Juden und ihr Deutschlandbezug

Ein literaturwissenschaftlich-historischer Sammelband verfolgt jüdische Autorenschicksale

Von Julia StetterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Stetter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Forschungsinteresse am Deutsch-Jüdischen scheint in neuerer Zeit zuzunehmen, während es lange Zeit eher ein vernachlässigtes Thema war, das höchstens im Kontext von Exilliteratur oder im Rahmen deutscher Vergangenheitsbewältigung aufkam. Dann jedoch ging es primär um deutsche Schuld oder Bewahrung einer deutschen Identität im Ausland, das heißt nicht um Bewältigungsstrategien emigrierter Deutschjuden und ihr Weiterleben im Ausland. Möglicherweise aufgrund gestiegener globaler Mobilität wird gegenwärtig aber vermehrt nach dem Verhältnis von emigrierten Juden zu Deutschland sowie nach ihren eventuellen Rückkehrbestrebungen gefragt.

Die elf Beiträge des Sammelbandes Rückkehrerzählungen. Über die (Un-)Möglichkeit nach 1945 als Jude in Deutschland zu leben schließen gleichfalls an dieses neue Interesse am Jüdischen an. Sie sind Teil einer Neuauslotung der Perspektive auf das Deutschjüdische, indem sie verstärkt nach persönlichen Haltungen einzelner Autoren sowie nach Ambivalenzen angesichts von Remigration suchen. Zurück geht der Band auf eine dreijährige Zusammenarbeit zwischen dem Franz-Rosenzweig-Minerva-Zentrum an der Universität Jerusalem und der Universität Augsburg. Die Beiträge sind Resultat der Abschlusstagung und sind interdisziplinär ausgerichtet, insofern sie sowohl von Geschichtswissenschaftlern, koordiniert von Prof. Yfaat Weiss (Jerusalem), als auch Literaturwissenschaftlern unter der Führung von Prof. Bettina Bannasch (Augsburg) erstellt wurden. Behandelt werden persönliche und literarische Dokumente von Autoren wie Hannah Arendt, Hans Mayer, Jean Améry, Amos Oz, Margarete Susman und weiteren.

Wenngleich der Band Remigration als sein Oberthema wählt, wollten viele der zum Auswandern gezwungenen Juden später gar nicht mehr nach Deutschland zurückkehren. Betrachtet man die „Erfahrungsperspektive der Exilierten selbst“, hatte dies vielfältige Gründe. Für Hannah Arendt, so Varun F. Ort, war Deutschland als Arbeitsstandort ganz pragmatisch gesehen unattraktiv geworden, weil zu Nachkriegszeiten dort Frauen im universitären Bereich deutlich benachteiligt waren, Arendt aber in den USA an verschiedenen renommierten Universitäten lehren konnte. Außerdem konnte sie so die amerikanische Staatsbürgerschaft erwerben. Hinzu kam in der deutschen Nachkriegsgesellschaft laut Ort ein Klima, das den ehemals Emigrierten mit Misstrauen begegnete. Nichtsdestotrotz reiste Arendt bereits 1949/50 erstmals nach Deutschland zurück, um für eine Organisation, die sich für den Erhalt jüdischer Kulturgüter einsetzte, die Lage zu klären. Man wollte verhindern, dass jüdische Kulturgüter zurück nach Osteuropa geführt wurden, weil die einstigen osteuropäischen Gemeinden, aus denen sie stammten, nun tot waren. Im Zuge ihres Deutschlandaufenthalts schrieb Arendt dann auch den Bericht Report from Germany, der neben der Kulturgutsituation auf den Wiederaufbau in Deutschland einging. Insbesondere kritisierte Arendt zudem die gescheiterte Entnazifizierung im Nachkriegsdeutschland. Sie kam zu einem negativen Gesamturteil, demzufolge die Deutschen „lebende Gespenster“ waren, denen ein übergeordneter Lebenssinn verloren gegangen sei. Ort konstatiert bezüglich Arendts Einschätzung, dass deren emotionale Enthaltsamkeit auffällt, insofern Arendt mit keinem Wort erwähnt, dass es sich bei Deutschland um ihre einstige Heimat handelt. Ort folgert zu Arendts Distanzhaltung: „Die Unbeteiligtheit des erzählenden Ich lässt sich als ein angenommenes Rollenverhalten verstehen, das aus der Unzugehörigkeit des Außenseiters resultiert.“

Ebenfalls nicht zurückkehren wollte der österreichische Schriftsteller Jean Améry. Marguerite Markgraf führt vor, wie sich seine Annahmen der Unmöglichkeit zur Remigration mit Albert Camus’ Theorie zum Absurden parallelisieren lassen. Indem Améry die französische Existenzphilosophie rezipiert und auf den Holocaust angewendet habe, sei jedoch die positive Komponente des Absurden verloren gegangen, die Camus ihm noch zuspricht. Bei Améry dagegen komme es zu einer Rehabilitation des ursprünglich von Friedrich Nietzsche negativ gemeinten Ressentiment-Begriffs sowie von Rache, was bei Améry als Protest zu verstehen sei und Markgraf zufolge Camus’ Konzept der Revolte nahesteht. Insgesamt sei es Améry darum gegangen, dass Deutschland lernen müsse, zu seiner Vergangenheit zu stehen und sich mit ihr auseinanderzusetzen; ein Rückkehr nach Deutschland/Österreich schien für ihn selbst jedoch nicht möglich zu sein.

