Retten Nerds die Welt?

Sibylle Berg auf Streifzug in den Spezialdiskursen der Gegenwart

Von Sarah MaaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sarah Maaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit ihrem neuen Buch legt Sibylle Berg eine Textsorte vor, deren Status zwischen Dokumentarliteratur, Wissenschaftsjournalismus und textgenetischem Epitext bzw. Paralipomena changiert. Nerds retten die Welt ist eine Zusammenstellung von – im Untertitel als „Gespräche“ bezeichneten – Interviews mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Disziplinen, insbesondere (aber nicht nur) solchen an der Schnittstelle von Wissenschaft und (Digital- bzw. Computer-)Technologie: Zu Wort kommen etwa System- und Neurobiologen, PolitikwissenschaftlerInnen, Professoren für Sensomotorische Systeme und Computational Social Science, Männlichkeits- und Gewaltforscher, medizinische Subdisziplinen, die Mediensoziologie,  Meeresökologie und Kognitionswissenschaft. Die stets gleiche Ausgangsfrage („Haben Sie sich heute schon um den Zustand der Welt gesorgt?“) markiert den Anlass der Gespräche, die im Fortgang die Gründe für die umfassende Krisenakkumulation der Gegenwart eruieren und Interventionsmöglichkeiten sondieren. Die Besorgnis erregenden Symptome, die in Summe die Gegenwart ‚entsichern‘ (so der Soziologie Wilhelm Heitmeyer im Gespräch), sind vielfältig und reichen vom Wiedererstarken nationalistisch-autoritärer Bewegungen über Big Data-basierte Überwachung, strukturellen Rassismus, global persistierende Misogynie und kapitalistische Fleischwirtschaft, bis hin zu kollektiven Gefühlslagen und Sozialpathologien. 

Sowohl die paratextuelle Rahmung der Gespräche als auch die teils thesenartigen, ja suggestiven Fragen Bergs, legen dabei einen übergeordneten Widerspruch nahe: den zwischen Verstand und Dummheit, Wissen und Gefühl. So sehr diese lapidare Dichotomie, deren kulturpessimistische Implikationen in den Gesprächen selbst reflektiert werden, dem existenzialistisch-sarkastischen Berg-Sound zugeschlagen werden muss, so wenig handelt es sich dabei um Manierismus, sondern vielmehr um eine Haltung, die in unversöhnliche, jeden Dialog mit besorgten Bürgern statt WissenschaftlerInnen verweigernde Fragen mündet: „Gelingt es Ihnen, die momentane politische Entwicklung – hin zu sich absichtlich idiotisch stellenden Diktatoren, gesponsert von neoliberalen Kräften, zur Wissenschaftsfeindlichkeit im Namen des Wählers – auszublenden, oder bekommen Sie das mit, und wie sehr beleidigt es Ihren Verstand?“. Eben diese Wissenschaftsfeindlichkeit und ihre Rolle in genannter Krisenkonstellation bilden einen dominanten Fluchtpunkt der Gespräche.

Die Gesprächssammlung als Genre ist eher aus dem Journalismus bekannt und als solche lässt sich Bergs Textkompilation durchaus lesen, zumal die poetologische Reflexion und der Grad der literarischen Verarbeitung des Gesprächsmaterials denkbar gering sind – im Unterschied beispielsweise zu Kathrin Rögglas Essay- und Dramentext-Sammlung Besser wäre: keine von 2013. Deren Programm (die literarische Analyse unserer ‚katastrophenfilmähnlichen Realität‘) ist dem von Nerds nicht unähnlich und auch bei Röggla spielt das Gespräch mit ExpertInnen (z.B. Katastrophensoziologen, Entwicklungshelfern, Agraringenieuren) und VertreterInnen bestimmter Berufsgruppen eine zentrale Rolle; es bildet die Grundlage für essayistische Reflexion, das Material für dokumentarliterarische Kurzdramen sowie Prosastücke und wird als literarischer „Prozess, der die eigene Position verändert“, poetologisch reflektiert – auch im Hinblick auf seine literarische Genealogie, insbesondere unter Rekurs auf Hubert Fichtes Geschichte der Empfindlichkeit. Bei Bergs Gesprächssammlung ist dies zwar nicht der Fall, dennoch ist der Band mehr und anderes als eine journalistische Textsorte, entstammen die Gespräche – wie bereits die Buchgestaltung und der dem Haupttext nachgestellte Klappentext verraten – doch dem Entstehungsprozess von Bergs letztem Roman GRM. Brainfuck. Sie dokumentieren die „Forschung im Vorfeld eines Buchs oder Stücks“, die – wie wir im Gespräch mit der Künstlerin Lynn Hershman Leeson erfahren – die Autorin „mehr [erregen] als die Umsetzung, das Zusammenkochen von all den Informationen, ihre Transformation in Kunst“. Als Sammlung derartiger Forschungsergebnisse ist Nerds tatsächlich mehr als ein verlegerischer Schachzug zur Verwertung von Paralipomena oder ein die Neugier befriedigender Einblick in die Schreibwerkstatt einer schillernden Autorinnenfigur – nämlich eine wissenschafts- und medienpolitische Stellungnahme vor dem Hintergrund einer globalen Lage, die der mediopolitische Diskurs mit den Schlagworten von Postfaktizität und Rechtspopulismus charakterisiert. Bergs Gespräche sind Problematisierungen dieser Schlagworte, Differenzierungsversuche und Ursachenforschung; sie laden ein zu einer Suche nach Einsatzpunkten widerständiger Strategien sowie zur Reflexion unterschiedlicher Taktiken und Projekte, mit denen Bergs GesprächspartnerInnen von der Wissenschaft aus in Politik und Gesellschaft zu intervenieren suchen. 

