Texte und Textilien
Chiara Battisti analysiert in „Tailoring Identities in Victorian Literature“ die Repräsentation von Kleidung im viktorianischen Roman
Von Detlev Mares
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Aussicht auf einen Kleiderkauf mit ihrem Verlobten Rochester im Städtchen Millcote ist für Jane Eyre kein Vergnügen. Die Titelheldin des Romans von Charlotte Brontë warnt ihren zukünftigen Ehemann, sie werde sich nur noch wie „an ape in a harlequin’s jacket“ fühlen, wenn er seinen Plan in die Tat umsetzt, sie in Samt und Seide zu kleiden. Sie werde dann nicht mehr die ihm vertraute Jane sein. Dennoch beharrt Rochester auf seinem Ansinnen und lässt sich im Geschäft von ihr nur mühsam dazu bewegen, weniger extravagante Kleider für seine Braut zu kaufen als von ihm beabsichtigt. Jane ist verärgert und fühlt sich erniedrigt; sie ist froh, als die Besuche beim Seidenhändler und im Juweliergeschäft endlich überstanden sind.
Die Episode in Millcote ist eine Schlüsselszene für das Ringen Janes um Selbstbehauptung gegenüber ihrem Verlobten; die zentrale Rolle von Kleidung in der Szene macht sie auch zum Untersuchungsgegenstand für Chiara Battisti. Mit ihrem handlichen Buch strebt sie danach,
to analyse how changes in the texture, colour, and style of clothes are intertwined with the words of texts in order to create and deconstruct fictional characters‘ socio-political identities, to express and disguise individual characters, and to become a metaphor for different types of of representation.
Die Formulierung des Untersuchungsprogramms deutet bereits an, dass Battistis Vorhaben nach gründlicher theoretischer Einordnung verlangt. Dies leistet sie im ersten Teil des Buches, der geradezu als eine Einführung in Ansätze und Ergebnisse der fashion theory gelesen werden kann. Ausführlich stellt die Autorin soziologische Modetheorien vor, für die Kleidung ein Instrument sozialer Distinktion darstellt, gefolgt von semiologischen Perspektiven zur Zeichenhaftigkeit von Kleidung sowie John Carl Flügels psychologischem Zugang aus den 1930er Jahren. Nach dem zielstrebig präsentierten Theorien-Überblick wirkt der zweite Teil, die historische Einführung ins Themenfeld, etwas uneben. Zwar steht mit Thomas Carlyle ein zentraler viktorianischer Denker im Zentrum des nachgezeichneten Modediskurses, doch eingeleitet wird das Kapitel mit einem Rückgriff auf William Hogarth. Die Behauptung, dessen Werk verweise auf eine entstehende viktorianische Sensibilität überzeugt ebenso wenig wie die Verknüpfung von „Hogarth’s Britain“ mit dem Bau der Eisenbahn.
Die beiden abschließenden Teile des Buches sind der Repräsentation weiblicher bzw. männlicher Geschlechtsidentitäten in der viktorianischen Literatur gewidmet und bilden damit den Schwerpunkt der Untersuchung. Diese kreist um das von Flügel entwickelte Konzept der „Great Masculine Renunciation“, für Battisti „the major turning point in the history of fashion“. Es beschreibt den Wandel von der farbenfrohen, prächtigen Kleidung des Adels hin zur zurückgenommenen, dezenten Farbgebung der männlichen Mode des Bürgertums im 19. Jahrhundert – von Battisti schelmisch überschrieben mit „Fifty Shades of Black“. Als Ausdrucksform einer Moderne, die nicht mehr von adliger Muße, sondern von bürgerlicher Arbeitswelt und Mobilität geprägt war, reflektierte die schlichtere Kleidung die Neuaushandlung von Klassengrenzen, aber auch von Geschlechteridentitäten. Es oblag nun der weiblichen Mode, durch Ausschmückungen und extravagante Gestaltung soziale Distinktion zu markieren. Der Wandel in der Kleidung erweist sich damit als Gradmesser für gesellschaftliche Veränderungen, persönliche Identitäten und Repräsentationen, die ihren Niederschlag auch in Werken der Literatur fanden.
