Jenseits von Knittlingen

Frank Baron legt die Essenz seiner Faust-Studien vor

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Und wie verliebt war Deutschland, und ist es zum Teil noch, in seinen Doctor Faust!“ Schon knapp ein halbes Jahrhundert vor der Publikation des ersten Teils von Johann Wolfgang von Goethes Faust-Tragödie konnte Gotthold Ephraim Lessing 1759 in den Briefen, die neueste Literatur betreffend den Deutschen eine Amour fou mit einer ausnehmend zwielichtigen Figur attestieren. Diese Verliebtheit äußerte sich nachmals unter anderem darin, dass sie ihrer „mythologischen Hauptperson“, wie der Philosoph Friedrich Wilhelm Joseph Schelling Faust nannte, einen Lebenslauf andichteten, der durch die wenigen historischen Quellen kaum zureichend gedeckt ist.

Es bedurfte vielleicht eines außerdeutschen Blickes, um nüchterner mit den Zeugnissen umzugehen. Der in Ungarn geborene, seit 1970 an der University of Kansas lehrende und 2011 mit dem Bundesverdienstkreuz geehrte Frank Baron opponiert seit vielen Jahrzehnten gegen die zur vermeintlichen Wahrheit verfestigte These, der frühneuzeitliche Schwarzkünstler oder – je nach Perspektive – Gaukler und Scharlatan namens Faustus sei im schwäbischen Knittlingen zur Welt gekommen, um von dort zu Himmelserkundung und Höllenfahrt aufzubrechen.

Der die Grenzen des menschlichen Wissens überschreitende, sich darum (aber auch zur Steigerung ganz irdischer Genüsse) der Magie ergebende und schließlich mit dem Teufel paktierende Faustus wurde in der Rezeption von Goethes zur deutschen Nationaltragödie erhobenem monumentalen Drama zum edlen Sinnsucher. Die frühesten Quellen, aus denen Philologen und Historiker nicht müde wurden, einen „historischen Faust“ zu extrapolieren, geben für derlei Verklärungen indes wenig Anlass. Der Sponheimer Abt Johannes Trithemius berichtet 1507 von einem gewissen „Georg Sabellicus, welcher sich den Fürsten der Nekromanten zu nennen wagte“. Dieser großsprecherische Georg Sabellicus, der sich unter anderem Faustus iunior nannte, sei „ein Landstreicher, leerer Schwätzer und betrügerischer Strolch, würdig ausgepeitscht zu werden“. Trithemius zufolge war dieser Faustus also ein Hochstapler und Nichtsnutz, dem darüber hinaus noch Unzucht mit Knaben nachgesagt wurde.

Der Ruf dieses wunderlichen Wandersmannes hat sich im Verlauf des 16. Jahrhunderts nicht nennenswert gebessert, wohl aber immer deutlicher zu dem eines Schwarzmagiers und Teufelsbündlers verschoben. Bald wurde Faustus zur Berühmtheit und zur Symbolfigur für dunkle und teuflische Machenschaften. In solchen Zusammenhängen kommt auch sein geistesgeschichtlich wirkmächtigster Zeitgenosse verschiedentlich auf ihn zu sprechen. Martin Luthers abfällige Erwähnungen sollten das Faustus-Bild entscheidend prägen. Davon ist auch die kurze „Biografie“ beeinflusst, die der Reformations-Denker Philipp Melanchton Faustus um 1560 in Johannes Manlius’ Locorum Communium Collectanea zuschreibt. Der Reformator erzählt, ganz in der Nachfolge Luthers und auf der Grundlage des allfälligen Teufelsglaubens seiner Zeit, die Geschichte von Faustus zur Warnung und Belehrung der Jugend, die sich von derart verkommenen Gestalten nicht verführen lassen soll.

