Eine Wahnsinnsgeschichte

Was passieren kann, wenn man sich weigert, eine Niederlage zu akzeptieren

Von Johanna SchwiedergollRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johanna Schwiedergoll

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein professioneller Ringer mit Taucherfahrung und ein siebenarmiger Oktopus treffen in einem Aquarium aufeinander. Wer gewinnt den unausweichlich entstehenden Kampf? Das fragt sich Elias Coehorn junior, der sich für den Ringer entscheidet – und damit für die Verliererseite. Das Ergebnis bekommt Coehorn junior aber gar nicht mehr mit. Er steht zusammen mit den anderen Zuschauern tatenlos vor dem Aquarium und beobachtet den Todeskampf, als er plötzlich von zwei Bodyguards seines Vaters vom Schauplatz entfernt und in dessen Büro geschleift wird. Dort erhält er von Coehorn senior den Auftrag, einen gerade – man befindet sich im Jahr 1938 – im Dschungel von Honduras entdeckten Maya-Tempel nach New York zu holen. Coehorn junior bildet damit den Kopf einer Expedition, die sich die „New Yorker“ nennt.

Eine andere Expedition mit demselben Reiseziel, aber gänzlich unterschiedlicher Motivation, wird von Jervis Whelt geleitet. Der junge Regisseur wurde vom Direktor von „Kingdom Pictures“ beauftragt, den besagten Tempel als Kulisse für einen Film namens Herzen in der Finsternis zu nutzen. Dafür braucht Whelt natürlich einen vollständig erhaltenen Tempel. Dieser ist aber, als er und seine Crew – genannt die „Angelenos“ – im Dschungel ankommen, von Coehorn junior und seinen Arbeitern schon zur Hälfte abgebaut worden. Damit nimmt der Wahnsinn seinen Lauf: Statt sich auf eine Lösung des Problems zu einigen, schlagen die beiden Expeditionsgruppen am Tempel Lager auf. Sie beschließen, nicht nachzugeben und zu bleiben – 20 Jahre lang.

Während in den folgenden Jahren der Zweite Weltkrieg wütet, installieren die Expeditionen nichtsahnend und isoliert im Dschungel eine Regierung mit wechselnden Machthabern, ein Wirtschafts- und Handelssystem mit eigener Währung und entwickeln Strategien zur Nahrungs- sowie Materialbeschaffung. Dem demografischen Wandel wird vorgebeugt, indem eifrig Kinder gezeugt werden. Auch von außen bekommen die Truppen Zuwachs: Ein deutscher Soldat flüchtet vor ein paar rachesuchenden Bauern, kommt bei den New Yorkern unter und leitet schlussendlich deren Lager. Im Laufe der Zeit gibt es aber auch immer wieder Verluste zu beklagen, sei es der Altersschwäche, Unfällen oder dem Verstoß eines intrigierenden New Yorkers geschuldet.

Erzählt wird Warum der Wahnsinn einer Niederlage vorzuziehen ist in Tagebuch-ähnlichem Stil von Mr. Zonulet, einem ehemaligen Journalisten, dessen konkreter Bezug zur Angelegenheit vorerst unklar ist. Im Jahr 1959, in dem Zonulet anfängt, Tagebuch zu führen, arbeitet er als CIA-Agent. Warum er seinen Beruf wechselte, bleibt ein Rätsel – wie so vieles, was im Laufe der äußerst komplexen und verschachtelten Handlung geschieht. Um zu erklären, wie der Ich-Erzähler eigentlich wissen kann, wie die Camper am Tempel gelandet sind und was dort vor sich geht, muss man etwas vorgreifen: Als er dem Tempel dann doch einmal einen Besuch abstattet, atmet Zonulet in einer Schatzkammer die Sporen eines Pilzes ein, die ihm hellseherische Fähigkeiten verleihen. Damit weiß er über alles Bescheid, das jemals mit diesem Tempel und seinen Anwohnern zu tun hatte, hat oder haben wird. Ob man diese Erklärung glauben möchte, bleibt jedem Leser selbst überlassen. Alternativ könnte man auf ein Interview-Kapitel mitten im Roman zurückgreifen. Hier erklärt ein Psychiater Zonulet, dass dieser aus Versehen eine Überdosis einer experimentellen Droge des Geheimdienstes eingenommen habe, sich seitdem in einer Katatonie befinde und alles, wovon er berichtet hat, erfunden sei. Dieser Dialog findet im weiteren Verlauf keine Erwähnung mehr und bleibt einer der vielen Handlungsstränge, die ins Leere laufen.

