Unzuverlässig engagiert

Der Sammelband „Frank Maria Reifenbergs Werke im literaturdidaktischen Fokus“ von Sebastian Bernhardt untersucht Erzählweise und Vermittlungspotenziale einer hintergründigen Kinder- und Jugendliteratur

Von Lucas AltRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lucas Alt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die thematische Bandbreite in Frank Maria Reifenbergs Schaffen ist vielfältig. Nicht nur verortet der 1962 geborene Kinder- und Jugendbuchautor einige seiner Erzählungen und Romane in historischen Kontexten wie die Jugendbuchreihe Die Schattenbande oder den Briefroman Wo die Freiheit wächst. Auch zeitgenössische Themen wie die Auseinandersetzung mit Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz (Projekt Lazarus. In den Fängen der KI) sowie diversitäts- und identitätspolitische Fragestellungen (zum Beispiel Herr K macht Wiau!) finden Eingang in Reifenbergs Arbeit.

Deutlich zeigt sich jederzeit ein engagiertes Schreiben, das einem kritischen Impuls folgt und in seinem poetologischen Programm auf die Aktivierung der Leser:innenschaft setzt. Dies arbeiten Sebastian Bernhardt und die Beiträger:innen seines Sammelbands gründlich heraus. Der Sammelband gliedert sich in fünf Abschnitte, die in ihrer Struktur von traditionellen literaturwissenschaftlichen bzw. -didaktischen Schwerpunkten zu aktuellen, kulturwissenschaftlich profilierten Forschungsdiskursen führen:

Während die Beiträge zur literatischen Sozialisation (A) eher den Charakter einer erweiterten Hinführung vom Autor zum Werk haben, erscheint das Kapitel zu narratologischen Besonderheiten (B) in Ausmaß und Tiefe geradezu als Grundlegung für die eher thematisch orientierten Beiträge der Folgekapitel. Reifenbergs Texte werden hier als spannungsreiche Denkaufgaben mit postmodernen Elementen ins Bild gesetzt, die ihre perspektivgebundene Konstruiertheit vielfältig ausstellen und somit stets die Vorläufigkeit erzählter Wirklichkeiten betonen. Die Beiträger:innen zeigen überzeugend, dass sich an den Texten Lenny unter Geistern, Identity X – Wer ist Boston Coleman? oder Projekt Lazarus. In den Fängen der KI aktives und kritisches Lesen einüben lässt, indem die dargebotenen Perspektiven hinterfragt und die genaue Wahrnehmung einer fragilen Informationsvermittlung geschult wird. Vor allem die Unzuverlässigkeit von Erzählinstanzen erweist sich als zentrales Kriterium eines Schreibens, das zum Selbstdenken führen will. Relevant sind diese didaktischen Zielsetzungen nicht zuletzt mit Blick auf grassierende Fake News in Sozialen Netzwerken. In dieser Hinsicht erscheinen einige von Reifenbergs Texten auch als Spiele oder Rätsel – deren Entschlüsselung ein ebenso akribisches wie lustvolles Lesen voraussetzt.

Die folgenden Abschnitte des Sammelbands sind deutlich kultur- bzw. medienwissenschaftlich profiliert. Neben Aspekten historischen Erzählens (C) werden problemorientierte Ansätze rund um das Themenfeld Identität und Diversität (D) sowie Merkmale von Serialität (E) verhandelt. In unterschiedlichem Maße sind die Beobachtungen der Beiträger:innen didaktisch eingebunden. Hier reicht das Spektrum von der literaturwissenschaftlichen Sachanalyse mit didaktischem Ausblick über die kontinuierlich didaktisch profilierte Betrachtung des Gegenstands bis hin zur didaktisch-methodischen Ausarbeitung als Unterrichts- oder Seminarplanung. Da keiner der Beiträge eine didaktische Dimension vermissen lässt, kann diese Vielfalt als gelungener Spagat zwischen fachwissenschaftlicher Fundierung, didaktischer Reflexion und praxisorientierter Nutzbarmachung von Reifenbergs Texten beschrieben werden.

