Endspiel am Golf von Guinea

In Edem Awumeys Roman „Nächtliche Erklärungen“ schreibt ein Afrikaner um sein Leben

Von Günter RinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Rinke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Soviel vorweg: Dieser Roman ist eine Zumutung. Er strapaziert die Nerven und verstößt gegen den guten Geschmack. Wer Fäkalsprache verabscheut, sollte zu diesem Buch nicht greifen. In einer Liste der im Text am häufigsten vorkommenden Wörter nähme „Scheiße“ einen ziemlich hohen Rang ein. Wer aber fragt, ob das denn sein müsse, dem kann nur die Antwort gegeben werden: Ja, es muss sein. Es gibt viele Gründe, diesen Roman, es ist der vierte des in Deutschland bislang unbekannten Autors, zu empfehlen. In Frankreich ist Awumey zwar nicht populär, aber seit der Nominierung seines zweiten Romans Les Pieds sales für den Prix Goncourt und weiterer Preise für andere Romane wohl mehr als ein Geheimtipp.

Wie der Autor selbst stammt der Protagonist Ito Baraka aus Togo und lebt in Hull an der Grenze des anglo- und frankophonen Kanada. Als die Handlung einsetzt, fährt er von einer Lesung in Québec nach Hause und ist, obwohl erst 45 Jahre alt, körperlich am Ende. Er ist an Leukämie erkrankt und schwerer Alkoholiker. Seine letzten Kräfte mobilisiert er für das Aufschreiben seiner Erinnerungen an Jugend und Leidenszeit in seinem afrikanischen Heimatland am Golf von Guinea. Zwar wird dieses Land nicht ausdrücklich genannt, jedoch ist leicht herauszufinden, dass es sich um Togo handelt. Die Stadt, in der Ito aufwächst, ist zweifelsfrei Togos Hauptstadt Lomé, denn es werden Stadtviertel und Marktplätze mit ihren realen Namen benannt.

Die akademische Jugend kämpft gegen das dort herrschende korrupte und gewalttätige Regime. Ito Baraka und seine drei Freunde, zwei männlich, eine weiblich, tun es mit Literatur: Sie versuchen Samuel Becketts Endspiel zu inszenieren. Zunächst wählen sie dieses Stück aus, weil die Rollenverteilung ideal zu ihrer Gruppe passt. Während der Proben erscheint es ihnen dann zunehmend als Parabel auf den Zustand ihres Landes. Zwar scheitert das Theaterprojekt letztlich, aber es entsteht die Idee, eine Flugblattaktion mit Textzitaten aus dem Theaterstück zu starten. Eine wunderbare und, wie sich bald herausstellen wird, naive Idee: die Welt mit Literatur zu verändern.

Das Regime schlägt hart zurück. Ito kommt in ein Straflager, wo er unsägliches Leid erfährt. Im Roman wird es drastisch und auf stellenweise schwer erträgliche Weise ausgemalt. Er erfährt aber auch das Glück, mit dem blinden ehemaligen Lehrer Koli Lem in eine Zelle gesperrt zu werden. Dieser hat es geschafft, an Bücher zu gelangen, Werke der Weltliteratur, aus denen ihm Ito nun jeden Abend vorliest. Literatur kann zwar nicht die Welt verändern, aber sie kann eine heilende Kraft für die Seele sein. Und ein reales Überlebensmittel. Durch Koli Lem kommt Ito letztlich zum Schreiben und an ein Stipendium, das es ihm ermöglicht, aus seinem Heimatland zu entkommen. Einmal sagt Koli Lem zu ihm: „Du wirst Yukio Mishima sein!“, ein anderes Mal: „Du wirst García Lorca sein!“, was durchaus zweideutig ist, wenn man an das Ende der beiden Vorbilder denkt.

In Kanada lebt Ito mit Kimi Blue zusammen, einer rauschgiftsüchtigen Indigenen aus einem Reservat, die ihn nun auf seinem letzten Weg begleitet. Auf ihre Frage, weshalb er aus Afrika weggegangen sei, antwortet er: „Ich bin nicht weggegangen. Ich bin geflüchtet.“ Geflüchtet ist er nicht nur vor den Schergen des Regimes, das manchmal die Zügel locker lässt, um sie dann wieder anzuziehen, und vor den miserablen materiellen Lebensverhältnissen, sondern auch vor der Schuld, die er empfindet. Unter Androhung von Folter hat er seine Freunde verraten und fühlt sich für das grausame Ende seines großen Vorbilds Koli Lem mit verantwortlich.

