Der Tradition beraubt
Und ein Sohn der USA – James Baldwin
Von Karl-Josef Müller
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„We don‘t serve Negroes.“ „I don‘t eat them either; give me a cup of coffee and a hamburger.“ Muhammed Al in einem Interview mit der BBC aus dem Jahr 1971
Der Worte über das „Negro Problem“ sind genug gewechselt: „Nicht nur wird so viel darüber geschrieben, es wird so schlecht darüber geschrieben.“
Wie sollte, könnte oder müsste das Wort Negro ins Deutsche übertragen werden? In ihrer Nachbemerkung zur ersten vollständigen Ausgabe der Essaysammlung Notes of a Native Son erläutert die Übersetzerin Miriam Mandelkow, warum es unmöglich ist, im Deutschen exakt zu benennen, was genau bei Baldwin gemeint ist, wenn er vom Negro Problem spricht:
„Negro“ erzählt die Geschichte Amerikas. Das Wort ist aufgeladen mit der Erfahrung von Versklavung, Diskriminierung und Gewalt, zugleich mit Widerständigkeit und Stolz und immens wichtig in Baldwins Gesellschaftsanalysen, mit amerikanischer Identität. Dafür gibt es im Deutschen kein Wort.
Das Problem, von dem Baldwin spricht, ist das der Diskriminierung eines Teiles der US-amerikanischen Bevölkerung, deren Vorfahren vor vierhundert Jahren gewaltsam nach Nordamerika verbracht wurden. Es waren Menschen wie Martin Luther King oder Angela Davies, die sich diesem Problem annahmen, das in nichts anderem besteht als einem tief verwurzelten und anhaltenden Rassismus.
Doch beide Probleme, das der Übersetzung wie das all der Menschen, die diesem Rassismus ein Ende bereiten wollen, lassen sich nicht voneinander trennen. Fragwürdig erscheint Baldwin jeder Versuch einer Segregation, brachte die Rassentrennung den ausgeschlossenen und benachteiligten Teil der Bevölkerung doch nicht zum Verschwinden: „Amerikaner unterscheiden sich von allen anderen Menschen auch dadurch, dass kein anderes Volk so sehr mit dem Leben schwarzer Menschen verknüpft ist und umgekehrt.“
Wollte man Baldwins subtilen Gedankengängen ein sie verbindendes Merkmal zuschreiben, so wäre es wohl dieses Verknüpftsein. Viele wollten ein Nebeneinander: hier die Weißen in ihrer weißen Welt, dort die Schwarzen auf der Suche nach einer eigenen Kultur. Neben der Musik, spielt die Religion dabei eine wichtige Rolle. Bereits als Prediger in jungen Jahren erkennt Baldwin, dass er sich von einer Kirche trennen muss, die nur von Schwarzen besucht wird und in der sie Trost suchen:
Die Kanzel hatte etwas von Theater; ich stand hinter den Kulissen und wusste, wie die Illusion erzeugt wurde. (…) Ich wusste, wie ich eine Gemeinde zu bearbeiten hatte, bis sie ihren letzten Cent hergab – das war nicht schwer –, und ich wusste, wo das Geld für das „Werk des Herrn“ hinging.
Bei der Nation of Islam, der von 1964 bis 1975 auch der Boxer Muhammed Ali, ehemals Cassius Clay, angehörte, geht es noch deutlicher darum, sich von der weißen Mehrheitsgesellschaft abzuwenden:
Als Glaubenssatz der Nation of Islam bekamen wir den historischen und göttlichen Beweis dafür geboten, dass alle Weißen Teufel seien und bald zu Fall gebracht würden. Dies habe Allah seinem Propheten, dem Ehrenwerten Elijah Muhammed, persönlich übermittelt.
Der frühere Prediger der Pfingstgemeinde hat mit Religion jeder Couleur abgeschlossen, dennoch nimmt er eine Einladung des „Ehrenwerten Elijah Muhammed“ an. Vor dem Kreuz lautet der Titel des Essays, in dem Baldwin dieses Treffen schildert. Das Wir, von dem Elijah Muhammed spricht, steht dem Wir der „Weißen Teufel“ unversöhnlich gegenüber, die Verknüpfung, von der Baldwin spricht, wird wie ein Gordischer Knoten gewaltsam zerschlagen.