Schon für sich genommen bietet Nerds daher eine Plattform, von der aus man sich im diffizilen Netz der Spezialdiskurse und im Hypertext des Internets verlieren und inspirieren lassen kann – gerüstet mit Smartphone und QR Code-Scanner, denn jedes Gespräch verlinkt Passagen, Begriffe oder Namen qua Code mit Webseiten (Wikipedia-Einträgen, Homepages von Initiativen, Projekten oder Personen, Zeitungsartikel u.a.). Seinen besonderen Mehrwert gewinnt das Buch jedoch in der Parallellektüre mit GRM. Der Etikettierung des Romans als düsterer Dystopie oder gar Warnung verweigert sich Berg im Interview mit dem Deutschlandfunk, wo sie auf dem Anspruch einer gewissermaßen ethnographischen Beobachtung und literarischen ‚Ausformulierung‘ gegenwärtiger Entwicklungen beharrt. Die Frage des Dystopischen beiseite gestellt: Als literarisches Experiment irritiert GRM den scheinbar wissenschaftsoptimistischen Anspruch von Nerds, wie er nicht nur im Titel zum Ausdruck kommt, sondern auch in der den Gesprächen nachgestellten Danksagung, die Berg an „alle, die für die Wissenschaft kämpfen“, richtet. Schon Bergs Fragen und ihr teils ironisch-belustigter Ton melden gelegentlich Zweifel an allzu (techno-)optimistischen Visionen an – etwa im Gespräch mit der Historikerin Hedwig Richter oder bezüglich Dirk Helbings Plädoyer für eine digitale Demokratie, deren diskursethischen Idealismus Berg mit der Frage quittiert: „Sie gehen da von jungen, IT-fähigen, gut ausgebildeten Menschen aus? Das sind vielleicht 10 Prozent der Weltbevölkerung“. Helbings Antwort „Das sollte eigentlich reichen“ führt ins Herz von GRM, das eine Gesellschaft entfaltet, in der sich digitale Regierungstechnologien und liberale Ideen wie das bedingungslose Grundeinkommen oder legalisierte Drogen hervorragend vertragen mit massiver sozialer Stratifizierung bzw. Spaltung. 

Nicht nur die experimentellen narrativen Konstellationen in GRM irritieren eine rein wissenschaftseuphorische Lesart von Bergs Gesprächssammlung, sondern auch die Figur des Nerds, die im Buch zuerst von der Pathologin Elizabeth Anne Montgomery beansprucht und von Berg ‚begeistert‘ aufgegriffen wird – als anziehendes Phantasma einer Subjektivierung, die sich durch fachliche, extrem spezialisierte Exzellenz, Menschenscheu und eine gewisse spleenige Affektivität  auszeichnet. Während  der Titel Nerds retten die Welt dem Nerd – bei aller Ironie – die Heldenrolle zuweist, taucht er in GRM explizit in zwei Varianten auf: als Hacker einer jugendlichen Aktivistengruppe, aber auch als Verkörperung einer neuen gesellschaftlichen Führungsschicht digitaler Technokraten, die sich aus Helbings „10 Prozent“ rekrutiert und die Figur des Nerds mit einer grundlegenden Ambivalenz ausstattet. Einer Expertokratie redet Nerds somit nicht das Wort, was nicht zuletzt darin zum Ausdruck kommt, dass sich der Band von der hegemonialen Figur des Experten absetzt, indem Disziplinen und innerhalb dieser Disziplinen kritische Positionen zu Wort kommen, die man im mediopolitischen Diskurs gemeinhin selten vernimmt. (Angesichts des Wissenschaftsoptimismus der Fridays oder gar Scientists for Future sind der ökologische Diskurs im Allgemeinen, die Klimaforschung und das Geo- bzw. Climate-Engineering sowohl in Nerds als auch in GRM allerdings unterrepräsentiert.)

