Von Heiligen und Wiedergängern

Axel Rüth untersucht das phantastische Potenzial des christlichen Wunderbaren

Von Christina BischoffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Bischoff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Was Lust auch wäre dabei, einen zerfleischten Leichnam mit all seinem Grauen zu betrachten? Und doch, wenn irgendwo einer liegt, laufen sie hin, um sich zu entsetzen, zu erbleichen. Sie fürchten sogar, davon zu träumen, – grad als hätte im Wachen einer sie gezwungen, hinzusehen“. Die cupiditas, so erläutert Augustinus im zehnten Buch der Confessiones, dem das Zitat in der Übersetzung von Joseph Bernhart entnommen ist, zeichnet für diese Absonderlichkeit des Menschen, der eigentümlicherweise gerade am Hässlich-Widerwärtigen Gefallen zu finden vermag, verantwortlich. Mit einigem Bedauern merkt er an, dass die menschliche Augenlust häufig sogar der erste Impuls für eine Überschreitung der Wirklichkeit auf deren göttlichen Schöpfer hin sei.

Dem offenbar schwer zu tilgenden sinnlich-faszinierenden Moment, das gerade auch die ernsthafte Gottessuche begleitet, widmet sich Axel Rüths Habilitationsschrift Imaginationen der Angst, die anhand mittelalterlicher Erzählungen des christlichen Wunderbaren die Frage nach dem Ausmaß einer Indienstnahme des Unheimlich-Phantastischen durch die Theologie und damit auch die Frage nach Literarizität und Fiktionsbewusstsein dieser Texte aufwirft. In ihren narrativen Strukturen sucht er nach Spuren, die darauf hinweisen, dass diese möglicherweise auf die von Augustinus beschriebene Augenlust hin angelegt sein könnten. Dabei geht es ihm darum, zu zeigen, dass die untersuchten Erzählungen, in denen sich ein „offensichtlicher gestalterischer Wille“ zeigt, den „Legitimationsrahmen der utilitas“, wie Rüth mit Blick auf Petrus Venerabilis, doch im Grunde mit Geltung für den Ansatz der Studie anmerkt, „dehn[en]“. Dies wiederum sei mit der These einer christlichen – mitgedacht ist: einer dezidiert a-literarischen – Vereinnahmung des Wunderbaren nicht verrechenbar; ganz im Gegenteil seien gerade die Affinitäten dieser Texte zu einer als Ergebnis von Entpragmatisierungsprozessen aufgefassten modernen Literatur herauszustellen.

Nun ist es offensichtlich, dass sich die Frage, inwieweit spezifische Erzählstrategien noch im Zeichen christlich funktionalisierter oder aber schon im Zeichen entpragmatisierter admiratio stehen, im Einzelfall nicht wird entscheiden lassen. Es versteht sich ja, dass gerade Texten, die auf eine gesteigerte admiratio zielen, eine doppelte Perspektivierbarkeit eingeschrieben ist: Die evozierten Affekte können die christliche Botschaft der Texte sowohl unterstreichen als auch die Aufmerksamkeit von dieser ab- und zu einer „‚ästhetischen‘ Angst“ hinlenken. Rüth selbst sieht dieses Problem, wenn er anmerkt, dass die Erzählungen aufgrund eines Strukturzwangs gleichsam per definitionem ein zutiefst verunsicherndes Moment enthielten: Das christliche Wunderbare, so argumentiert er gegen Jacques Le Goff, sei nicht nur aufgrund vorchristlicher Elemente in den Erzählungen, sondern auch wegen der grundsätzlichen Inkommensurabilität göttlicher und menschlicher Rationalität, die den christlichen Monotheismus kennzeichne, nicht auf das miraculum reduzierbar. Dieser Umstand scheint eine Präzisierung der Fragestellung zu fordern, die in der Studie selbst nicht vorgenommen wird. Ungeachtet dieser theoretischen Unschärfe erweist sich Rüths Ansatz textanalytisch als fruchtbar. Seine Analysen schärfen den Blick für das literarische Potenzial des christlichen Wunderbaren und sind als Beitrag zu einer Archäologie von Erzählstrategien der Phantastik – beispielsweise Perspektivgestaltung, Spannungserzeugung und Affektmodellierung – und damit auch zur literaturhistorischen Relevanz des christlichen Wunderbaren von unbestreitbarem Interesse.