Diesem Schuldgefühl kann er jedoch auch fern der Heimat nicht entkommen. Deshalb trinkt er und versucht es schreibend zu bewältigen. Er weiß, dass seine Freunde inzwischen entweder körperlich ruiniert oder vom Regime korrumpiert sind. Oft hat er an Selbstmord gedacht, denn „die Scham des Überlebenden klebt wie Hundescheiße an meinen Stiefeln“. Aber Kimi Blue, mit der er einzelne Momente fragilen Glücks erlebt, und seine Schreibenergie bewahren ihn davor. 

Da Awumey in seinem bereits 2013 auf Französisch erschienen Roman die Gewaltgeschichte Togos seit der Unabhängigkeit nicht konkret schildert, da er keine Ereignisse datiert und keine Namen nennt, wird sein Roman zur Parabel über das, was Menschen, die Macht haben, anderen Menschen, die sie nicht haben, antun können. Durch Bezüge auf Samuel Beckett und Albert Camus enthält der Roman auch eine darüber hinaus weisende philosophische Ebene. In Becketts Endspiel heißt es: „Vous êtes sur terre, c’est sans remède!“ („Ihr seid auf der Erde, dagegen gibt es kein Mittel!“) Wie bei Camus wird bei Awumey die „unbarmherzige Sonne“ zur Metapher für die transzendentale Obdachlosigkeit des Menschen.

In Camus‘  Roman Der Fremde erschießt Meursault den Araber am Strand, weil das Sonnenlicht von dem Messer in dessen Faust reflektiert wird. Vor Gericht nach dem Motiv für seine scheinbar sinnlose Tat gefragt, sagt Meursault: „Es war die Sonne.“ Awumey zitiert diesen Satz und gibt ihm dann seine konkrete Bedeutung zurück. Koli Lem verlor seine Sehkraft, weil man ihn tagelang zwang, ins grelle Sonnenlicht zu blicken. Nicht nur deshalb sieht er die Sonne als „Menschenfresser“. Die Afrikaner mussten für die Kolonisten schuften. Während diese Tropenhelme trugen, durften ihre schwarzen Arbeiter keine Kopfbedeckung tragen: „[U]nd so hat uns die Sonne langsam, aber sicher das Hirn angefressen und damit die Willenskraft.“

Diese Vielschichtigkeit, die nicht zuletzt durch die Verbindung mit europäischen und globalen Literaturtraditionen erreicht wird, macht einen Teil der Faszination dieses Romans aus. Er steht in einer Reihe mit Werken von aus Afrika stammenden Autor/innen, die heute in verschiedenen Teilen der Welt leben und kritisch auf ihren Heimatkontinent blicken. Erinnert sei nur an den in den USA lebenden Nigerianer Teju Cole, dessen Buch Jeder Tag gehört dem Dieb erfolgreich war, oder an die senegalesische, heute in Frankreich lebende Autorin Fatou Diome, die mit ihrem Roman Der Bauch des Ozeans ihre literarische Karriere begründete. Ein Vorläufer für eine vom französischen Existentialismus beeinflusste, inhaltlich die Korruption und Gewalttätigkeit der afrikanischen Oberklasse anprangernde Erzählhaltung ist der meisterliche, in Deutschland zu Unrecht weitgehend unbekannt gebliebene Roman The Beautiful Ones Are Not Yet Born des ghanaischen Schriftstellers Ayi Kwei Armah.

Bezwingend ist Awumeys Roman auch durch die von Stefan Weidle trefflich übersetzte Sprache, die zwischen atemlos in Aufzählungen vorwärtstreibenden, betrachtend kontemplativen und dialogischen Passagen wechselt. Mit all seinen Szenen von physischer Folter und seelischer Verzweiflung ist das Buch eine Zumutung, auf die sich Leser/innen einlassen sollten, die von der existentiellen Bedeutung der Literatur überzeugt sind. Die Schlusspassage steht für das zwar scheinhafte, aber eben doch momentan reale Glück, das es auch gibt:

Nein. Wir fahren nicht ins Krankenhaus. Wir gehen schlafen und spielen uns vor, es wäre eine ganz normale Nacht. Und wie schon seit drei Monaten werde ich meinen Kopf zwischen deinen Brüsten vergraben. Ein debiler alter Sack, der sich trotz allem noch ans Leben klammert.

Titelbild

Edem Awumey: Nächtliche Erklärungen.
Aus dem Französischen von Stefan Weidle.
Weidle Verlag, Bonn 2020.
208 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783938803974

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