Nochmals Miriam Mandelkow:
Die Stimme in Baldwins Essays sagt „ich“, „wir“, „er“ – und meint in allen Fällen sich selbst. Manchmal. Die Pronomina sind schillernd und dann wieder gestochen scharf, das Wir ist nicht hermetisch, das Ich zuweilen universell, das Er mal als generisches Maskulinum zu lesen und mal ausschließlich männlich. Hin und wieder bemächtigt sich Baldwin eines weißen Mehrheits-Wir, das über „den schwarzen Amerikaner“ nachdenkt – zugleich polemische Aneignung und Aufforderung zum Perspektivwechsel. Und manchmal ist das Wir ein verbindendes, verbindliches, längst noch nicht erreichtes amerikanisches Wir.
Ja, dieses Wir verweist bei Baldwin manchmal auf ein „noch nicht erreichtes amerikanisches Wir“, mit dem Menschen sich einzig und allein als solche benennen, unabhängig von ihrer Hautfarbe, ihrem Geschlecht oder ihrer sexuellen Orientierung. Oftmals allerdings spricht Baldwin von Wir und Uns so, als ginge es ihm um seine eigene Gegenwart und nicht um ein utopisches Ziel. James Baldwin, so scheint es uns, geht es nicht darum, sich als Mensch dunkler Hautfarbe zu definieren, um sich damit, wie die Anhänger der Nation of Islam, von der weißen Mehrheitsgesellschaft abzugrenzen. Man müsste sich jede Stelle sehr genau anschauen, an der Baldwin Wir sagt, um abzuwägen, wer sich hinter diesem Wir verbirgt. Von einem Sohn dieses Landes lautet die Übersetzung aus dem Amerikanischen, Notes of a Native Son das Original. Von Hautfarbe ist hier nicht die Rede, sehr wohl aber von einer unbezweifelbaren Verbindung zwischen dem, der hier schreibt, und dem Ort, wo er dieses tut. Dieser Ort ist Amerika, dessen „Geburtsrecht“ er „einfordern“ muss, ganz im Sinne von Woody Guthries Selbstvergewisserung in dem Lied This land is your land, this land is my land und der von Bruce Springsteen in seinem Song Born in the USA. Im Zentrum dieses Erbes allerdings, das sich nicht ausschlagen lässt, steht der Rassismus: „Das Mysterium der Hautfarbe ist das Erbe aller Amerikaner, seien sie nun dem Gesetz nach oder tatsächlich Schwarz oder Weiß.“
Den Afrikanern ist ihr Geburtsrecht gewaltsam genommen worden. Sie wurden ihrer Heimat entrissen und in ein ihnen fremdes Land verbracht:
Sie nehmen unter den Schwarzen dieser Welt insofern eine Sonderstellung ein, als ihnen buchstäblich auf einen Schlag ihre Vergangenheit genommen wurde. (…) Es soll Haitianer geben, die ihre Abstammung bis zu afrikanischen Königen zurückverfolgen können, doch jeder schwarze Amerikaner, der so weit zurückgehen möchte, wird feststellen, dass seine Reise durch die Unterschrift unter einen Kaufvertrag (…) jäh beendet wird.
Kommen wir nochmals zurück auf die Verknüpfung. Der gordische Knoten lässt sich nicht zerschlagen; die Nachkommen der Sklaven gehören sichtbar und unübersehbar zu einer Gemeinschaft, deren ‚weißer‘ Teil europäischer Herkunft immer noch glaubt, diese Tatsache ignorieren zu können:
Während die schwarzen Amerikaner ihre Identität dank ihrer radikalen Entfremdung von ihrer Vergangenheit erlangt haben, nähren weiße Amerikaner noch immer die Illusion, es gäbe einen Weg zurück in die europäische Unschuld, eine Rückkehr zu einem Zustand, in dem Schwarze nicht existieren.