Im Zentrum des Abschnitts zum historischen Erzählen steht der Jugendroman Wo die Freiheit wächst. Briefroman zum Widerstand der Edelweißpiraten. Kritisch werden dabei von Kirsten Kumschlies Authentifizierungsstrategien des Texts gegen Merkmale der Fiktionalisierung abgewogen. Überzeugend erscheint, dass Literaturunterricht im Umgang mit Texten, die sich zwischen Fakt und Fiktion ansiedeln, einerseits auf Realitätsbezüge hinweisen darf, etwa derart, dass jede Geschichtsschreibung sich in Narrationen realisiert, andererseits aber auch auf die Darstellungs- und Konstruktionsgebote der literarischen Verarbeitung eingehen muss. Zwei weitere Beiträge beschäftigen sich mit der unterrichtlichen Einbindung von Wo die Freiheit wächst – und lassen sich als praxisorientierte Ergänzungen zu Kumschlies’ Ausführungen lesen. Kritisch und verallgemeinerbar erscheint indes auch die Schlussfolgerung, die Sebastian Bernhardt und Johanna Tönsing zur postkolonialen Didaktisierung von An den Ufern des Orowango ziehen: Da es der Text, der von Menschenzoos um 1900 handelt, selbst offenbar nicht zu leisten vermag, seine Lesenden ausreichend zu irritieren und zumindest partiell in der hegemonial-weißen Perspektive verhaftet bleibt, sei es die Aufgabe von Schule und Didaktik, für ein hinreichendes „Aufstören“ zu sorgen. Dies sollte eigentlich selbstverständlich sein – mehr noch: Eine Literatur, die quasi ‚von selbst‘ Moralerziehung leistet, wäre wohl keineswegs wünschenswert. So gesehen ist es etwas schade, dass kritische Perspektiven auf Reifenbergs Werk im Sammelband insgesamt eher die Ausnahme darstellen.

Die Beiträge zu Diversität und Problemorientierung verhandeln Potenziale gendersensiblen Literaturunterrichts und einer Erziehung zu Toleranz und Vielfalt, wenn Diversität als Ergebnis gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse in Erscheinung tritt. Unter dem Gesichtspunkt gelingender Demokratieerziehung im Kindesalter mag die Wertschätzung von Unterschieden natürlich sinnvoll erscheinen, allerdings darf nicht über die Ausbeutungsdimensionen von Diversity hinweggesehen werden: Wenn Vielfalt als Ressource erscheint, wird sie bewirtschaftet werden – der Abbau von Gemeinsamkeiten zugunsten einer Ausdifferenzierung und Verhärtung von Unterschieden liegt daher allzu nah.

Abschließend widmen sich drei Beiträge Aspekten der Serialität und Metaserialität in Reifenbergs Werk, wobei der Fokus ganz klar auf der Jugendbuchreihe Die Schattenbande liegt, einer fünfteiligen Krimiserie, die im Berlin der 1920er Jahre angesiedelt ist. Thematisiert werden sowohl episodische Bezugnahmen als auch intertextuelle Verweisstrukturen, etwa zu Erich Kästners Emil und die Detektive. Jana Mikota und Nadine J. Schmidt stellen hier nicht zuletzt die spielerischen und motivierenden Potenziale intertextueller Strukturen heraus. Um Netzwerkstrukturen sichtbar zu machen, schlägt Yvonne Hörmann den Einsatz von Concept Maps vor.

Durch ein durchaus sympathisches Interview mit dem Autor, das den wissenschaftlichen Beiträgen vorangestellt ist, sowie die wiederkehrenden Bezugnahmen auf die literaturvermittelnden Tätigkeiten Reifenbergs, konzipiert sich der Sammelband als situiert und autorennah. Dies kann einerseits zum Vorteil ausgelegt werden, weil so intime Einblicke in schriftstellerische Arbeitsprozesse und poetologische Grundannahmen gegeben sowie Verbindungen von Wissenschafts- und Literaturbetrieb transparent gemacht werden. Kritisieren könnte man daran, dass eine gewisse Befangenheit gegenüber dem literarischen Werk seitens der Wissenschaftler:innen möglicherweise nicht ganz vermieden werden kann. Zwar erscheint eine derartige Verbündung mit dem Autor in der Kinder- und Jugendbuchforschung, zum Beispiel zugunsten einer intensivierten Lese- und Literatursozialisationsforschung, durchaus üblich – ist deshalb aber noch nicht gänzlich unproblematisch: Auch wenn Frank Maria Reifenberg in seiner hintergründigen Schreibweise dem entgegenzuwirken vermag, arbeitet eine intensive Kooperation zwischen Wissenschaft und Schriftsteller:innen einer Rehabilitierung des Autors als Autorität zu.

Insgesamt legen Sebastian Bernhardt und die Beiträger:innen einen äußerst interessanten und thematisch sinnvoll strukturierten Sammelband vor. Die narratologische Ausgangsbasis ermöglicht eine Erkundung zentraler Aspekte von Reifenbergs Schreibweise und hilft bei einer ertragreichen Didaktisierung der instabilen Textwirklichkeiten, die zwischen Spiel, Rätsel und Engagement ihre Wirkung als Impulsgeber moralischer Bildung und kritischen Denkens entfalten können.

Titelbild

Sebastian Bernhardt: Frank Maria Reifenbergs Werke im literaturdidaktischen Fokus.
Frank & Timme Verlag, Berlin 2023.
380 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783732909087

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