Sehnsucht, Schuld und transgenerationale Spurensuche

Isabelle Autissier erzählt in ihrem fulminanten Roman „Klara vergessen“ eine sowjetisch-amerikanische Familiengeschichte

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Isabelle Autissier ist phänomenal. 1991 war sie die erste Frau, die bei einer Segelregatta allein die Welt umrundete, 2019 veröffentlichte sie mit Oublier Klara ihren fünften Roman, der zweite, der ins Deutsche übersetzt wurde. Sie schreibt, so wie sie auf dem Meer unterwegs ist. Schreiben sei für sie Navigieren, Schreiben helfe ihr, über sich selbst und die Welt nachzudenken, aber sie wisse nicht, ob sie sich als „romancière“ bezeichnen könne, meint sie ganz unprätentiös.

Klara vergessen ist eine Familiensaga, die in angemessener epischer Breite, aber niemals über Gebühr ausladend, der Verflechtung dreier Schicksale nachspürt und dabei immer ein Stück weiter in die Vergangenheit vordringt. Der Mittvierziger Juri, seit Jahren angesehener Ornithologe in den USA, wird 2017 nach Murmansk an das Totenbett seines Vaters Rubin gerufen. Nur widerwillig begibt er sich auf die Reise. Obwohl er schon seit Langem keinen Kontakt mehr nach Russland hat, möchte er seinem Vater den letzten Wunsch nicht abschlagen, nämlich herauszufinden, was mit Klara, Rubins Mutter und somit Juris Großmutter, passiert ist. 1950, als Rubin sechs Jahre alt war, wurde Klara, Geologin an einem wissenschaftlichen Institut in Murmansk, verhaftet. Während Juri auf erste Ergebnisse der Nachforschungen von Memorial wartet, triggert die Wiederbegegnung mit seiner Heimatstadt Erinnerungen an Kindheit und Jugend in der UdSSR.

Ab dem Alter von sechs Jahren muss er Demütigungen und Misshandlungen seines Vaters Rubin ertragen, weil er diesem zu wenig muskulös und männlich erscheint. Als erfolgreicher Kapitän eines Fischtrawlers ist Rubin meistens abwesend. Wenn er an Land kommt, wartet Juri mit seiner Mutter am Hafen und beginnt dabei, die Fauna am Himmel zu beobachten. Daraus erwächst eine Leidenschaft, die er vorerst nur in einer Ornithologie-Gruppe im Ferienlager ausleben kann. Rubin jedoch möchte, dass sein Sohn in seine Fußstapfen tritt. Mit 15 Jahren heuert er als „Drecksjunge“ auf dem Trawler des Vaters an. Der Ausbilder Serikow schlägt und erniedrigt ihn. Als Juris größter Schatz, zwei wertvolle Ornithologie-Bücher und Doktor Schiwago, zerstört werden, rächt er sich an Serikow, wendet sich von der Fischerei ab und studiert Biologie in Sankt Petersburg. Anfang der 1990er Jahre führt ihn ein Doktorandenstipendium in die USA und fortan sieht er Nordamerika als neue Heimat an.

Rubin stirbt im Februar 2018, nachdem Juri wieder in die USA abgereist ist. Kurz vor seinem Tod lässt er sein Leben Revue passieren. Seine Kindheit war geprägt von der Abwesenheit der Mutter und von einem Vater, der sehr lakonisch meinte, dass das stalinistische Regime schon wisse, was es tue. Später heißt es, dass Anton seine Frau Klara verraten habe. In der Schule ist Rubin ein Außenseiter. Wegen der Verhaftung seiner Mutter wirkt er auf seine Umgebung suspekt und wird so lange gequält, bis er sich Respekt verschafft und sukzessive mehr Einfluss auf seine Mitschüler ausübt. Er erweist sich als Organisationstalent. Ein Buch über die Fischerei, mit dem er seinem Freund Sok Lesen und Schreiben beibringt, weckt seine Begeisterung. So besucht er die Fischereischule und fährt zum ersten Mal zur See, als er noch keine 15 Jahre alt ist.

Ein Jahr nach dem Tod seines Vaters erhält Juri ein Paket von Memorial mit den Aufzeichnungen seiner Großmutter. Bei ihrer Verhaftung wird sie der Spionage und antisowjetischer Propaganda, konkret der Komplizenschaft mit ihrem Laborleiter bezichtigt. Er kollaboriere mit den imperialistischen USA. Klara muss zuerst in Murmansk, später an anderen Orten zermürbende Verhöre über sich ergehen lassen, bevor sie in ein abgelegenes Lager auf der Insel Sipajewna gebracht wird, von dem aus sie für die Suche nach Uranerz verantwortlich ist. Schnell entwickelt sie freundschaftlich-lockere Beziehungen zu ihrer kleinen Forschungsgruppe. Bei den Expeditionen über die Insel ist sie oftmals tagelang mit ihren beiden Mitgefangenen und zwei Wärtern unterwegs. Sie kommen in Tschums, den Behausungen der Nenzen und ihrer Rentiere, unter. Bei diesem nomadischen Volk genießt Klara hohes Ansehen. Das trotz der Gefangenschaft angenehme Leben ändert sich schlagartig, als in der Nach-Stalin-Ära ein neuer Kommandant auf die Insel kommt, der unbedingten Gehorsam von seinen Untertanen fordert. Kurz bevor er Klara vergewaltigen kann, schlägt sie ihn nieder und flieht mit der Hilfe eines nenzischen Schamanen über das gefrorene Meer.