In ihrem Buch Citizen. An American Lyric aus dem Jahr 2014 schildert Claudia Rankine eine entsprechende Szene. Die Erzählerin hat eine Verabredung mit einer Therapeutin für Traumata, im Original „therapist specializes in trauma counseling.“ Man kennt sich noch nicht persönlich: „You have only ever spoken on the phone.“ Ein Seiteneingang ist für die Patienten vorgesehen. Dann geschieht es:
At the front door the bell is a small round disc that you press firmly. When the door finally opens, the woman standing there yells, at the top of her lungs, Get away from my house! What are you doing in my yard? It’s as if a wounded Doberman pinscher or a German shepherd gained the power of speech. And though you back up a few steps, you manage to tell her you have an appointment? You have an appointment? she spits back. Then she pauses. Everything pauses. Oh, she says, followed by, oh, yes, that’s right. I am sorry.
I am sorry, so, so sorry.
Wenn wir darauf hinweisen, dass Claudia Rankine dunkler Hautfarbe ist – betreten wir damit nicht bereits den Boden des Rassismus? Wen interessiert etwa die Haarfarbe irgendeines Menschen, wen interessiert, ob die Haut eines solchen Menschen eher dunkel oder hell ist? Was genau macht die Identität irgendeines Menschen, irgendeiner Person aus? Seine Individualität und Persönlichkeit erkennen wir nicht an äußeren Merkmalen, sollte man meinen.
„Get away from my house!“ – gerufen wie aus dem Rachen zweier Hunde deutscher Rasse, Dobermann und Schäferhund sind deutsche Hunderassen, wie lässt sich diese aggressive Panik erklären? Zwei Frauen stehen sich an einer Eingangstür gegenüber; die Besucherin Claudia Rankine, geboren 1963 in Jamaika, lebt seit 1970 in den USA, welchen Hintergrund die Herrin des Hauses hat, bleibt unerwähnt, wir können allerdings davon ausgehen, dass ihre Hautfarbe sich deutlich von der Claudia Rankines unterscheidet.
Nochmals James Baldwin.
Ich halte es zum Beispiel nicht für übertrieben zu behaupten, dass das amerikanische Weltbild (…) vieles dem Kampf der Amerikaner verdankt, zwischen sich und den Schwarzen eine unüberbrückbare menschliche Kluft aufrecht zu erhalten.
In der von Rankine geschilderten Hysterie wird sie greifbar, diese Kluft, ja die Angst vor „den Schwarzen“, den ehemaligen Sklaven.
Könnte es nicht sein, dass die „unüberbrückbare menschliche Kluft“ zwischen Schwarz und Weiß als der zynische Bauplan des Abgrunds angesehen werden muss, der sich zurzeit wie auch seit Menschengedenken innerhalb der US-amerikanischen Gesellschaft auftut? 1964 ist Bob Dylans Song With God on Our Side auf der LP The Times They Are A-Changing zu hören, wir zitieren die erste Strophe:
Oh, my name, it ain‘t nothin‘, my age, it means less
The country I come from is called the Midwest
I’s taught and brought up there, the laws to abide
And that the land that I live in has God on its side
Sechzig Jahre später beruft der republikanische Präsidentschaftskandidat und frühere Präsident der USA sich nach einem auf ihn verübten Attentat ebenfalls darauf, Gott an seiner Seite zu haben, und selbstredend steht Gott damit auf der Seite all derer, die ihn unterstützen im Kampf gegen alle, die dies nicht tun.
Damit kommen wir zurück auf das Phänomen der Verknüpfung, von dem Baldwin spricht. In dem Text Fremder im Dorf unterscheidet Baldwin zwischen einem, so möchten wir ihn annäherungsweise nennen, Rassismus gegenüber dem Fremden und Unbekannten einerseits und dem in den USA herrschenden Rassismus gegenüber den ehemaligen Sklaven andererseits.
Wir befinden uns in der Zeit um 1950 in einem kleinen Schweizer Dorf:
Im Dorf gibt es kein Kino, keine Bank, keine Bücherei, kein Theater, sehr wenig Radios, einen Jeep, einen Kombi; und momentan eine Schreibmaschine, nämlich meine, eine Erfindung, die die Frau von nebenan noch nie gesehen hatte.