Die in ihrer Authentizität keineswegs unumstrittene Melanchton-Äußerung ist allerdings wegen eines anderen Aspekts zu besonderer Berühmtheit gelangt. „Ich hab einen gekennet / mit nammen Faustus von Kundling (ist ein kleines stettlein / nicht weit von meinem Vatterland)“ soll Melanchton gegenüber Manlius gesagt haben. Aus dieser Äußerung hat die Forschung mit Inbrunst geschlossen, dass Faustus in Knittlingen geboren sein muss, weshalb sich dort nun auch das Faust-Museum befindet. Dessen Gründer und langjähriger Leiter, Günther Mahal, verteidigte an vorderster Front und unermüdlich in einer kaum überschaubaren Anzahl von Publikation mit großer Leidenschaft die Ansicht, der „historische Faust“ (dem er auf der Grundlage der wenigen erhaltenen Quellen eine umfangreiche biografische Studie widmete) sei um 1480 in Knittlingen geboren und 1540/41 in Staufen im Breisgau verstorben.

Diese Konstruktion wurde von der Faust-Forschung weitgehend als gültige Wahrheit vertreten, obwohl sie auf einer spekulativen und großzügig ergänzenden Auslegung der ihrerseits nicht immer faktual glaubwürdigen Dokumente beruht. Wie wenig Relevanz diese Biografie indes für die Karriere des literarischen Faustus haben sollte, zeigen schon die ersten Passagen der Historia von D. Johann Fausten. In dieser 1587 in Frankfurt am Main gedruckten und ungeheuer erfolgreichen Schrift eines unbekannten Autors wurde erstmals eine große, zusammenhängende Geschichte vom Leben des Magiers und Teufelsbündlers erzählt – der nun aber aus der Nähe von Weimar stammt und „zu Wittenberg ein grosse Freundschafft gehabt“ habe, wodurch die Geschichte aus dem katholischen süddeutschen Raum in das Kerngebiet der Reformation verlegt wird. Der Hintergrund des Reformationsdenkens ist für den Faust-Mythos von integraler Bedeutung.

Frank Baron hat sich nicht nur intensiv, kritisch und differenziert mit der Entwicklung des Faustus-Bildes in der Frühen Neuzeit beschäftigt, er hat auch in zahlreichen Schriften – am bekanntesten ist vermutlich seine ebenso schlanke wie konzise Abhandlung Faustus. Geschichte, Sage, Dichtung (München 1982) – eine alternative Konstruktion vom Leben dieser dunklen Figur vorgelegt. Baron sieht in der historischen Person Georg Helmstetter, der sich im Jahr 1483 an der Universität Heidelberg immatrikulierte und nach Erlangung eines akademischen Abschlusses als Wahrsager in Erscheinung trat, den historischen Faustus. Dieser sei 1466 oder 1467 geboren worden und mutmaßlich zwischen 1536 und 1538 verstorben. Obgleich Barons Argumentation keine letztgültige Sicherheit für sich beanspruchen kann, ist sie auf einem stabileren Fundament begründet als die deutlich spekulativere Knittlingen-Theorie (der Rezensent ist sich aber ganz und gar des Umstandes bewusst, dass dies noch immer kontrovers diskutiert wird und er sich mit dieser Sympathiebekundung in den Augen orthodoxer Faustianer der Ketzerei schuldig macht).

Das 2019 vorgelegte Buch Der Mythos des faustischen Teufelspakts erhebt zwar nicht ausdrücklich diesen Anspruch, kann aber als Summe und Essenz von Barons ein halbes Jahrhundert umspannenden Faust-Studien gesehen werden. Noch einmal durchpflügt er mit dem im Untertitel genannten Dreischritt – Geschichte, Legende, Literatur – die Frühgeschichte des Mythos von den historischen Dokumenten über die Legendenbildung (zu der er auch die Historia zählt, die er mithin nicht als literarischen Text einordnet) bis hin zu den wegweisenden dichterischen Bearbeitungen in Form von Christopher Marlowes Tragödie, Lessings Fragment gebliebenem Drama und Goethes sogenanntem Urfaust. Die auf Einflusslinien fokussierten Ausführungen zu den literarischen Texten, die zudem die allfällige Verkürzung des literarischen Mythos auf diese Stationen reproduziert (meist wird dann als einzige nennenswerte moderne Adaption noch Thomas Manns Jahrhundertroman Doktor Faustus angeführt), halten die am wenigsten zwingenden Passagen bereit. Das schmälert aber nicht den Reichtum an Detailinformationen der früheren Kapitel.