Dem Verständnis der ohnehin schon verwirrenden Handlung kaum dienlich sind die zahlreichen Zeit-, Orts- und Perspektivenwechsel. Mal wird man Zeuge eines Gesprächs zwischen Zonulet und seinem Partner bei der CIA, ein anderes Mal erlangt man Einblicke in die inzestuöse Beziehung einer New Yorkerin, die nie versendete Briefe an ihre Geliebte schreibt. Derweil stolpert man auch über eine Anleitung zur Herstellung von Filmrollen aus Tapirknorpel. Irgendwann gibt man schließlich den Versuch auf, Zusammenhänge zu finden, und nimmt es einfach so hin, wie es eben kommt. Sobald aber dieser Punkt erreicht wird, kann man nicht anders, als den Wahnsinn zu genießen, von dem der Autor in seinem Roman erzählt.

Ned Beauman, geboren 1985, ist selbst in journalistischen und literaturkritischen Feldern tätig und begann 2010 erfolgreich mit der Veröffentlichung von eigenen Büchern, die seinen Namen auf diverse Long- und Shortlists brachten. Mit dem 2012 veröffentlichten Roman The Teleportation Accident gewann er zwei Preise. Diese Schreiberfahrung merkt man seinen Texten deutlich an: Beauman wirft mit Metaphern, Vergleichen und Motiven um sich, die vor dem inneren Auge sehr anschauliche Bilder malen und in ihrer Absurdität dem aufgeschlossenen Leser den einen oder anderen lauten Lacher entlocken. Zudem scheut er sich nicht davor, sich auch mal selbst auf den Arm zu nehmen. So teilt beispielsweise eine Kollegin Zonulet mit, dass sein Tagebuch – also das Buch, das der Leser in den Händen hält – ein „Fluch“ sei. Es sollte ihrer Meinung nach ein Personenregister auf dem Einband geben, denn sie wolle nicht „zehntausend“ Seiten zurückblättern müssen, um herauszufinden, wer ein Mann ist, der anfangs nur nebenbei Erwähnung findet und am Ende die Rettungsmission leitet.

Durchgehend bewegt sich Beauman mit seiner Wortwahl an der Grenze zum Vulgären, ohne sie je zu übertreten. Damit ist der Stil erfrischend unbeschwert und auf belustigende Art schockierend ehrlich. An dieser Stelle muss die Übersetzerin, Marion Hertle, gelobt werden. Sie hat es vollbracht, den außergewöhnlichen Schreibstil Beaumans beizubehalten und selbst Wortwitze gekonnt und fließend in die deutsche Sprache zu transportieren.

Die Tatsache, dass in den seltensten Fällen auf die Gedanken und Gefühle der unzähligen Figuren eingegangen wird, verhindert den Aufbau einer Beziehung zwischen ihnen und dem Leser sowie die Möglichkeit, sich mit ihnen zu identifizieren. Dagegen wird auf diese Weise der Eindruck gefördert, dass die Figuren allesamt nicht in der Lage sind, Empathie für ihre Mitmenschen zu empfinden. Die Kälte und Teilnahmslosigkeit, mit der Beauman beziehungsweise Zonulet von Gewalt berichten, ist stellenweise verstörend. Angesichts des Romanumfangs hätte man durchaus auf einige der nichtssagenden, expliziten Darstellungen verzichten können.

