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Melanie Babenhauserheide liest Harry Potter gegen den Strich

Von Miriam StriederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Strieder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Harry Potter und der immense Erfolg der Reihe, der unter anderem Beweis in diversem Merchandise, den Filmen, Videospielen, Fanfictions und vielen anderen Ausdrucksformen findet, beschäftigt schon seit einigen Jahren die internationale Forschung. Melanie Babenhauserheide legt nun mit Harry Potter und die Widersprüche der Kulturindustrie eine ideologiekritische Studie der Reihe vor und befragt die Bände (und Kritik an ihnen) auf ihre Tauglichkeit in einer kritischen Auseinandersetzung im Rahmen einer Lehr-Lern-Situation.

In vier thematischen Großblöcken (Kapitalismus, Tod, Diskriminierung, Autoritätsverhältnisse) und zwei kleineren Abschnitten (Judikative, Kulturindustrie) zeigt Babenhauserheide Widersprüche innerhalb der fiktiven Welt auf, zeichnet Parallelen zwischen Fiktion und Wirklichkeit nach und entwickelt dabei viele wichtige und richtige Punkte im Zuge ihrer Analyse, die aber trotzdem nur ein deprimierendes Fazit zulassen, das allein schon durch die Methoden jegliche weitere Beschäftigung mit Harry Potter oder anderer ‚schöner‘ und unterhaltsamer Literatur tabuisiert.

Das erste große analytische Kapitel von Babenhauserheides Studie beschäftigt sich mit der Darstellung des Kapitalismus innerhalb der Harry-Potter-Serie. Dabei stellt sie fest, dass die Produktionssphäre innerhalb der Bücher ausgespart wird: Nie sehen wir eine Figur (egal ob magisch oder nicht) manuelle Arbeit verrichten, Güter herstellen und diese verkaufen. Hier ergibt sich zwangsläufig ein plot hole, das auch die Autorin als anscheinend letzte Autorität nicht stopfen kann: Warum sollte überhaupt irgendeine magische Figur arbeiten, wenn sie doch ihre Bedürfnisse über Magie stillen kann? Daraus ergibt sich ebenso zwangsläufig die Frage, warum es auch in der magischen Welt Armut gibt, wie zum Beispiel anhand der Weasleys gezeigt wird, die konstant in prekären Verhältnissen leben. Babenhauserheide diagnostiziert hier eine Mischung aus einer Idealisierung von Kapitalismus und technischem Fortschritt, zugleich aber auch dezidiert nostalgischen Elementen, die einen nicht zu unterschätzenden Anteil am Charme der Serie haben und Ausdruck einer Sehnsucht nach der ‚guten, alten Zeit‘ sind, ohne deshalb gleich reaktionäre Ansichten zu vertreten. Kerzenschein und Kaminfeuer gehören zu Harry Potter wie der Zauberstab und der Spitzhut.

Im nächsten thematischen Block widmet sich Babenhauserheide dem Tod, der in den Büchern von Beginn an eine prominente Rolle spielt. Dabei geht es nicht nur um den Verlust von geliebten Menschen, sondern auch um die Bedrohung des eigenen Lebens durch den unvermeidlichen Tod, der wie ein Damoklesschwert besonders über der Hauptfigur Harry zu schweben scheint. Die latente Angst vor dem Sterben und dem Tod, die wohl allen Lesern und Leserinnen der Reihe gemeinsam sein dürfte, wird schon zum Ende des ersten Bandes von einer Figur thematisiert, die zu diesem Zeitpunkt als durch und durch positiv charakterisiert wird; Albus Dumbledore erklärt dem schockierten Harry: „After all, to the well-organized mind, death is but the next great adventure.“ Diese Maxime kann für die gesamte Leserschaft, egal ob Erwachsene oder Jugendliche, eine durchaus positive Botschaft sein, die die Angst vor dem Tod minimiert. Eine Reflexion über diesen Ausspruch, der sich auch durch den Opfer-Gedanken durch die gesamte Reihe zieht, kommt erst später hinzu. Bei Babenhauserheides Betrachtungen fehlt eine Stellungnahme zum christlichen Substrat, das sich durch Reue, Buße, Vergebung und Prädestination in den Büchern finden lässt, und auch Anklänge von Himmel und Hölle im Jenseits bleiben von ihr unkommentiert. Die Bestrafung Voldemorts, die sie bereits in der Übergangsstation zwischen Dies- und Jenseits im siebten Band sieht, erscheint eher harmlos, ist doch die Leserschaft beispielsweise durch Märchen anderes und ‚Schlimmeres‘ gewöhnt. Gerade hier würde Babenhauserheides Analyse enorm gewinnen, wenn sie religiöse, kulturelle und geschichtliche Kontexte einbeziehen würde, die sie aber von Beginn an mit Ankündigung ausklammert und sich so einer wichtigen Interpretationsfolie verweigert.