Als Schwarzer ist Baldwin eine Sensation, mit entsprechenden Reaktionen:
Doch ich bleibe ein Fremder wie am allerersten Tag meiner Ankunft, und die Kinder rufen Neger! Neger!, wenn ich durch die Straßen gehe.
Baldwin verurteilt diese Kinder nicht, er
wusste damals, dass es nicht unfreundlich gemeint war, und ich weiß es heute; trotzdem muss ich es mir immer wieder vorsagen, sobald ich das Chalet verlasse. Die Kinder, die Neger! rufen, können unmöglich ahnen, welches Echo dieser Laut hervorruft.
Dieser Laut ist ein anderer als der, den Claudia Rankine zu hören bekommen hat – „Get away from my house!“, und es ist zutiefst beeindruckend, wie genau Baldwin unterscheidet zwischen dem, was ihm, stellvertretend für alle Schwarzen, in den USA immer wieder zustößt, und seinen Erlebnissen in diesem Schweizer Dorf:
Ein fürchterlicher Abgrund klafft zwischen den Straßen dieses Dorfes und den Straßen der Stadt, in der ich geboren wurde, zwischen den Kindern, die heute Neger! rufen, und denen, die gestern Nigger! riefen – der Abgrund ist die Erfahrung, die amerikanische Erfahrung.
Es ist kaum möglich, Baldwins differenzierte und komplexe Gedankengänge hinsichtlich dessen, was diesen Abgrund ausmacht, auf den Begriff zu bringen. Die ordinäre Wut, die ordinäre Sprache, bis hin zum oftmals wutverzerrten Gesicht des ehemaligen republikanischen Präsidenten, der erneut dieses Amt gewinnen möchte, sie allerdings zeugen von dem Abgrund, den Baldwin meint. Denn das Again seiner Losung Make America Great Again weist in eine nicht näher definierte Vergangenheit, in der alles besser war. Baldwins Gedanke, „dass das amerikanische Weltbild (…) vieles dem Kampf der Amerikaner verdankt, zwischen sich und den Schwarzen eine unüberbrückbare menschliche Kluft aufrecht zu erhalten, hat heute in den USA nur scheinbar ein anderes Gesicht angenommen. Hinter dem Wunsch eines Teils der US-amerikanischen Bevölkerung, eine nicht näher definierte bessere Vergangenheit wiederzubeleben, steht nur zu Deutlich das Verlangen, sich von dem Teil des Gemeinwesens abzugrenzen, der dies zu verhindern trachtet. An die Stelle der Verknüpfung, von der Baldwin immer wieder spricht, tritt die unbedingte Forderung nach einer strikten Trennung zwischen Denen und Uns. Vordergründig sind es nicht – mehr allein – die Schwarzen, die zu den anderen gehören; geblieben aber ist die Weigerung zu akzeptieren, dass in diesem Land sich Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft aufhalten, mit denen es gilt zusammen zu leben.
Man hätte meinen können, dass seit der Präsidentschaft von Obama die Zeiten der Rassentrennung endgültig überwunden worden wären. Es ist jedoch ein Fakt, dass weiterhin mehr Schwarze durch Polizeigewalt ums Leben kommen als Weiße. 1988, ein Jahr nach dem Tod von James Baldwin, veröffentlicht die amerikanische Hip-Hop-Band N.W.A. einen Song mit dem Titel Fuck tha Police. Im Vorwort zur Ausgabe von 1984, geschrieben mithin neunundzwanzig Jahre nach der Erstausgabe, liefert James Baldwin die Begründung für den geradezu heiligen Zorn der Niggaz Wit Attitudes:
Was in der Zeit meiner Zeit passiert ist, das ist das Vermächtnis meiner Vorfahren. Kein Versprechen wurde ihnen gegenüber gehalten, kein Versprechen wurde mir gegenüber gehalten, noch kann ich denen, die nach mir kommen, oder meinen Brüdern und Schwestern in aller Welt raten, auch nur ein Wort zu glauben, das meine moralisch bankrotten und abgrundtief unehrlichen Landsleute von sich geben.
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