Eigenwillig, nicht nur mit der Orthographie
Michael Bauer hat eine kenntnisreiche Biographie Oskar Panizzas vorgelegt, flankiert von einem Lesebuch des Autors gemeinsam mit Christine Gerstacker
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer umtriebige Schriftsteller Oskar Panizza war nicht nur ein Außenseiter der Wilhelminischen Gesellschaft, sondern auch der Münchner Boheme. Zwar bewegte er sich um 1900 eine Zeitlang in deren Mitte. Doch wie Franziska zu Reventlow und Ludwig Scharf als ZeugInnen in einem Verfahren gegen Panizza um den Jahreswechsel 1903/04 erklärten, waren sie zu dieser Zeit die Einzigen, die in München noch mit ihm „verkehrten“.
Nun hat Michael Bauer, der sich bereits seit einigen Jahrzehnten mit dem Leben und Werk des radikalen Kritikers der katholischen Kirche befasst und damit wohl als dessen bester Kenner gelten darf, eine Biographie zu dem „späten Spätromantiker“ vorgelegt. Dem Band ist auch die Information über die Aussagen Reventlows und Scharfs entnommen. Seine Sympathien für den Autor und sein Werk verhehlt Bauer nicht, zögert aber auch nicht, an den „markantesten Widersprüchen“ des „Phantasten und Provokateurs“ Kritik zu üben, wo er sie für angebracht hält. Dass der Autor allerdings Panizzas Behinderung (er hatte einen nach innen verkrümmten Fuß) zur Erklärung, wenn nicht gar Rechtfertigung von dessen Besuchen bei Prostituierten heranzieht, ist selbst nicht zu rechtfertigen, sondern zumindest tendenziell sowohl frauen- wie auch behindertenfeindlich.
Bauers Biographie beginnt nicht, wie üblich, mit der Kindheit, sondern mit einer Inaugenscheinnahme des skandalösesten Werks dieses „Kämpfers des Wortes“, dem „Liebeskonzil“, einer „gezielten literarischen Provokation“, die Panizza nicht nur zur „umstrittensten Figur der Schwabinger Boheme“ machte, sondern ihm auch ein Jahr Einzelhaft einbrachte. Überhaupt befasst sich Bauer – zunächst zumindest – mehr mit dem Werk als mit der Biographie Panizzas, auf die er allerdings auch noch zu sprechen kommt, inklusive der Kindheit.
Auch leuchtet er die feindliche Übernahme Panizzas durch den Nationalsozialismus aus. Möglich wurde die postume Vereinnahmung zum einen aufgrund einiger antisemitischer Frühschriften Panizzas, sodann fanden die „Esoteriker unter den Nazis“ an seinen „antikatholischen und phantastischen Texten“ Gefallen, und schließlich hatten die Erben nichts dagegen einzuwenden, dass ein Text Panizzas in der Münchner Beilage des Völkischen Beobachters veröffentlicht wurde. Überhaupt erlangte sein Werk unter der Herrschaft der Nazis „eine Auflagenhöhe“, von der er zu Lebzeiten „nie zu träumen gewagt hätte“. Wie sich versteht, allerdings nur in „sprachlich und ideologisch bereinigter“ Form.
Ist Panizza ein „Unikum der europäischen Literaturgeschichte“, das zu Lebzeiten für seine an der gesprochenen Sprache fränkischer Mundart orientierte Orthographie bekannt und berüchtigt war, so schreibt auch Bauer in einem sehr eigenen, nicht immer ganz eingängigen Stil, allerdings nicht hinsichtlich der Orthographie , sondern des Satzbaus. Wichtiger aber ist, dass er zahlreiche Archivalien, namentlich Briefe auswertet und somit einiges Neues über den „Schriftsteller zwischen protestantischem Naturalismus und anarchistischem Individualismus“ zu bieten hat.
Wer sich allerdings selbst ein Bild von Panizzas literarischem Wirken machen will, kann dies nun ebenfalls leicht tun. Denn Bauer hat gemeinsam mit Christine Gerstacker eine Reihe von dessen Texten zu einem Lesebuch zusammengestellt. Selbstverständlich behält es die eigenwillige Orthographie des Autors bei. Zwar verzichten die HerausgeberInnen bedauerlicherweise auf einen einleitenden Text und ein Nachwort. Doch immerhin haben sie Panizzas Texte mit erläuternden Fußnoten versehen. Auch wird der Band ebenso wie die Biographie durch zahlreiche Bilder, darunter etliche Zeichnungen Panizzas, bereichert.
Das Lesebuch ist in die vier Abschnitte „Exil im Wahn“, „München“, „Das Liebeskonzil“ und „Frauen“ gegliedert. Sie enthalten autobiographische Schriften zu wichtigen Stationen im Leben Panizzas und natürlich sein bedeutendstes Werk. Der erste Teil vereint die beiden Texte Ein Bischen Gefängnis und Ein Bischen Irrenhaus – und der Weg dorthin. Der zweite, München gewidmete Teil bietet wiederum zwei Texte, unter ihnen Abschied von München, ein Handschlag. Im dritten Abschnitt wird Das Liebeskonzil von einigen weiteren kürzeren religionskritischen Texten umrahmt. In den abschließenden Teil wurden neben drei teils frühen Schriften unterschiedlicher Textsorten Briefe an Anna Croissant-Rust und Franziska zu Reventlow aufgenommen. Außerdem der Reventlow gewidmete Essay Die Schleswig-Holstein’sche Venus, in dem sich Panizza gleich zu Beginn in einer erotischen Männerphantasie ergeht. Die HerausgeberInnen unterstützen das durch die Beigabe eines Aktfotos des „tapfere[n] Vollweib[s]“.
In einem Brief an Croissant-Rust vom 9. Januar 1900 berichtet Panizza der naturalistischen Schriftstellerin, Reventlow habe „wieder einen fürchterlich frechen Aufsatz“ geschrieben und zwar „für den III. Jahrgang der Diskußjonen“. Erschienen sind ihre beiden dort publizierten Aufsätze allerdings bereits im ersten und zweiten Jahrgang 1898 und 1899. Das macht Panizzas Bemerkung kommentarbedürftig. Die HerausgeberInnen schweigen jedoch dazu. Aus den Briefen an Reventlow geht weiter hervor, dass Panizza sie Ende 1901 um einen Artikel „Über die artistische Erziehung der Menschheit“ bat. Über eine eventuelle Reaktion ihrerseits ist nichts bekannt. Erschienen ist der Artikel, so er denn geschrieben wurde, jedenfalls nicht. Vielleicht aber hat ihr Nachlassmanuskript Erziehung und Sittlichkeit hier seinen Ursprung. Sein Inhalt allerdings passt nicht wirklich zu dem von Panizza erbetenen Thema.
Beide Bücher, die Biographie und das Lesebuch, rufen den kirchenkritischen Berserker des Wortes zur rechten Zeit in Erinnerung und könnten somit dazu beitragen, dass Panizzas hundertster Todestag am 28 September 2021 nicht völlig stillschweigend übergangen wird.
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