Wenn die Mädchenbildung des 19. Jahrhunderts großen Wert auf Fertigkeiten im Nähen legte, bildete dies den Grundstock für eine „doppelte Literazität“ (dual literacy), sollten doch die Frauen die Kleidungsweisen der Gesellschaft „lesen“, das heißt auf die repräsentierten Bedeutungen hin verstehen können. Weibliche fiktionale Charaktere demonstrieren durch die Einhaltung oder den Bruch von Kleidungsnormen ihr Selbstverständnis und damit auch Möglichkeiten der Selbstermächtigung innerhalb der viktorianischen Gesellschaft. Wie Battisti u. a. an einem Autor wie Wilkie Collins zeigt, kann allein schon die Farbsymbolik weiblicher Kleidung im Roman der Kritik an einer Institution wie der Ehe dienen, also im damaligen Zusammenhang der Unterordnung der Gattin unter den Ehemann, dem nach viktorianischem Recht die alleinige Verfügung über den Besitz der Ehefrau zustand. Doch auch die Probleme männlicher Identitäten spiegeln sich in der Literatur im Phänomen der Kleidung. Wie an Thackeray und Dickens demonstriert, ließ sich anhand der Kleidung fiktionaler Protagonisten insbesondere das schwankende Gentleman-Ideal in seiner zeitgenössischen Widersprüchlichkeit kommentieren. Der Gentleman musste als solcher erkennbar sein, aber ein Aspekt des Gentleman-Ideals lag im Verzicht auf die ostentative Zurschaustellung von Äußerlichkeiten. Nicht Flamboyanz, sondern kleine Zeichen der Distinktion kennzeichneten daher die männliche Selbstdarstellung. Zugleich spiegelte die Kleidung die soziale Mobilität der Gesellschaft, denn das Gentleman-Ideal war nicht eindeutig definiert und schuf Raum für widersprüchliche Erfahrungen von Aspiration und Zurückweisung. So erlaubt es die Gegenüberstellung der Anzüge einzelner Protagonisten und ironischer Kommentare Dickens in Great Expectations, Vorstellungen des wahrhaften Gentleman vom Möchtegern-Gentleman zu unterscheiden, ohne in theoretische Erörterungen des Phänomens verfallen zu müssen. Auch Wandlungen innerhalb der Epoche erfasst Battisti. So erscheint das Phänomen des Möchtegern-Gentlemans besonders ausgeprägt in der Mitte des Jahrhunderts, während gegen dessen Ende der Dandy auftauchte, der Männlichkeit mit neuen ostentativen Formen der Selbstdarstellung verband.
Kleidung enthüllt somit in Battistis Blick gesellschaftliche Problemlagen, die Schilderung der Kleidung im Roman dient als deren Quelle und lässt sich zugleich als Kommentierung gesellschaftlicher Verhältnisse durch die Autorinnen und Autoren verstehen. Die anregende kleine Studie mit breitem Horizont überzeugt insbesondere durch die gründliche Einbettung der Romanlektüren in die theoretischen Perspektiven der fashion theory, die im ersten Teil des Buches übersichtlich vorgestellt werden. Allerdings wirft gerade dies auch Fragen auf. So findet keine systematische Analyse eines vorher definierten Romankorpus statt, sondern einzelne Szenen aus verschiedenen Romanen dienen der Auseinandersetzung mit den aus der Theorie gewonnenen Konzepten. Battisti bezieht sich auf ausgewählte Romane von Brontë, Dickens, Thackeray, Wilde, Collins. Andere vielgelesene Autorinnen und Autoren der Zeit, wie George Eliot, Trollope oder Gaskell, finden kaum Erwähnung. Indem zwar eine Reihe von Romanen unterschiedlicher Autorinnen und Autoren ausgewertet, allerdings keiner umfassenden Lektüre unterworfen wird, dienen ausgewählte Passagen der Plausibilisierung der theoretischen Ansätze – und in der Tat schärfen diese den Lektüreeindruck. Gleichzeitig leidet unter diesem Verfahren die Analyse innerliterarischer Verknüpfungen. Oft erführe man gerne mehr über die Stellung der kleidungsbezogenen Elemente innerhalb der breiteren Motivik des entsprechenden Romans, die Erzählhaltung könnte stärker berücksichtigt, das Verhältnis von Autorenstimme und Protagonisten systematischer problematisiert werden.
Selbst für die Repräsentation von Kleidung in einzelnen Romanen lässt sich dies sagen – Janes Erfahrungen in Millcote sind zwar eine Schlüsselszene des Romans, aber Kleidung und Mode spielen in vielen Passagen eine Rolle, die einen werkimmanenten Kontext herstellen, der von Battisti nicht eingehend untersucht wird. Eine anders gelagerte Studie hätte allerdings sicher nicht die Prägnanz und die konzentrierte Form erreicht, durch die sich Battistis Buch auszeichnet. Gerade weil es keine erschöpfende Analyse viktorianischer Literatur unternimmt, treten die Konturen einer modetheoretisch unterlegten Lektüre umso klarer hervor und laden zur weiteren Ausschöpfung der damit gewonnenen Deutungspotentiale ein. Die Schnittmuster für dieses Unterfangen gibt Battisti ihrem Lesepublikum in kompakter Form mit auf den Weg.
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