In dem mit wechselnden Fokalisierungen auktorial erzählten Roman verhandelt Autissier drei große Themenkomplexe, die zu Determinanten der Charaktere avancieren. Vor der Abfassung ihres Textes habe sie zwei Jahre lang über den Gulag und die Stalin-Epoche gelesen, insbesondere über das Leben der „kleinen Leute“ während dieser Zeit. Daher nimmt es nicht wunder, dass das erste Thema, der Übergang von der UdSSR zur Sowjetunion, sehr elaboriert daherkommt, sehr überzeugend und realistisch wirkt und sich eine sehr dichte „couleur locale“ vermittelt. Weiterhin ist die Familie, insbesondere intergenerationale Verstrickungen, Gegenstand der Betrachtungen, welche schließlich im dritten Thema, Natur, eingebettet sind. Ein genauerer Blick auf die Interdependenz enthüllt eine hierarchische Sequenz, die mit der Integration des Individuums in das Mikrosystem Familie beginnt, dann das gesellschaftliche Bedingungsgefüge und schließlich die Natur involviert. Trotz der klaren Anordnung durchdringen sich die Systeme, interagieren sie in alle Richtungen, sind aber immer um das Epizentrum Klara angeordnet.

Anton, den Ehemann, zermürbt die Erinnerung. Heimlich schreibt er Gedichte über seine Frau, in denen er sie als poetische Madonna hochstilisiert, damit seine Sehnsucht kanalisiert und möglicherweise den Verrat vor sich selbst kaschiert. Klara bleibt eine Leerstelle im Leben des Sohnes und wird zum Faszinosum für den Enkel, der sogar bei den Nenzen nach Indizien für das Leben seiner Großmutter sucht. Klara sehnt sich nach ihrem Sohn, dieser sehnt sich permanent nach ihr, denn in seinen vielfältigen sexuellen Beziehungen hofft er immer, die olfaktorische Spur seiner Mutter, ihren Zimtduft, aufzunehmen. Klara zu vergessen ist unmöglich.

Aber nicht nur Sehnsucht ist im Familiengedächtnis fest verankert, genauso verhält es sich mit der Schuld. Anton wird schuldig an Klara, Sohn und Enkel laden noch größere Schuld auf sich, weil beide in jungen Jahren ihren Peiniger ermorden. Vater und Sohn sind Opfer und Täter gleichermaßen. Der eine tarnt den Mord als Unfall, der andere als Selbstmord. Dabei wird die Schuldfrage weitestgehend ausgeblendet, um einer fluiden Moral Raum zu bieten, die für Klara so nicht gelten kann, weil sie durchweg ihrer eigenen autonomen Ethik verpflichtet ist. Trotz der Gefangenschaft bleibt sie widerständig und lässt sich in keiner Weise funktionalisieren. Der Schlag auf den Kopf, den sie ihrem Aggressor verpasst und der ihm eine lebenslängliche Behinderung einbringt, ist Gegenwehr und damit in keiner Weise verwerflich.

In der UdSSR, vor allem in der stalinistischen Ära, gab es, wie in jedem totalitären Regime, kaum eine Pufferzone zwischen Familie und Gesellschaft. Isabelle Autissier bindet diese Abhängigkeiten meisterhaft in ihren Roman ein. Die Gesellschaft ist nicht das Makrosystem, so wie Uri Bronfenbrenner sie in seinem ökosystemischen Ansatz präsentiert, sondern sie vereinnahmt alle mesosystemischen Interaktionen, diffundiert direkt in die Familien, hebelt diese aus und zersetzt sie. Nicht nur die Geschichte von Klaras Familie unterstreicht dies, sondern ebenso der erschütternde Bericht des Teenagers Sok, der seine Familie im Gulag verlor und den es im Kontext der Haft-Befreiungen nach Stalins Tod nach Murmansk verschlagen hat.

