Literarischer Geheimdienst

Thomas Ballhausens und Christa Agnes Tuczays Sammelband über „Traumnarrative“ ist leider enttäuschend

Von Sabine HauptRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Haupt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kulturwissenschaftliche Sammelbände sind heterogen. Das ist bekannt und nicht weiter tragisch. Meistens pickt man sich ohnehin nur ein oder zwei Aufsätze heraus, die in den Kontext der eigenen Forschungen passen. Wer liest schon Sammelbände von vorne bis hinten? Wahrscheinlich außer den HerausgeberInnen, den LektorInnen (sofern es diese überhaupt gibt) und den RezensentInnen: niemand. Man könnte den Zweck einer Rezension folglich auch darin sehen, eine Art Vorauswahl vorzuschlagen. Im Fall von Traumnarrative. Motivische Muster – Erzählerische Traditionen – Medienübergreifende Perspektiven ist die Frage, welche Beiträge für Kultur- und/oder LiteraturwissenschaftlerInnen überhaupt lesenswert sind, recht schnell beantwortet: eigentlich nur einer, nämlich der Aufsatz von Hans-Walter Schmidt-Hannisa über die Traumaufzeichnungen des Fin de Siècle-Dichters Friedrich Huch.

Der Literaturwissenschaftler und Übersetzer Schmidt-Hannisa forscht seit bald 20 Jahren zum Thema. Er ist Mitbegründer des kulturwissenschaftlichen Netzwerks Cultural Dream Studies, zu dem auch das DFG-Netzwerk Das nächtliche Selbst gehört sowie das an der Uni Saarbrücken angesiedelte Graduiertenkolleg Europäische Traumkulturen. In diesem Kontext sind in den letzten Jahren eine Fülle von überaus interessanten und wissenschaftlich anspruchsvollen Einzelpublikationen und Sammelbänden erschienen. Doch keiner der dreizehn, hauptsächlich von österreichischen, finnischen und estnischen KulturwissenschaftlerInnen verfassten Beiträge des Sammelbandes verweist auch nur mit einem Wort auf diese Forschungen. Im Vorwort vermeint die Mitherausgeberin sogar keck, eine vermeintliche „Leerstelle“ in der Forschungsliteratur ausgemacht zu haben.

Solche Ignoranz ist höchst bedauerlich, zumal ein Großteil der Beiträge von methodischen Ansätzen ausgehen, die längst – gerade im kulturwissenschaftlichen Umfeld – überholt sind. So erfährt man zwar recht viel über vermeintlich uralte, gar „ontogenetisch alte“ Traumerfahrungen, über deren – bestenfalls strukturalistisch erfasstes – „Grundvokabular“ und ihre traditionellen Funktionen wie Prognostik, Trauerarbeit, Selbstbespiegelung und Lebenshilfe oder erhält in seitenlangen Textparaphrasen eine Inhaltsangabe antiker oder biblischer Traumerzählungen. Was jedoch das literarisch-ästhetische, semiotische oder ideen- und wissenschaftsgeschichtliche Spezifikum eines „Traumnarrativs“ sein könnte, beispielsweise sein Potenzial für die Konstitution einer Literatur der Moderne, scheint nicht einmal als Frage am Horizont auf. Stattdessen wird munter drauflos interpretiert. Streckenweise schreckt die ungehemmt spekulative Anthropologie einiger Beiträge nicht einmal davor zurück – analog zu populären Traumfibeln – fixe, womöglich archetypische, jedenfalls transkulturelle und/oder transhistorische Traumsymbole zu postulieren: „der Wasserraum symbolisiert die ,andere Welt‘; die alte weibliche Gestalt im Traum ist immer mit dem Jenseits verbunden“.

Die differenzierte, überaus spannende Analyse von Schmidt-Hannisa über Huchs 1904 erschienen Prosaband Träume wirkt in diesem Umfeld wie ein steiler Felsen in seichtem Gewässer. Man erfährt, dass Huchs im Umfeld der Münchner „Kosmiker“ entstandenen Texte eine Gratwanderung zwischen naturphilosophisch-mediumistischen Ansätzen und einer um 1900 schon recht elaborierten positivistischen Traumtheorie darstellen. Bei Huch fungiert der Dichter (analog zu späteren Experimenten des Surrealismus) als Medium, seine Träume sind gewissermaßen direkte Botschaften der kosmischen Natur. Die Parallele zu Novalis, Gottholf Heinrich Schubert und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling liegt auf der Hand. Der Anspruch auf eine möglichst authentische Wiedergabe der Trauminhalte begegnet nun aber – gewissermaßen auf der Kehrseite dieser Poetik – dem gleichzeitig bestehenden „ausgeprägten Stilwillen“, wie Schmidt-Hannisa Huchs unübersehbare Literarisierungen nennt. Schmidt-Hannisa macht damit auch plausibel, dass Huch mit dieser Dialektik von Ästhetisierung und Dokumentation eine Pionierstelle in der europäischen Literaturgeschichte einnimmt.

