Aus dem Gefängnis befreit

Rosa Luxemburg im November und Dezember 1918

Von Simone FrielingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Frieling

Vorbemerkungen der Redaktion: Der folgende Beitrag ist Simone Frielings kürzlich im Verlag ebersbach & simon erschienenem Buch „Rebellinnen. Hannah Arendt, Rosa Luxemburg und Simone Weil“ entnommen, auf das wir in der Oktober-Ausgabe von literaturkritik.de hingewiesen haben. Wir danken der Autorin und dem Verlag für die Genehmigung, in der jetzigen Ausgabe jenen Teil des Rosa Luxemburg-Portraits zu veröffentlichen, der über die „Rebellin“ in den ersten beiden Revolutionsmonaten erzählt. In der Januar-Ausgabe erscheint ein Beitrag Simone Frielings zum 100. Todestag Rosa Luxemburgs. T.A.

Über die wenigen Wochen, die Rosa Luxemburg nach der Entlassung aus dem Strafgefängnis in Breslau am 8. November 1918 noch zum Leben blieben, gibt es historische Dokumente; ihre hastig geschriebenen Briefe aber geben einen deutlicheren Eindruck davon, wie die Geschehnisse über sie hereinbrachen.

Ende Oktober war Luise Kautsky nach Berlin zurückgekehrt und beobachtete aus der Ferne, wie es um ihre Freundin bestellt war: „Als Rosa aus dem Gefängnis kam, wurde sie von der ersten Minute an in den tollen Wirbel hineingerissen, das Schicksal ließ ihr nicht einen Moment der Besinnung, nicht die kleinste Atempause nach all der schweren Zeit, die sie durchlebt hatte. Mit beiden Füßen sprang sie in die revolutionäre Bewegung hinein und stand mit Karl Liebknecht immer dort“, wohin ihr die Freundin weder folgen konnte noch wollte, weil sie um die Gefahr wusste. Die beiden Frauen Rosa und Luise sahen sich nicht wieder.

Luxemburgs letzte Briefe gingen jetzt an die Frauenrechtlerin und Marxistin Clara Zetkin, die ihr politisch näher stand. „Wenn Du wüsstest, wie viel ich Dir zu sagen hätte und wie ich hier lebe – wie im Hexenkessel!“, schrieb sie am 29. November. „Gestern nacht um 12 Uhr bin ich zum ersten Mal in meine Wohnung gekommen, und zwar nur deshalb, weil wir beide – Karl [Liebknecht] und ich – aus sämtlichen Hotels dieser Gegend (um den Potsdamer und Anhalter Bahnhof) ausgewiesen worden sind.“

Fieberhaft arbeitete sie an der Zeitschrift Die Rote Fahne, die sie und Liebknecht am 9. November als publizistisches Organ des Spartakusbundes gegründet hatten. Die Zeitung sollte zwei Mal täglich erscheinen, obwohl es an allem fehlte: an Zeit, Papier, Druckerschwärze, Mitarbeitern, Räumlichkeiten und einem sicheren Vertrieb; denn sie konnte nur illegal ausgeliefert werden. In einem letzten Brief an Clara Zetkin schildert Luxemburg ihre Situation in Berlin so: „Es ist nämlich nicht zu beschreiben, welche Lebensweise ich – wir alle – seit Wochen führen, den Trubel, den ständigen Wohnungswechsel, die unaufhörlichen Alarmnachrichten, dazwischen angestrengte Arbeit, Konferenzen […] Meine Wohnung sehe ich nur ab und zu für ein paar Nachtstunden.“  Luxemburg und Liebknecht irrten ohne Leibwächter durch die Straßen Berlins, in denen der Bürgerkrieg tobte; sie waren die gefährdetsten öffentlichen Personen. Die ,blutigen Weihnachten von 1918’ und die ,Januaraufstände’ des folgen-den Jahres hatten die Stadt verwüstet und ihre Bewohner verroht. Dazu kamen nach dem verlorenen Krieg der Hunger und die Kälte.

Es begann eine „Hatz und Jagd“, ein Kopfgeld von 100.000 Reichsmark war auf Luxemburg und Liebknecht ausgesetzt, Plakate wurden gedruckt, Häuserfassaden beschmiert mit immer derselben Parole: „Tötet Liebknecht und Luxemburg! Dann werdet Ihr Frieden, Arbeit und Brot haben!“ Unterzeichnet waren diese Aufrufe von den „Frontsoldaten“. Spätestens als Luxemburg zu Ohren kam, dass ultra-nationalistische Freikorpssoldaten aus einer Verwechselung heraus statt ihrer eine Frau verhaftet und mit grausamen Methoden verhört hatten, wäre für sie der Zeitpunkt gekommen, Berlin zu verlassen. Aber jedes Maß und alle Klugheit hatte sie verloren; sie war in einem Rausch, den die körperliche Erschöpfung steigerte. Angst vor Gefahr hatte sie immer verachtet. Die Möglichkeit zum Innehalten und zur Reflexion waren ihr genommen. Die Selbsterkenntnis, die sie aus vergangenen Erfahrungen über sich gewonnen hatte, war wie weggespült. „Warum stürze ich mich immer wieder in die Gefahren und Schrecken neuer Situationen, wo das Ich verloren geht, weil es sich gegen die anstürmende Außenwelt nicht behaupten kann“, schrieb sie im Mai 1907 an Kostja. In den Wochen zwischen November 1918 und Januar 1919 kam ihr dieses „Ich“ abhanden. Sie wurde zu einem Menschen, der nur noch reagierte.

Rosa Luxemburg war am Ende ihrer Kräfte: Sie litt unter chronischem Schlafmangel, Kopfschmerzen, Brechanfällen, wurde immer wieder plötzlich ohnmächtig; ihre Augen waren schwarz umschattet und ihr Haar grau geworden. Die körperliche Zerrüttung war auch für die Genossen – Jogiches wich ihr nicht mehr von der Seite – unübersehbar. Trotzdem kämpfte sie weiter, im Glauben daran, dass ihre Stunde, die Stunde ihrer Sache gekommen sei. Auf die Todesnachricht eines gefallenen Freundes antwortete sie seinen Eltern: „Mich tröstet nur der grimmige Gedanke, dass ich doch auch vielleicht bald ins Jenseits befördert werde – vielleicht durch eine Kugel der Gegenrevolution, die von allen Seiten lauert“.

Die Gefängnisjahre hatten der Revolutionärin Rosa Luxemburg alle politische Macht genommen, jetzt ergriff sie „mit Haut und Haaren“ der ungeheure Wille, etwas bewirken zu können: in Berlin, für Deutschland, für ganz Europa. Obwohl sie wusste, dass die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Revolution nicht gegeben waren, widersetzte sie sich den chaotischen Handlungen Liebknechts und anderer KPD-Führer nicht. Und als sie und Liebknecht am 15. Januar 1919 aus einer Wohnung in der Mannheimer Straße in Wilmersdorf abgeholt wurden, weil irgendjemand sie verraten hatte, packte sie, wie immer, ihr Köfferchen mit Kleidung und Büchern, als stünde ihr nichts anderes bevor als eine weitere Haft.