Auch Baron ist der Verlockung ausgesetzt, die Informationen der spärlichen historischen Dokumente weiterzudenken und divinatorisch auszufüllen, so dass die Legendenbildung nicht allein beschrieben, sondern zumindest ansatzweise auch selbst betrieben wird – das ist schon durch die Annahme bedingt, in den unterschiedlichen Quellen aus mehreren Jahrzehnten sei immer von der gleichen Person die Rede. Dennoch ist es wohltuend, wie streng und kritisch Baron mit einigen Forschungsmythen und argumentativen Kurzschlüssen ins Gericht geht. Er kommentiert mit mikroskopischem Blick einzelne Quellen, Kontexte, Hintergründe und Textfiliationen weit ausführlicher, präziser und kenntnisreicher, als dies bei den meisten Überblicksdarstellungen zum Thema der Fall ist.

Besonderes Gewicht legt der Verfasser auf die hintergründige, an der Oberfläche der Textzeugnisse nur zu erahnende Bedeutung der Struktur zeitgenössischer Hexenprozesse für die Entwicklung des Mythos um den schwarzen Magier und Teufelsbündler, auf den Attribute übertragen werden, die in anderen Dokumenten des 16. Jahrhunderts den zu Unrecht verfolgten und gefolterten Frauen zugeschrieben wurden. Nicht weniger wichtig ist die zentrale Rolle, die Baron der Reformationshochburg Wittenberg zuweist: Nicht nur Luthers ausdrückliche Aussagen über Faustus haben dessen Bild beeinflusst, auch beispielsweise die Tischreden werden immer wieder als Prätexte sichtbar gemacht. Über Melanchton wurde der Wittenberger Einfluss an dessen Schüler Hermann Witekind weitergegeben, der geradezu als Barons heimlicher Protagonist gelten kann. Unter dem Pseudonym Augustin Lercheimer veröffentlichte er 1585 die den Hexenwahn seiner Zeit kritisch betrachtende Schrift Christlich Bedencken und erinnerung von Zauberey, die Baron wiederholt als wichtigste Quelle der Historia inszeniert. Die Betonung dieser Faktoren markiert nicht allein einen (wenn auch diskussionswürdigen) eigenen Standpunkt, sie bietet auch erhellende Einblicke, die in der Forschung nicht allgemein geläufig sind.

Ein wenig lieblos ist die Umsetzung geraten. Die einzelnen Kapitel bauen zwar lose aufeinander auf, sind aber nur sehr bedingt miteinander verbunden – eine Art abrundende narrative Einkleidung der Einzelteile hätte die Lesbarkeit erhöhen und Redundanzen verhindern können; in der vorliegenden Form verbleibt das Buch im Niemandsland zwischen konzeptioneller Monografie und Kompilation bereits früher verwerteter Texte. Zudem fallen einige formale und orthographische Mängel auf.

Diese Monita sind freilich Marginalien. Bieten Barons Ausführungen für die intimen Kenner der Materie neben einigen neuen Einsichten im Detail (die auch der Rezensent bei seiner eigenen Überblickdarstellung zum literarischen Faust-Mythos noch genauer hätte beachten können) sicherlich auch viele aus früheren Studien vertraute Beobachtungen, und mag man auch mit dem ein oder anderen Befund, mit dieser oder jener Bewertung nicht ganz konform gehen: Baron stellt eindrucksvoll unter Beweis, dass er einer der besten, wenn nicht gar der allerberste Kenner dieser Zeitspanne der Genese des Mythos ist. Jede seriöse künftige Faust-Forschung, die auch die frühe Phase des Mythos beachten und nicht darauf verzichten will, die diversen semantischen Verschiebungen, Transformationen und textuellen Filiationen in Rechnung zu stellen, die Faustus und die ihm zugeschriebenen Eigenschaften durchlaufen haben, wird auf dieses Buches als Kompendium zurückzugreifen haben.

 

Titelbild

Frank Baron: Der Mythos des faustischen Teufelspakts. Geschichte, Legende, Literatur.
De Gruyter, Berlin 2019.
317 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110612899

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