Allgemein mangelt es der Handlung an jeglicher Form von Entwicklung. Obwohl man sich dabei amüsiert, hat man meistens das Gefühl, auf der Stelle zu treten. Eine Rede aus dem Originaldrehbuch von Herzen in der Finsternis stellt am Ende die Frage, über deren Antwort sich wohl jeder Leser den Kopf zerbricht:

Weißt du, was deine alten Kumpels über dich sagen? Sie sagen, dass du durchgeknallt sein musst, völlig durchgeknallt, wenn du schon so lange hier bleibst, wo kein weißer Mensch leben sollte. Lieber Himmel, du hast doch deinen Spaß gehabt. Warum kommst du nicht einfach nach Hause?

Warum ergreifen die Tempelanwohner keine Maßnahmen, die sie in irgendeiner Weise voranbringen und eine Abreise ermöglichen würden? Warum gehen sie nicht einfach nach Hause? Bis kurz vor Schluss wird dem Leser ein triftiger Grund vorenthalten; durchgehend ist der Antrieb der Angelenos, dass sie unbedingt ihren Film drehen müssen – das ist sogar für die im Camp aufwachsenden Kinder das höchste Gebot. Da die Angelenos auf den Tempeltreppen hausieren, können die New Yorker den Tempel nicht weiter abbauen – sie bleiben also auch. Mitglieder beider Gruppen scheinen sich zwischenzeitlich aber darüber Gedanken zu machen, warum sie in diesem „Irrenhaus“ bleiben. Gegen Ende werden dem Leser mehrere ihrer Theorien unterbreitet, die  alle einen Grundgedanken gemein haben: Der Tempel hat die unfreiwilligen Anwohner in seinen Bann gezogen und in den Wahnsinn getrieben. Mit dieser Auslegung muss man sich zufrieden geben – eine andere gibt es nicht.

Auf den letzten Seiten werden die Tempelanwohner „gerettet“: Zwei vermeintliche Rettungstrupps reisen mit kollidierenden Missionen in den Dschungel, was dazu führt, dass die beiden Gruppen sich über und durch die Köpfe der zu Rettenden bekriegen und es zu einem Blutbad kommt. Angesichts dessen stellt sich die Frage, ob von Anfang an eine Niederlage zu akzeptieren nicht vielleicht weniger bitter gewesen wäre. Irgendwie endet der Dschungelkrieg (der wie eine Nachahmung des Zweiten Weltkriegs wirkt, den die Camper verpasst haben) schließlich und die wenigen Überlebenden werden abtransportiert – aber nicht alle. Einige der Schauspieler von Herzen in der Finsternis sind über die Jahre derart mit ihren Rollen verschmolzen, dass sie als die Figuren, die sie darstellen, im Dschungel weiterleben.

Ein Happy End gibt es demnach nicht, was man aber auch nicht erwartet. Während der Leser mit zunehmend ungläubiger werdendem Gesichtsausdruck, der des Öfteren von einem leicht verwirrten Lachen unterbrochen wird, die Handlung zu verfolgen versucht, wird ihm schnell bewusst, dass er hier nichts zu erwarten hat und sich glücklich schätzen kann, einfach nur dabei zu sein. Beauman lenkt mal hierhin, mal dorthin, lässt seine Figuren völlig Unbegreifliches zustande bringen und erschüttert die Vorstellung von Rationalität seiner Leserschaft in ihren Grundmauern. Eine Tatsache ist jedoch unerschütterlich: im wahrsten Sinne des Wortes ist Warum der Wahnsinn einer Niederlage vorzuziehen ist eine „Wahnsinnsgeschichte“.

Titelbild

Ned Beauman: Warum der Wahnsinn einer Niederlage vorzuziehen ist. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Marion Hertle.
Tempo Verlag, Hamburg 2018.
476 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783455004168

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