Wandel durch Annäherung – gestern und heute

Egon Bahr denkt 1966 in „Was nun?“ über die deutsche Einheit nach

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Egon Bahr starb 2015, vier Jahre später nun – dreißig Jahre nach dem Mauerfall – erscheint erstmals seine programmatische Denkschrift über einen möglichen Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands aus dem Jahr 1966. Der SPD-Politiker Bahr gehört zu den wesentlichen Konzeptentwicklern und Architekten der „Neuen Ostpolitik“, die besonders mit Willy Brandts Kanzlerschaft verbunden wird. Bereits die Große Koalition aus den Unionsparteien und der SPD, die von 1966 bis 1969 die Geschicke Deutschlands unter Kurt-Georg Kiesinger lenkte, suchte behutsam nach neuen Wegen einer Verständigung mit der Sowjetunion und den osteuropäischen Staaten, die im „Warschauer Pakt“ zusammengeschlossen waren. Der Bau der Berliner Mauer hatte 1961 die faktisch bestehende deutsche Zweistaatlichkeit scheinbar endgültig zementiert. Wer nach anderen Kommunikationsmöglichkeiten mit der DDR suchte, stand damals unter Ideologieverdacht.

Auch Egon Bahr wurden Sympathien für den Kommunismus unterstellt. Er entwickelte eigenständig und, wie er betont, mitnichten in enger Abstimmung mit dem SPD-Vorsitzenden Brandt, Überlegungen für neue Wege der Verständigung, die nunmehr als sorgsam kommentiertes Dokument der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts vorliegen.

Bahr denkt über die „Lösung der deutschen Frage“ nach und ist der Auffassung, dass eine „positive politische Utopie“ nötig, zumindest hilfreich sein könne. Niemand besitze Mitte der 1960er-Jahre einen „perfekten Plan“ für die deutsche Einheit. Seine Vorstellungen bezeichnet er vorsichtig als „Konstruktionsmöglichkeit“. Weder Nostalgiker noch Fantast, fürchtete er eine wachsende innere Spaltung Deutschlands, je länger die Teilung andauern würde. Einige seiner Zeitgenossen dachten über die „volle Anerkennung der DDR“ ernsthaft nach. Die „wachsende Souveränität“ hält der Politiker zwar für eine Tatsache, außerdem könnte ein solcher überraschender Schritt der Anerkennung die Sowjetunion in eine „verhältnismäßig große Verwirrung“ versetzen. Überzeugend seien diese Ansätze jedoch nicht: „Bundesrepublik und DDR sind Provisorien. Ihre gegenseitige Anerkennung würde aus dem Provisorium ein Definitivum machen, aus der hingenommenen oder erlittenen Spaltung die vom deutschen Willen getragene Spaltung in zwei Staaten.“ Stattdessen empfiehlt Bahr eine Ausweitung der Kontakte, eine „Politik der Annäherung“, um das „Gefühl der Zusammengehörigkeit zu stärken, neue Bindungen und Verbindungen zu schaffen und damit die Einheit zu fördern“. Der „wachsenden Auseinanderentwicklung“ der Deutschen solle so entgegengewirkt werden. Das Ziel sei eine „Annäherung an die Menschen“, nicht an den Kommunismus:

Heran an die DDR, auf Tuchfühlung, über das Regime, aber nicht nur ohne Verbrüderung, sondern bei Ablehnung der nicht zu vereinbarenden verschiedenen Prinzipien. Dieser Weg macht der Ausweglosigkeit ein Ende. Er ist nicht das Ergebnis der Hoffnungslosigkeit, sondern erweckt Hoffnungen und Möglichkeiten.

Bahr konstatiert zwar Blockdenken im Westen und im Osten, lehnt aber die herrschende „antikommunistische Propaganda“ ab. Dass die osteuropäischen Staaten ökonomisch kollabieren könnten, hält Bahr für unwahrscheinlich und unrealistisch: „Nach menschlichem Ermessen ist es also eine fatalistische Erwartung, die davon ausgeht, die Sowjetunion könnte eines Tages die Zone im Sinne eines Geschenks aufgeben. Auf Wunder warten eröffnet keine Aussicht und ist keine Politik.“ Er wirbt für die „Transformation des Ost-West-Konflikts“ in einen friedlichen Wettstreit über die Systemfrage, hofft auf ein „waches Gefühl der Zusammengehörigkeit“ und auf Begegnungen von Politikern der Bundesrepublik und der DDR am Verhandlungstisch: „Wer sich an den Tisch setzt, kann nicht sicher sein, Erfolg zu haben, aber er kann sicher sein, das Menschenmögliche getan zu haben. Und das ist uns aufgegeben.“