Die zentrale Frage bei der Analyse von „Traumtexten“, egal ob diese sich als vermeintlich authentische Tagebuchaufzeichnungen, Protokolle, ästhetisch „ungeformte“ Notate oder als literarische Texte präsentieren, nämlich die Frage nach strukturellen, stilistischen, thematischen oder motivischen Besonderheiten und damit nach ihrer ästhetisch-literarischen Form, wird in den anderen literaturwissenschaftlichen Beiträgen allenfalls en passant gestreift. So scheint es beispielsweise bei der Interpretation der Traumpassagen aus Martin Walsers Roman Ein sterbender Mann (2016) keine Rolle zu spielen, dass der Ich-Erzähler in der dritten Person träumt. Mehr als das Stichwort „Distanz“ fällt der Interpretin dazu nicht ein. Auch bei der Analyse von Schnitzlers Traumnovelle, einem close-reading, bei dem Schnitzlers autobiografische Traumnote in seinen Tagebüchern nicht einmal erwähnt, geschweige denn in einen – wie auch immer gearteten – Bezug zu den Traumtheorien des frühen 20. Jahrhunderts gesetzt werden, bleibt die Lektüre ganz im engen psychologischen Horizont der Figuren, deren „psychische Aktivität“ im Traum – ach, man ahnte es! – „die wahre Naturdimension des Ich aufweckt“. Erfreulich klar ist hingegen Johanna Lenharts Analyse von Günter Grass’ Die Rättin, auch hinsichtlich der politischen Implikationen und der deutlichen Reminiszenzen an die deutsche Romantik (kleine Besserwisserei am Rande: das Zauberwort „Waldeinsamkeit“ gehört zu Ludwig Tieck und nicht zu Joseph von Eichendorff…).

Interessanter als die meisten literaturwissenschaftlichen Aufsätze sind die interdisziplinären Beiträge zu Comic und Film sowie – besonders was ihren Unterhaltungswert betrifft – die empirischen Studien zur modernen „Volkskunde“. Auch wenn manches vorhersehbar erscheint, etwa, dass „ältere Menschen häufiger von Verstorbenen träumen als jüngere“, so gibt es hier doch zum Teil recht kurzweilige Passagen, beispielsweise wenn es um die Untersuchung von 114 Träumen anlässlich der finnischen Präsidentschaftswahl geht. Solche und ähnliche Befunde bilden die Highlights des ansonsten leider wenig erhellenden Bandes. Wirklich ärgerlich sind hingegen Beiträge, in denen sich  – wie in einem Aufsatz über die Traumkultur der finnischen Udmurten – etliche Passagen wörtlich wiederholen. Aufmerksame HerausgeberInnen sollten so etwas bemerken.

Doch eigentlich sind bereits der Titel und die Verwendung einer Zeichnung von Alfred Kubin als Titelbild ein Ärgernis. Hier werden LeserInnen mit Versprechen geködert, die nicht gehalten werden. Alfred Kubin wird trotz seiner einschlägigen Werke zum Thema „Traum“ – außer im Beitrag von Schmidt-Hannisa – nirgends erwähnt. Stattdessen wird seine Aquarellzeichnung Das Fabeltier von 1903 oder 1904 in der Quellenangabe des Coverbilds fälschlicherweise mit dem Titel Traumtier zitiert. Der Grund für diesen Fehler ist schnell gefunden: Auf „flickr“ oder „pinterest“ wird Kubins Fabeltier mit „dream animal“ übersetzt, ein Übersetzungsfehler, der wirklich irreführend ist, weil es nämlich tatsächlich eine literarische Traumaufzeichnung von 1904 des von Kubin hochgeschätzten Huch gibt, in dem ganz prominent ein „Traumtier“ erscheint. Wer hier also, verführt vom falschen Titel des Coverbilds, glaubt, intertextuelle oder intermediale Bezüge zu entdecken, wurde leider nur von der philologischen Unachtsamkeit der Herausgeber getäuscht.

Zum Glück gibt es als kleinen Trost am Schluss des Bandes „ein trügerisches Postskriptum“ des Mitherausgebers Thomas Ballhausen. Ballhausen hat bisher eine ganze Reihe von spannenden Publikationen vorgelegt, darunter vor zwei Jahren auch ein ausgezeichnetes Nachwort zu Gérard de Nervals Traumliteratur-Klassiker Aurélia (1855). Was diesen auch als Literaturvermittler überaus agilen und engagierter Wiener Autor, Lyriker und Literaturwissenschaftler dazu veranlasst hat, diesen Band mit herauszugeben, geht aus seinem lyrisch verspielten Postskriptum zwar nicht hervor, es lässt sich nur erahnen: „In diesem installierten Buch bin ich wie ausgesetzt, setze vorsichtig meine Schritte, lassen den Blick wie ein Schiffbrüchiger über die Papiere und Objekte gleiten.“ Ballhausen spricht hier mit der raunenden Stimme des verträumten Archivars: „Das Nachvollziehen und Bewahren der Verbindungen, intendierter wie auch erfundener, soll mein geheimer Dienst an dieser Sammlung sein.“ Schade nur, dass solche literarischen Geheimdienste bis zuletzt geheim bleiben.

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Thomas Ballhausen / Christa Agnes Tuczay (Hg.): Traumnarrative. Motivische Muster – Erzählerische Traditionen – Medienübergreifende Perspektiven.
Praesens Verlag, Wien 2018.
196 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-13: 9783706909983

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