Tatsächlich nach Deutschland zurückkehren wollte dagegen ein bestimmtes Milieu deutschsprachiger Juden in Palästina, die sich durch die deutschsprachige Zeitschrift Heute und Morgen: antifaschistische Revue vertreten sahen. Sie erschien monatlich zwischen 1943 und 1945 und wandte sich an einen linkspolitischen Adressatenkreis, der aus Zentraleuropa hatte fliehen müssen. Von ihnen wurde Palästina lediglich als vorübergehender Aufenthaltsort angesehen, nicht als dauerhafte Heimat. Yonatan Shiloh-Dayan stellt in seinem Beitrag heraus, wie sich diese Juden gegenüber anderen Juden in einer ausgegrenzten Situation befanden, da sie zum einen am Deutschen festhielten – was bei den das Hebräische favorisierenden Zionisten unbeliebt war – und sie darüber hinaus zusätzlich mit ihrer linkspolitischen Einstellung Anstoß erregten. Während die Verfechter des Hebräischen sich an den Aufbau neuer Strukturen und eines eigenen Staates machten, seien die Leser von Heute und Morgen Shiloh-Dayan zufolge nur körperlich, nicht geistig in Palästina anwesend gewesen. Heute und Morgen habe für sie daher zum einen die Rolle einer sozialen Plattform eingenommen, auf der sie ihre Rückkehrwünsche artikulieren konnten und zum anderen die Funktion erfüllt, das Deutsche lebendig zu halten. Die deutsche Sprache war für sie Teil ihrer Identität, die sie – das heißt explizit auch Arnold Zweig, einer der Mitwirkenden an der Zweitschrift – vom Nationalsozialismus separiert wissen wollten.

Einer der wenigen Deutschjuden, die die ersehnte Rückkehr real umsetzte, war Hans Mayer, prominenter Literaturwissenschaftler der Nachkriegszeit. Obgleich seine großbürgerlich-jüdischen Eltern in Auschwitz ermordet worden waren, reiste er bereits 1945 wieder nach Deutschland. Sein Blick, den er in seiner Autobiografie Deutscher auf Widerruf auf die damalige Gesellschaft wirft, war laut Michael Rupp ein ethnographischer. Durch einen gewissen Verfremdungseffekt, wurde es Mayer möglich, seine Position als Außenseiter und Eingereister ausloten zu können. Zudem verweist Rupp auf die kulturkritische Funktion der ethnographischen Methode, die gleichzeitig eine Teilnahme und eine Nichtteilnahme gewährleisten konnte. Schon das Köln seiner Kindheit und Jugend hatte Mayer sehr genau analysiert, indem er die Kölner Oberschicht beziehungsweise den höheren Mittelstand betrachtete und die Juden darin verortete. Mayer selbst hatte nach anfänglicher Orientierungslosigkeit eine Heimat in den Literaturwissenschaften finden können, weil er mit ihr bei einer sozialistischen Studentengruppe Anklang fand. Rupp folgert, dass Mayer sich damit einem bekannten Menschentypus zuordnen konnte: Dem „jüdischen Intellektuellen in der Partei der Facharbeiter. Diese Form der Symbiose war stets geprägt vom gemeinsamen Emanzipationsbestreben und der Suche nach einem intellektuellen, gesellschaftlichen Wirkungsraum“. Weitere Typusvertreter dieser Art seien Karl Marx, Ferdinand Lasalle, Eduard Bernstein und auch Mayers Doktorvater gewesen.

Nicht zuletzt werden im Band auch Juden und potenzielle Remigranten einer zweiten Generation besprochen – das heißt von Kindern der Holocaust-Überlebenden beziehunsweise schon vorher Ausgewanderten. Zu nennen ist hier etwa Amos Oz, israelischer Schriftsteller, dessen Großeltern von Odessa nach Palästina gezogen waren. Sebastian Schirrmeister bespricht, wie Oz in seinem Roman Ein anderer Ort auf das Deutschlandbild in Israel eingeht. Auswanderung nach Deutschland tritt darin primär als ein Störfaktor der sozialen Ordnung auf, wenngleich der Roman insgesamt ambivalent bleibt. Des Weiteren geht es auch um deutsch-jüdische Gegenwartsliteratur, etwa von Doron Rabinovici, der in seinen Romanen das Verhältnis von Juden und Nichtjuden darstellt. Rabinovici wurde 1961 in Tel Aviv geboren, lebt aber seit seinem vierten Lebensjahr in Österreich.

Insgesamt schlägt der Band eine vielversprechende Forschungsrichtung ein und bietet zahlreiche neue Blickwinkel. Dass seine Beiträge unter dem Konzept der Rückkehrerzählungen gerahmt werden und insbesondere sein Untertitel Über die (Un-)Möglichkeit nach 1945 als Jude in Deutschland zu leben ist allerdings etwas irreführend, da eine Rückkehr nach Deutschland nur vereinzelt in den Beiträgen thematisiert wird und nicht alle, die in den Beiträgen zurückkehrten auch ein deutschsprachiges Ziel wählten. Fraglich ist insofern, ob sich nicht ein passenderer Titel hätte finden lassen, zumal die Beiträge relativ heterogen ausfallen. Andererseits wirkt der Band mit seiner Offenheit aber gerade als Ausgangspunkt für weitere Forschungen sehr anregend.

Titelbild

Bettina Bannasch / Michael Rupp (Hg.): Rückkehrerzählungen. Über die (Un-)Möglichkeit nach 1945 als Jude in Deutschland zu leben.
Formen der Erinnerung, Band 66.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2018.
238 Seiten, 40,00 EUR.
ISBN-13: 9783847107996

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