Als sehr dichtes Kapitel mit vielen wichtigen Punkten erweist sich die Analyse von Stereotypen und Diskriminierung. Hier konstatiert Babenhauserheide, dass es einen merkwürdig inkonsistenten Unterschied zwischen der Ablehnung der Blutsreinheit und ‚verdorbenen‘ Familien gibt, diffuse Stereotypen und Ressentiments ausgerufen werden, wenn es um die ausländischen Schulen Durmstrang und Beauxbatons geht, und die Mitleids- und Verantwortungslosigkeit der Realität in der Fiktion gespiegelt wird. Wir in der ersten Welt sind die Magier aus den Büchern und zeigen trotzdem keine Humanität gegenüber anderen – die Serie macht auf diesen Missstand aufmerksam, indem sie uns alle als Muggel in der unterlegenen Position imaginiert. Auch die Familienverhältnisse greift Babenhauserheide auf, indem sie erklärt, dass heterosexuelle Kleinfamilien mit zwei bis drei Kindern, die alles, was nicht bereits seit Langem vertraut ist, ablehnen, das Ideal der Bücher seien. Ein genauerer Blick aber enthüllt, dass dies keineswegs den Tatsachen entspricht: Keine der Kleinfamilien, auch wenn sie alle heterosexuell sind, entspricht dem Ideal: Die Malfoys richten sich mit ihrem Ehrgeiz zu Grunde, die Potters sind tot, die Weasleys konstant von Armut bedroht, die Dursleys richten mit ihrer diskriminierenden Haltung Schaden an, die Grangers sind abwesend, die Snapes haben ein ebenso zerrüttetes Familienleben wie die Dumbledores – die Liste ließe sich mühelos fortsetzen. Auch beim Thema Hauselfen, das in diesem Kapitel verhandelt wird, macht Babenhauserheide darauf aufmerksam, dass die Lohnarbeit in der Realität durch Dobby gespiegelt und Ausbeutung affirmiert wird. Zugleich aber erscheint es eher verstörend als lustig, wenn sich der Hauself selbst bestraft – Dobby, Winky und Kreacher dienen nicht so sehr einer humorvollen Darstellung der Zaubererwelt, sondern zur Illustration einer ihrer Schattenseiten, die in der Missachtung der Schwachen wiederum die Realität spiegelt. Dies als Humor zu interpretieren, ist ebenfalls eine Art Missachtung. Richtig stellt Babenhauserheide fest, dass sich in der Beschreibung der Kobolde das antisemitische Stereotyp des raffgierigen Juden spiegelt, aber Wucher, Zins und Geldwirtschaft in der magischen Welt zur inhaltlichen Füllung des Klischees und damit der zentrale Vorwurf fehlen. Man kann damit den Kobold als antisemitisches Vorurteil nur dann lesen, wenn man dieses bereits kennt, was bei einer erwachsenen Leserschaft der Fall sein dürfte, nicht jedoch zwingend bei jugendlichen Lesern und Leserinnen.