Die Ereignisse in Familie und Gesellschaft vollziehen sich vor der großartigen Kulisse der Natur, einem allumfassenden Makrosystem, dem die Menschen unterliegen und das ihnen nur bedingt wohlgesinnt ist. Als Juri auf der Insel Sipajewna seine Suche nach Klara resümiert, gibt er der Natur und ihrer Feier des „stetigen Erwachens eines Lebens, das immer anders und doch unveränderlich war“, Raum in sich selbst. Dies gerinnt jedoch nicht zu einer romantisch akzentuierten Seeleninnenschau, sondern es dominiert eine sehr realistische Beziehung. Zwar wird Natur an manchen Stellen personifiziert, sie reflektiert den Menschen und es liegt so etwas wie eine „Passung“ vor, aber sie bleibt insofern unbeteiligt, als Menschen sich zwar in ihr finden, nicht jedoch ihre Gefühle in sie hineinprojizieren. Den innigen Konnex einer Anthropomorphisierung sieht Klara vergessen nicht vor. Natur bedingt und determiniert die Charaktere, sie bleibt aber eine autonome Macht, die sich menschlicher Eigenschaften entzieht.

Um die derart definierte Nähe ihrer Protagonisten zur Natur zu verdeutlichen, setzt Autissier vor allem auf Tiere: Juri ist Ornithologe, Rubin passionierter Fischer und Klara begeistert sich für Rentiere. Diese Begleiter motivieren Großmutter, Sohn und Enkel zum Leben, als Kraft- oder Totemtiere bieten sie zudem einen individuellen Schutzzauber. Zu Juri, dem Enkel, gehört der Vogel als einerseits völlig unspezifisches, gar primitives Symbol der Freiheit, andererseits als Symbol des Transzendenten und sehr konkret als Symbol für seine Suche nach Klara. Rubins „Patronus“, der Fisch, bleibt quasi unterirdisch, Rubin bleibt verquickt mit seinem Land, eingebunden in einen Überwachungsstaat, in dem er schnell zu einem Verfolgten werden kann. Nicht von ungefähr schwingt beim Fisch auch das christliche Symbol des Ichthys mit, das Symbol der Verfolgten der urchristlichen Gemeinde. Klara hingegen flieht in einem Rentierschlitten über die gefrorene See in die Freiheit. Ihr ist ein Tier zugeordnet, das sich an die Unbilden der Natur adaptiert hat, sich am Wasser und auf dem Land wohlfühlt und den Nenzen mit allem, was es zu bieten hat, Nutzen bringt.

Nicht nur wenn man bedenkt, dass Isabelle Autissier seit 2016 die Vorsitzende der französischen Sektion des WWF ist, spiegelt sich in der Darstellung des Fischfangs ein großartiges Engagement gegen die Ausbeutung der Weltmeere wider. Dass ausgerechnet Rentiere mit ins Spiel kommen, erstaunt kaum, sind doch gerade sie besonders von der beschleunigten Erwärmung in der Tundra bedroht.

Ganz im Sinne Jean-Paul Sartres benennt Isabelle Autissier das, was benannt werden muss, sie zeigt Missstände auf, hütet sich aber davor zu explizieren und pointiert zu stigmatisieren, sich auf ein tendenziöses Kämpfen für die Sache einzulassen. Sie animiert ihre Leser dazu, Fragen zu stellen und nachzuforschen, z. B. die Fischfang-Szene, die in den 1980er Jahren spielt, mit heutigen Zuständen zu vergleichen. Kurz bevor die Netze eingezogen werden, faucht das Schiff wie ein wildes Tier, die Männer mutieren zu monströsen Insekten, nach dem Fang ergießt sich „eine Flut von glänzenden Tieren über das Deck“, „eine formlose Masse“, die sich „in einem atavistischen Aufwallen zur Wehr setzt“. Die Männer folgen nur „einer einstudierten Choreographie“, stürzen sich wie im Blutrausch auf ihre Beute, haben keinen Sinn für „verzweifelt schlagende Schwänze“, „hervorquellende Augen“, „japsende Mäuler“ und „grotesk verformte Fischkörper“. Wer noch Pescetarier ist, wird sich nach der Lektüre dieser Szene des Tötens, in der Menschen zu Tieren und Tiere zu Dingen werden, einige Fragen stellen müssen.

Klara vergessen offeriert eine vielschichtige, fiktional intensive und zugleich realistische Totalität, fesselnd von Anfang an. Die Interdependenzen von Individuum, Familie, Gesellschaft und Natur, insbesondere die Intergenerationalität, das Hinabsteigen des jüngsten Beteiligten in die Vergangenheit seiner Familie und letztendlich die Rückkehr zu sich selbst spielen sich in einem formal und inhaltlich ausgefeilten ästhetischen Universum ab. Mit ihrer grandiosen Sprache schöpft Isabelle Autissier die ganze Klaviatur von alltäglich bis hochgradig poetisch aus. Diese Kombination von Schlichtheit und Virtuosität hat Kirsten Gleinig hervorragend ins Deutsche übertragen. Klara vergessen stellt Edutainment auf hohem Niveau zur Verfügung – im besten Sinne lehrreich, spannend und unterhaltsam. Kurzum: Isabelle Autissier ist eine exzellente „romancière“.

Titelbild

Isabelle Autissier: Klara vergessen.
Aus dem Französischen von Kirsten Gleinig.
Mare Verlag, Hamburg 2020.
336 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783866486270

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