Öfter als die Schuhe die Länder wechselnd
Wolfgang Benz legt die große „Geschichte einer Vertreibung 1933–1945“ vor
Von Irmela von der Lühe
Bertolt Brecht hat es 1939 in seinem Gedicht An die Nachgeborenen poetisch und historisch auf den Punkt gebracht. Tatsächlich und zu Recht wurde der seit Februar 1933 einsetzende Exodus aus dem nationalsozialistischen Deutschland von Zeitgenossen und Nachwelt als historisch einmalig erlebt. Er betraf politische Gegner des Regimes, vor allem aber betraf er Jüdinnen und Juden, die unabhängig von ihrer politischen Einstellung zu Verfolgten im eigenen Lande wurden. Kaum jemand hat die Geschichte, die Umstände und die Folgen des Exils so umfassend und detailliert erforscht wie Wolfgang Benz; in einer ebenso differenzierten wie anschaulichen Darstellung hat er nun eine Bilanz seiner Forschungen vorgelegt. Zahlen, Fakten, Personengruppen und exemplarische Geschichten bilden das Gefüge einer Gesamtdarstellung des deutschsprachigen Exils, die sich als wissenschaftliches Kompendium, systematisches Nachschlagewerk und zugleich als Sammlung von Einzelschicksalen mit existenzieller Dramatik lesen lässt.
Die Gesamtzahl der seit 1933 aus Deutschland ausgewanderten bzw. in die Flucht getriebenen Personen lag – so erfährt man bei Benz – bei annähernd einer halben Million; mehr als die Hälfte von ihnen jüdischer Herkunft. Im Gesamtgebiet des Deutschen Reiches lebten 1933 ca. 530.000 Menschen jüdischen Glaubens; also Personen, die sich durch ihre Religion und ihre Zugehörigkeit zu einer jüdischen Gemeinde als Juden definierten. Zu diesen sog. „Glaubensjuden“ wurden nach den Nürnberger Gesetzen (1935) auch noch solche Personen hinzugerechnet, die allein aufgrund der nationalsozialistischen „Rassekriterien“ als jüdisch galten; völlig unabhängig davon, ob sie bereits seit mehreren Generationen getauft waren oder überhaupt einer Religion angehörten. Und noch eine Zahl muss genannt werden: Die erwähnten 530.000 „Glaubensjuden“ bildeten 0,76% der Gesamtbevölkerung; knapp 170.000 von ihnen lebten 1933 in Berlin; zehn Jahre später,1943, waren es noch 18.315.
Man mag die Zahl von ca. einer halben Million Emigranten und Emigrantinnen aus Deutschland seit 1933 angesichts der Größenordnung heutiger Migrations-, Flucht- und Vertreibungsprozesse (das statistische Bundesamt spricht für 2024 von 304 Millionen Migrantinnen und Migranten weltweit) für harmlos halten. Für die damaligen Verhältnisse und das damalige Bewusstsein waren sie indes atemberaubend. Regierungen und Politiker, selbst der Völkerbund zeigten sich alarmiert. Auf Initiative des amerikanischen Präsidenten Roosevelt versammelten sich vom 6.–15. Juli 1938 Vertreter von 32 Nationen in Évian auf der französischen Seite des Genfer Sees, um über Aufnahmequoten für die deutschen Juden und Jüdinnen zu verhandeln. Die ehrenwerte diplomatische Initiative brachte keinerlei Ergebnis, hingegen die Beteuerung vieler Staaten, man sei kein Einwanderungsland. Triumphierend berichtete der Völkische Beobachter, niemand in der Welt wolle die deutschen Juden haben.
Zum Kreis der Personen, die seit 1933 aus Deutschland vertrieben wurden, gehörten nach politischer Gesinnung oder Abstammung Bedrohte aus allen Schichten, Berufs- und Altersgruppen; darunter konservative Ärzte und sozialdemokratische Ärztinnen, Juristinnen und Juristen, liberale Redakteure und Journalistinnen, pazifistisch gesinnte Künstler und avantgardistische Künstlerinnen, Gewerkschafter und sozialdemokratische Arbeiter und Arbeiterinnen, ‚kleine Leute‘ und prominente Politiker und Politikerinnen. Für das künstlerisch-literarische und das wissenschaftliche Exil geht man von annähernd 11.500 Personen aus, darunter 2000 aus den Hochschulen, 2500 aus dem Bereich von Literatur und Presse, 6000 aus dem Bereich von Theater und Film. Ein Blick auf die Disziplinen und die Namen lässt erkennen, dass im Grunde die Weimarer Kultur als Ganze betroffen war.
Mit Fakten und Zahlen, bürokratischen und autobiographischen Materialien, mit publizistischen und literarischen Zeugnissen unterlegt Wolfgang Benz seine Darstellung, die nach einem ersten Kapitel über „Politische Emigration im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik“ (S. 15–37) in acht weiteren großen Abschnitten zunächst die „Flucht vor der nationalen Revolution“ (S. 39–67), sodann die „Vertreibung durch Diskriminierung“, also die „Jüdische Auswanderung 1933–1938“ (S. 67–106) nachzeichnet; es folgt sachlich und methodisch überzeugend ein großer Abschnitt über die „Orte des Exils“ mit genauen Schilderungen der je unterschiedlichen Bedingungen im europäischen und überseeischen Exil, der Situation für Flüchtlinge bis zum „Anschluss“ Österreichs und der Annexion des Sudentenlands, schließlich in den Metropolen Paris und London; gefolgt von einlässlichen Schilderungen der Exilbedingungen in New York, Buenos Aires, Shanghai und Australien, nicht zu vergessen die besonderen Verhältnisse für das Exil in Moskau bzw. in Palästina (S. 107–200). Ein eigenes, wiederum materialreich gestaltetes Kapitel zeichnet unter der Überschrift „Kindertransporte“ (S. 201–233) Rettungsversuche nach, die jüdischen Kindern und Jugendlichen galten; es schildert Vorbereitungsmaßnahmen und Umstände der Jugend-Alija, verdeutlicht exemplarisch Schicksale wie diejenigen der „Cedar-Boys“, einer Gruppe von 21 jüdischen Jungen, die mit Hilfe des Frankfurter Ehepaars Steinhardt Aufnahme in England fand (S. 207ff). Die Kindertransporte nach Großbritannien (1938/39) werden ebenso detailreich beschrieben wie Leben und Werk jener Frau, deren Name sich mit der Rettung jüdischer Jugendlicher, vor allem aber polnischer Kinder und Frauen verbindet: Recha Freier (1892–1984).