Damit erinnert Bahr an den Verfassungsauftrag: die Wiedervereinigung Deutschlands. Die Gefahr sieht er darin, dass die „Verewigung der deutschen Spaltung“ einfach durch die Stabilität im Alltagsleben begünstigt werde. Er schildert Beobachtungen aus dem Osten: „Wer Ältere auf die deutsche Einheit anspricht, kann Tränen sehen. Wer an Jüngere dieselbe Frage richtet, hört auch: Ihr habt uns nicht geholfen, ihr helft uns auch heute nicht.“ Außerdem habe die „innere Stabilität“ der DDR zugenommen. Ebenso seien viele Bürger über die Geringschätzung ihrer Lebensleistung seitens der Landsleute im Westen enttäuscht und empört:

Man will leben und muß sich also arrangieren. Nicht ohne einen Unterton des Vorwurfs sagte mir eine Bewohnerin Ost-Berlins: „Ich lebe nicht in der sogenannten DDR, ich lebe in der DDR.“ Für sie sind das Gesetz, das Geld und die Möglichkeiten, die ihr dieser Staat bietet, die Grenzen, die er ihr setzt, nicht nur einmal erlebte Realität, sondern tägliche Wirklichkeit. Und so geht es Millionen, auch Millionen junger Menschen.

Der Anschluss der DDR an die Bundesrepublik sei ebenso wirklichkeitsfremd wie die „Vorverlegung der Nato-Grenze an die Oder und Neiße“.

Skepsis brachte Egon Bahr 1966 einer „Politik der europäischen Integration“ entgegen, die wiederum die Wiedervereinigung nur durch eine Einfügung der DDR in die Bundesrepublik denkbar erscheinen lasse. Auch ein europäischer „Staatenbund“ sei nicht möglich, denn das wäre verfassungswidrig. Die Wiedervereinigung Deutschlands sei das primäre Ziel, nicht die Einheit Europas. Die „staatliche Selbstverwirklichung“ aber stünde noch aus, und dies seien die Deutschen einander und der Welt schuldig:

Die geschichtliche Wiedergutmachung der deutschen Vergangenheit kann nur erfolgen, wenn Deutschland sich selbst verwirklicht. Dieser Aufgabe kann man nicht ungestraft ausweichen. Auf sie sind alle lebenden Generationen verpflichtet. Sie bedeutet nur äußerlich die Wiederherstellung eines deutschen Nationalstaates. In Wirklichkeit ist diese Aufgabe gleichbedeutend damit, die Mitte Europas gesunden zu lassen und damit dem Kontinent Frieden zu garantieren.

Egon Bahrs Text mag jungen Menschen in Deutschland so fern anmuten wie Platons Staat oder Kants Abhandlung Zum ewigen Frieden. Die Themen, die gegenwärtig die politische Situation und die öffentlichen Debatten in Deutschland prägen – ob es sich um die Zuwanderungsfrage, um die Beteiligung der Bundeswehr an internationalen Militäreinsätzen, um den Umwelt- und Klimaschutz oder um die Digitalisierung handelt –, spielen in diesen deutschlandpolitischen Überlegungen überhaupt keine Rolle, und das ist auch nicht verwunderlich. Egon Bahr war schließlich kein Prophet. Wer sich aber aufmerksam diese Überlegungen ansieht, erkennt, dass der SPD-Politiker wachsam und sensibel über das Problem der Anerkennung nachgedacht hat – und auch betont, wie wichtig es ist, dass sich die Bürger in West- und Ostdeutschland immer besser verstehen lernen.

Diese Form der Spaltung, die zumindest teilweise auch so normal sein könnte wie die Gegensätzlichkeit zwischen der norddeutschen Mentalität und dem bayerischen Lebensgefühl, scheint fortzudauern oder sich auch dreißig Jahre nach dem Mauerfall zu vertiefen. Wozu würde Egon Bahr seine Mitbürger heute ermuntern? Vielleicht wäre es wichtig, einander respektvoll zu begegnen und die Lebensgeschichten zu erzählen, auf moralisierende Belehrungen ebenso zu verzichten wie auf ironisch-abschätzige Bemerkungen. Wir könnten auch heute neu lernen, aufeinander zuzugehen und uns symbolisch oder tatsächlich gemeinsam an einen Tisch zu setzen. So könnten Verständnis und Sympathien füreinander wachsen.

Titelbild

Egon Bahr: Was nun? Ein Weg zur deutschen Einheit.
Herausgegeben und mit einem Vorwort von Peter Brandt.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
222 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783518428764

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