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Dezső Kosztolányi’s Debütroman „Nero“ von 1922 ist eine zeitlose Geschichte über Jugend, Poesie und Tyrannei

Von Elena HafeneckerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Elena Hafenecker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Nero hat Dezső Kosztolányi es vollbracht, der Welt ein Werk zu schenken, das so menschlich und überzeitlich zu sein scheint wie es die Lebensgeschichte seines Protagonisten war. Die Erzählung wurde zunächst Anfang der 1920er Jahre in acht Teilen in der Zeitschrift Nyugat („Westen“) veröffentlicht, deren Titel später zum Namen einer gesamten ungarischen Literaturströmung werden sollte. Über die Jahrzehnte nach der Romanveröffentlichung entwickelte sich das Werk zu einem ungarischen Klassiker, wobei Kosztolányi über die unterschiedlichsten Phasen seines Schaffens hinweg stetig mit Thomas Mann verglichen, sogar als „der ungarische Thomas Mann“ bezeichnet wird. Für die 2017 erschienene Neuauflage dieses hin- und herreißenden und -gerissenen Klassikers, wählte Rowohlt Berlin eine Übersetzung von Stefan Isidor Klein aus dem Jahre 1986 aus. Diese wird ergänzt, nicht nur um ein Nachwort von Lothar Müller, sondern außerdem um einen Brief an Kosztolányi, verfasst von Thomas Mann.

„Der geschickte Gladiator durchbohrt den ungeschickten, der gute Dichter bringt den schlechten zum Schweigen. Es gibt keine Gnade. Und so wird es immer sein, vielleicht auch nach Jahrtausenden noch.“

In kunstvollen Wortbildern wie mit einem Pinsel auf die Leinwand gebracht, zeichnet Kosztolányi in chronologischer Manier das Bild eines tragischen Lebens. Beim Lesen lernt man auf nur wenig mehr als 300 Seiten einen jungen Mann kennen, der mit kaum achtzehn Jahren unfreiwillig und durch die moralisch fragwürdigen Handlungen anderer an die Spitze des Römischen Reiches gestellt wird. Eine Position die er nie innehaben wollte, die in ihm nachhaltig das Gefühl von Ohnmacht und die Angst zu scheitern wachsen lässt, und eine Position der womöglich die „Schuld“ für seinen tragischen, sich über Jahre hinziehenden Untergang zuzuschreiben ist.

Stets geleitet von außen – durch seine Mutter, einige seiner Gefährten wie seinen Ziehvater und Lehrer Seneca – sucht Nero nach seinem Selbst jenseits der ihm überreichten Machtposition und findet sich schnell wieder in einem Netz aus Zwiespälten zwischen nicht nur Politik und Poesie, sondern unter anderem Moral und Handeln, Tradition und Neuerung, Macht und Gnade, Impuls und Intellekt. Er versucht zunächst beinahe zwanghaft, die ihm aufgelasteten Pflichten zu ignorieren und an seiner Stelle anderen die großen Entscheidungen von politischer, territorialer und wirtschaftlicher Relevanz zu überlassen, um seinem Wunsch nachzugehen, sich gänzlich der Kunst zu widmen. Auch auf diesem Weg allerdings verfolgen ihn sein politischer Einfluss und die Intrigen derer die ihn umgeben, bis er schließlich beginnt, geblendet von machtgierigen Schmeichlern und gelähmt von der Unfähigkeit Recht von Unrecht zu unterscheiden, Welten und Werte zu vermischen.

Er tritt als Dichter und Schauspieler auf, zunächst verkleidet und ohne eine Sonderbehandlung bei Wettbewerben annehmen zu wollen. Schleichend verwandelt er sich jedoch – Seneca ‚knetete und formte ihn‘ – in ‚den unbeschränkten und mächtigen Dämon, den er ihm eingeflößt‘. Dinge und Menschen die ihn zu verunsichern oder zu gefährden drohen, lässt er auf die eine oder andere Weise entfernen und schafft sich so Stück für Stück eine Welt, in der er sich sicher, selbstbewusst und erfolgreich sehen kann.

„‘Mord‘, fragte Seneca mit hochgezogenen Brauen. ‚Sag lieber Staatsinteresse und Du wirst darüber lächeln‘.“

Den Brand Roms, die eine Sache, die dem Namen Nero vorauszueilen scheint und auf die man beim Lesen geradezu hinarbeitet, spart Kosztolányi bis weit in die Erzählung auf – und lässt dieses so geschichtsträchtige Ereignis mit nur beiläufigen Schilderungen doch beinahe unerwähnt. Dadurch bleibt ein Gefühl des Wartens zurück, während man in filmisch und ausführlich erzählte, vermutlich eher unbekanntere Geschichten aus dem Leben des Kaisers eintaucht: Von der Zeugenschaft der Ermordung seines Vaters als Junge, über umjubelte Auftritte als Schauspieler oder Wagenlenker als mächtiger Kaiser, bis hin zur Eheschließung mit einem Mann und seinem persönlichen, nur allzu menschlichen Ende.

Dezső Kosztolányi schafft es in diesem historischen Roman gleich einem verbalen Mosaik, nicht nur den blutigen Dichter und jene, die ihn beeinflussten und umgaben aus den unterschiedlichsten Perspektiven zu malen, sondern auch Fragen der Moral und philosophische sowie politische Ansätze. So verarbeitet Kosztolányi auf kunstvolle Weise die für seine Werke typischen impressionistischen Gegensätzlichkeiten, die sich selbst in einer einzelnen Handlung oder Person aufdecken lassen. Er zeichnet ein nahbares Bild von Menschlichkeit, von inneren wie äußeren Konflikten und vom Scheitern, wie es ein jeder nachempfinden kann. Kosztolányis derartige Sympathie und Empathie für einen Tyrannen wie Nero wurde über die Jahrzehnte seit der Erstveröffentlichung auf unterschiedlichste Weise rezipiert und kritisiert. Jedoch trifft der Roman am Ende nie eine klare Aussage über Gut und Böse oder Recht und Unrecht, sondern bewegt sich, wie Kosztolányi selbst, politisch und philosophisch hin und her, beleuchtet alle erdenklichen Blickwinkel und mahnt uns vor allem zum ständigen und genauen Hinhören und Hinsehen – „auch nach Jahrtausenden noch“.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2019 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2019 erscheinen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Dezsö Kosztolányi: Nero. Roman.
Mit einem Nachwort von Lothar Müller.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Stefan I. Klein.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2017.
336 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783871341854

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