In welchem Maße Exil und Flucht durch unberechenbare, willkürlich agierende Behörden und Institutionen determiniert sind, in welchem Maße dennoch einzelne Personen und Hilfsorganisationen Rettung möglich machten, wie dramatisch aber vor allem die „Alijah Bet“, die illegale Einwanderung nach Palästina, verlaufen konnte, davon berichtet Wolfgang Benz im 6. Kapitel; auch hier wieder im Rückgriff auf einzelne Schicksale und unter Verwendung autobiographischer Erzählungen (S. 235–262). Die Kontingentierung der Palästina-Einwanderung durch die britische Mandatsregierung und die fortgesetzten Versuche jüdischer Überlebender, dennoch nach Eretz Israel zu gelangen, sollte mit der „Irrfahrt der Exodus“ (S. 260–262) im Juli 1947, also zwei Jahre nach dem Sieg über das nationalsozialistische Deutschland, einen grotesken Höhepunkt erreichen; ein dramatisches Geschehen, das – wie Wolfgang Benz zu Recht unterstreicht – auch anzeigt, dass Begriffe wie Exil und Emigration für Juden und Jüdinnen aus Deutschland und Mitteleuropa kaum mehr adäquat waren, ging es doch um Alija, um den „Aufstieg“ nach Israel (S. 262).
Über „Fiktion und Realität“, also über die literarische Reflexion der Exilerfahrung, berichtet das anschließende Kapitel (S. 263–292); es liefert eine knappe Literaturgeschichte des Exils, resümiert große und weniger bekannte Texte und Autoren und Autorinnen: darunter neben Lion Feuchtwanger, Heinrich und Thomas Mann, Anna Seghers und Ernst Toller vor allem den erst im Jahre 2022 publizierten „Klassiker“ der Exilliteratur, nämlich Grete Weils 1944 für die Schublade geschriebenen Roman „Der Weg zur Grenze“ (S. 289–292).
Bis in die letzten Kapitel hinein („Rückkehr aus dem Exil“, S. 293–341; „Wann endet das Exil“, S. 344–355) bewährt sich das Darstellungsverfahren, das Wolfgang Benz für das gesamte Buch gewählt hat: Grundlageninformationen zu den Bedingungen, die das Exil erzwangen, die man anschließend in den meist unter großen Schwierigkeiten erreichten Aufnahmeländern vorfand, die sich seit 1938 und mit Beginn des zweiten Weltkriegs in den von Hitler überfallenen Ländern insbesondere für die jüdischen Emigranten und Emigrantinnen verschärften; all diese „harten Tatsachen“ finden ihre Konkretisierung, Veranschaulichung und damit ihr tatsächliches historisches Gesicht in der Porträtierung von Einzelschicksalen – und hier vor allem von Frauen und Männern, denen Wolfgang Benz bereits mit seinem 1991 herausgegebenen, wegweisenden Band Das Exil der kleinen Leute. Alltagserfahrungen deutscher Juden in der Emigration eine Stimme gegeben hatte. Der einseitigen Orientierung der frühen Exilforschung der DDR und der BRD an prominenten Namen aus Wissenschaft, Kultur und Politik bzw. an Parteifunktionären und politischen Bewegungen ist er schon seinerzeit entgegengetreten. Die nun vorliegende Gesamtdarstellung ist freilich noch einem anderen, weitreichenden und zugleich höchst aktuellen Anliegen verpflichtet: nämlich die Geschichte des Exils 1933–1945 als ein Lehrstück zu schreiben, das den inzwischen mehr und mehr abgeschwächten, für das Selbstverständnis der 1949 entstandenen Bundesrepublik indes zentralen Grundgesetz-Artikel „Politisch Verfolgte genießen Asyl“ in seinen historischen und aktuellen Dimensionen ins Bewusstsein heben will. Der populistischen Behauptung eines früheren Innenministers aus dem Jahre 2018, Migration sei für das gegenwärtige Deutschland und auch für Europa die „Mutter aller politischen Probleme“ und dem im Herbst 2023 bekannt gewordenen Masterplan rechtsradikaler Kreise zur Vertreibung aller Migranten und Migrantinnen und damit der Umcodierung von ,Remigration‘ zu einem aggressiven Kampfbegriff begegnet Wolfgang Benz mit einer Studie, die Flucht, Exil und Vertreibung 1933–1945 als kollektive und als individuelle Erfahrung nachzeichnet und deren Vermächtnis zum historisch-politischen Selbstverständnis des wiedervereinigten Deutschland gehört hatte. Ausgelöst von völkisch-antisemitischen Reinheitsvorstellungen, begleitet von nationalstaatlicher Borniertheit und inhumaner Behördenwillkür, liefert die Geschichte des Exils aber auch Beispiele für Widerstand und Rettung, für humanes Handeln und für Möglichkeiten und Chancen von Integration und Akkulturation.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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