Der vierte thematische Block widmet sich den Autoritätsverhältnissen innerhalb der Reihe, mit besonderem Fokus auf Hogwarts. Dabei zeigt sich, dass die Analyse der Fächer, die, wie Babenhauserheide kritisiert, eine praktische Ausrichtung haben, zu kurz gedacht ist, denn Alte Runen und Arithmetik scheinen eine rein intellektuelle Basis zu haben; gleiches gilt für Sprachkenntnisse wie Meerisch oder Koboldogack. So kann Hermine die Märchen von Beedle nur deshalb lesen, weil sie Runen dechiffrieren kann. Insgesamt ist das Schulsystem in Harry Potter eng an das im anglophonen Raum angelehnt, aber auch in anderen Kulturkreisen findet sich ein ähnliches System und die gleichen Verhaltensmuster von Konkurrenz: Für die jugendliche Leserschaft ergibt sich dadurch Identifizierungspotenzial, das jedoch innerhalb der Bücher durch den Hauspokal so zugespitzt ist, dass es zugleich Distanzierungsmöglichkeiten eröffnet. Ähnlich funktioniert die Serie in Bezug auf die Strafen, die auf Hogwarts unter Dumbledore verhängt werden: Sieht man diese durch die Augen der Schüler und Schülerinnen wie Harry, Hermine und Ron, mit denen sich die meisten jugendlichen Leser und Leserinnen identifizieren dürften, ergeben sich auch hier Parallelen mit der Realität, wo (Kollektiv-)Strafen, ungerechte oder vermeintlich ungerechte Behandlung und anderes zum Schulalltag durchaus dazugehört. Indem also gerade keine perfekte Schullandschaft inszeniert wird, wird die Leserschaft für die Stärken und Schwächen aller Menschen, auch und besonders von Lehrkräften, sensibilisiert. Für Babenhauserheide ist die Figur des Schulleiters Dumbledore ein zutiefst problematischer Charakter, der zum Beispiel beim Wettkampf um den Hauspokal seinem Lieblingshaus zum Sieg verhülfe. Vielmehr erscheint es aber so, als würde Dumbledore Harry bereits ab dem ersten Band zur Opferbereitschaft erziehen und ihn dafür belohnen, was nicht weniger problematisch ist. Insgesamt ist Babenhauserheide aber durchaus zuzustimmen, wenn sie feststellt, dass die Reihe eine gewisse Autoritätsgläubigkeit propagiert: Wenn nur die richtige Person an der Spitze steht (Dumbledore, McGonagall, Shacklebolt vs. Snape, Umbridge, Fudge), werden undemokratische Staatsformen durch die Reihe als durchaus positiv bewertet.

In ihrem Fazit hebt Babenhauserheide auf die Reaktionen von Studierenden ab, die bei ihr Seminare zur Harry-Potter-Reihe besucht haben. Dabei erscheint es enorm problematisch, dass sie die Meinungen der Studierenden systematisch diskreditiert und dabei auch vor psychologischen Einschätzungen wie Narzissmus nicht zurückschreckt. Dabei wird deutlich, dass Babenhauserheide die Auffassung vertritt, dass es keinen angemessenen oder ‚richtigen‘ Umgang mit den Büchern (und darüber hinaus mit aller Literatur?) geben kann, was für die Studierenden vermutlich extrem frustrierend gewesen sein dürfte. Von einer literaturwissenschaftlichen Perspektive her ist diese Auffassung gründlich zu hinterfragen.

Babenhauserheides Analyse beinhaltet viele wichtige Punkte, die nicht nur für Harry Potter von Bedeutung sind. Ihre Betrachtungen wären allerdings auf die bereits angesprochenen religiösen, kulturellen und geschichtlichen Anspielungen zu erweitern, die einige getroffene Feststellungen unterlaufen können und den ganz eigenen und durchaus subversiven Humor der Serie aufdecken (so heißt zum Beispiel der überaus treue Phoenix ausgerechnet Fawkes – eine Anspielung auf den Verräter Guy Fawkes, der jedem Kind in Großbritannien durch die Guy-Fawkes-Feuer bekannt ist). Zudem wäre es gewinnbringend gewesen, wenn Babenhauserheide problematisiert hätte, welche Figuren als Autorität propagiert werden: Wenn Hagrid, der eindeutig ein Sympathieträger ist, als Belegstelle zitiert wird, dann sollte zugleich erwähnt werden, dass der Wildhüter innerhalb der Bände keine Expertenrolle innehat (ansonsten würde er wohl kaum versuchen, einen Drachen in einem Holzhaus aufzuziehen). Auch sprachlich sind Babenhauserheides Ausführungen nicht immer angemessen, was aber das große Ganze betrachtet zu verschmerzen ist.

Titelbild

Melanie Babenhauserheide: Harry Potter und die Widersprüche der Kulturindustrie. Eine ideologiekritische Analyse.
Transcript Verlag, Bielefeld 2018.
530 Seiten, 39,99 EUR.
ISBN-13: 9783837641097

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