Gemäß der Zielsetzung der Studie bilden Analysen zu Erzählungen des christlichen Wunderbaren den Schwerpunkt der Arbeit. Rüth untersucht erstens miracula in kirchlich-klösterlichen Wunderberichten, zweitens christlich gefärbte mirabilia in Wissenstexten, zu denen er neben Geschichtsschreibung und Reisebericht auch die Unterhaltungsliteratur zählt. Gibt die erste Gruppe von Texten Anlass, nach dem Ausmaß „erzählerischen Raffinements“ gerade auch in Texten, die ganz in einer christlichen Didaxe aufzugehen scheinen, zu fragen und damit einer im Sinne Augustins dubiosen Form der admiratio auf die Spur zu kommen, so sind umgekehrt die Texte der zweiten Gruppe geeignet, christliche und nicht-christliche Formen des Wunderbaren zu kontrastieren und die Christianisierung volkstümlicher Narrative nachzuvollziehen.

Eine „‚Ästhetik‘ der Nüchternheit“ kennzeichnet die frühesten der untersuchten Textbeispiele, die den Virtutes sanctae Geretrudis entnommen sind. Die Texte, denen Authentizität und Glaubwürdigkeit wichtiger seien als Staunen, dienen Rüth als Kontrastfolie für die Analyse des ganz anders, nämlich auf die Stimulierung von admiratio hin angelegten Libellus de miraculo Sancti Martini. Die Kontrastierung erlaubt es, die spezifischen Erzählstrategien, deren sich der Libellus bedient, zu profilieren. Zu ihnen zählt Rüth neben Strategien der Authentifizierung und des expressiven Sprechens insbesondere auch die Perspektivierung des Geschehens durch die Figuren, die, so Rüth, bis hin zur „kollektiven internen Fokalisierung“ gehe und letztlich auf eine Äquivalenz von Figuren- und Rezipienten-admiratio ziele.

Der Dialogus miraculorum von Caesarius von Heisterbach bietet zwar über weite Strecken „Paradebeispiele des christliche gezähmten Wunderbaren“, enthält aber doch gelegentlich Texte, die – etwa in Versuchen einer Inszenierung des Grauens – vorausweisen auf Strategien phantastischen Erzählens; letzteres gilt auch für De miraculis libri duo von Petrus Venerabilis, der admiratio als Mittel zur Stärkung des Glaubens in den Dienst nimmt und hierfür auf neue Erzählstrategien zur Evokation von Affekten setzt. In Iacopo Passavantis Specchio della vera penitenzia, und hier wiederum im Exemplum vom Köhler von Nevers, führt die erzählerische Ausgestaltung schließlich zu einer veritablen Wahrnehmungsmimesis, die in Verbindung mit der Raumgestaltung das „phantastische Potential der christlichen Jenseitslehre“ zutage treten lässt. Insgesamt zeige sich in diesen Texten ein durchaus größeres ‚phantastisches‘ Potenzial als etwa in pagan-apotropäischen Wiedergängergeschichten, die zwar weithin als einzige mittelalterliche Form der Phantastik gelten, jedoch, wie ein kursorischer Blick auf Texte von Walter Map, Gervasius von Tilbury und Wilhelm von Newburgh zeigt, allenfalls mit Vorschlägen zur Bekämpfung der Untoten, nicht aber mit Versuchen zur Evokation von Angst aufwarten.

Eher lose in den Gesamtzusammenhang der Studie eingebunden und insgesamt überblickhaft ist der letzte Teil, der in kursorischer Analyse zweier phantastischer Erzählungen – Remigio Zenas Confessione postuma und Luigi Campuanas Un vampiro – sowie des Films The Sixth Sense von M. Night Shyamalan die Anschließbarkeit christlicher Figurationen des Übernatürlichen an die moderne Phantastik zu zeigen sucht.

Axel Rüths Ansatz kennzeichnet eine behutsame, stets auf differenzierte Betrachtung bedachte Anverwandlung der Forschung. Der dezidiert nicht-polarisierende Gestus erschwert es gelegentlich, die Positionierung des Verfassers innerhalb der von ihm skizzierten Forschungslandschaft stringent nachzuvollziehen. Diese Anmerkung soll jedoch das Verdienst der Arbeit nicht schmälern: Das in der Literaturwissenschaft bislang stiefmütterlich behandelte Phantastische gerade auch im christlichen Wunderbaren wird in Axel Rüths Imaginationen der Angst exemplarisch sichtbar gemacht.

Titelbild

Axel Rüth: Imaginationen der Angst. Das christliche Wunderbare und das Phantastische.
De Gruyter, Berlin 2018.
246 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110603989

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