Zeichenschule der Königlich-Preußischen Akademie der Künste und weiteren Stationen als leitender Redakteur verschiedener Zeitungen (u.a. Allgemeine Zeitung Augsburg und Prager Tageblatt) tätig. Außerdem war er ein bekannter Literaturfachmann und Mitglied großer Literaturvereine. Er veröffentlichte unter mehreren Pseudonymen, sammelte und publizierte Autographen.
Anhand der Familienpapiere beschreibt Tisken detailliert die Familiengeschichte derer von Gerstenbergk im 18. und 19. Jahrhundert, ihre Verbindungen zu den literarischen Größen der damaligen Zeit und den Aufbau der Fälschungsfabrik in Weimar. Neben Schiller wurden hier wohl Goethe, Charlotte Schiller, Christian Gottfried Körner, Wieland, Iffland, Kleist und andere gefälscht. Tisken ist der Ansicht, dass bei dem Prozess die Frage, wer alles an den Fälschungen beteiligt war, „unter den Tisch gekehrt“ wurde, um den Fall so schnell wie möglich „abzuhaken“. Sie vermutet auch, dass die Memoiren von Heinrich Heine und Alexander von Humboldt ebenfalls von den Gerstenbergks in den Umlauf gebracht wurden. Daneben werden noch andere Fälschungsgeschichten erzählt, für die jedoch eindeutige Beweise und Quellen fehlen.
Die Neuerscheinung ist sicher keine Publikation mit wissenschaftlichem Anspruch, sondern eine äußerst interessante Familiengeschichte und das Ergebnis einer jahrelangen Recherche in Archiven und Bibliotheken. Angesichts der Unklarheiten und der Dimensionen möchte man nach der Lektüre mit Bertolt Brecht sagen „Und so sehen wir betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“ Vielleicht bewirkt die Veröffentlichung aber genauere Forschungen zu dem Phänomen der kriminellen Machenschaften im Literaturbetrieb (nicht nur im 19. Jahrhundert).
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