Die Synopse von GRM und Nerds ist zudem aufschlussreich hinsichtlich der Interdiskursivität von Literatur und deren politischen Potenzials. Die Diskurs- bzw. Wissenspartikel reintegrierende Funktion von Interdiskursen im Allgemeinen und Literatur im Besonderen wird gelegentlich als synthetisierend-harmonisierende Zusammenführung verstanden, wo Ausdifferenzierung der Spezialdiskurse und Informationsexplosion eine solche versagen. Hubert Zapfs Kulturökologie beispielsweise spricht der Literatur als reintegrativem Gegendiskurs eine regenerative, ja Trauma aufarbeitende Funktion zu. Nerds wie GRM führen hingegen vor Augen, was Jürgen Link 2018 in seiner Studie Normalismus und Antagonismus in der Postmoderne. Krise, New Normal, Populismus betont: Die Kopplung oder Integration von Diskursen ist ein konfliktreiches Geschäft. Moderne Gesellschaften bilden ein normalistisch reguliertes, ‚friktiv gekoppeltes zyklologisches Kombinat‘, zwischen dessen Teilbereichen bzw. einzelnen Reproduktionszyklen  (des Wissens, der Ökonomie, der Technik, der sozialen und nationalen Strukturen, der Subjektivitäten etc.) antagonistische Störungen der Reproduktion aufbrechen, sich also (ir-)reversible Denormalisierungen ereignen können. Bergs Gespräche, insbesondere in ihrer Konzentration auf Verdatung und Kontrolltechniken, fokussieren eben solche Kopplungsstellen von Reproduktionszyklen; ihr Roman GRM überführt selbige in narrative Szenarien, in denen Antagonismen zum Tragen kommen –  etwa zwischen den Zyklen der Technologie und der Sozialstruktur anhand von robotikbasierter Automatisierung, zwischen dem Reproduktionszyklus der Geschlechter bzw. der Sexualität und dem des Kapitals, zwischen dem medialen und subjektiven, dem demographischen und ökonomischen Zyklus. 

Etwas ‚kulturpessimistisches Geraune‘ lässt sich an der einen oder anderen Stelle vernehmen – allerdings ohne Katastrophismus. Weder GRM noch Nerds sind dystopisch im Sinne eines Katastrophennarrativs, demzufolge die irreversiblen Denormalisierungen als das Abzuwendende erscheinen. Das Unbehagen, mit dem sowohl GRM als auch Nerds die Leserin zurücklassen, resultiert vielmehr aus Normalisierungsszenarien, aus der Möglichkeit einer Allianz von umfassender Verdatung und TechnoScience, die sowohl die Rache- und Widerstands-Akte der jugendlichen ProtagonistInnen im Roman als auch die wissenschaftlichen Interventionsversuche, die Nerds erkundet, ins Leere laufen lässt – und eine Gesellschaft formiert, die nichts weniger als gewaltfrei ist, aber alle Möglichkeitsräume der Revolte einhegt, ohne auf diktatorische Repression zurückgreifen zu müssen. Wo GRM diesbezüglich zum Fatalismus tendiert, regt Nerds retten Welt zum Denken an – und empfiehlt sich so der Lektüre. 

 

Literatur

Sybille Berg (2019): GRM. Brainfuck. Köln: KiWi.

Jürgen Link (2018): Normalismus und Antagonismus in der Postmoderne. Krise, New Normal, Populismus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Hubert Zapf (2015): „Kulturökologie und Literatur“. In: Gabriele Dürbeck et al. (Hg.): Ecocriticism. Eine Einführung. Köln/Weimar/Wien: Böhlau, S. 172-184.

https://www.deutschlandfunkkultur.de/sibylle-berg-ueber-ihren-neuen-roman-grm-was-mal-an.1008.de.html?dram:article_id=446029 [28.06.2020]

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Sibylle Berg: Nerds retten die Welt. Gespräche mit denen, die es wissen.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020.
336 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783462054606

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