Ästhetik des Verfalls

Der preisgekrönte Erzählband „Urubus“ der brasilianischen Autorin Carla Bessa richtet den Blick auf das ‚Aas‘ der Gesellschaft

Von Martina KopfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martina Kopf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Straßenkinder, die auf einer Müllhalde leben, ein Busfahrer, der überfallen wird und dafür bezahlen muss, eine ältere Dame, die ein Leben mit dem falschen Partner bereut, ein Transvestit, der sich unglücklich verliebt, ein Hausmeister an der Copacabana, der im entscheidenden Moment versagt – es sind individuelle Episoden, die die brasilianische Autorin Carla Bessa in ihrem großartigen Band Urubus (‚Aasgeier‘) erzählt. Auf den ersten Blick sind es Einzelschicksale, die sich auf den zweiten Blick allerdings zu einem großen Ganzen fügen, das paradigmatisch die Ausgebeuteten der brasilianischen Gesellschaft in Rio de Janeiro porträtiert. 

Bessa, die vor vier Jahren mit dem leider bisher nur auf Portugiesisch erschienen Band Aí eu fiquei sem esse filho (dt. Dann stand ich ohne Sohn daihr literarisches Debüt vorlegte und u.a. Max Frisch und Ingeborg Bachmann ins Portugiesische übersetzte, ist ein außergewöhnlich raffiniertes und originelles Werk gelungen, das in Brasilien gleich zweifach mit den renommierten Literaturpreisen Prêmio Jabuti (1. Platz) und dem Prêmio Literário Biblioteca Nacional (2. Platz) ausgezeichnet wurde.    

Der Erzählband kreist um ein mysteriöses Päckchen, das eine Frau im Bus von Busfahrer Wellington transportiert, der kurze Zeit darauf Opfer eines Überfalls wird. Hier noch kaum beachtetes Dekor taucht dieses Päckchen in den einzelnen Erzählungen immer wieder am Rande auf, um schließlich in einer den Titel O embrulho (‚Das Päckchen‘) tragenden Erzählung in den Mittelpunkt zu rücken. Die Frau geht nun zum Strand, ertrinkt fast in den Wellen und findet sich schließlich ohne Päckchen in einer Strandbar wieder, in der sie dem Kellner von ihrer tragischen Familiengeschichte erzählt. Es lässt sich erahnen, was sich in dem Päckchen befand, doch Gewissheit bekommt man erst in der den Band abschließenden Erzählung: Hier ergreifen die titelgebenden Aasgeier das Wort und decken ein dramatisches Familiengeheimnis auf.  

Zentrales Thema des Erzählbands ist – wie der Titel bereits andeutet – der Verfall, aber auch das geteilte Leid der Protagonist*innen als Opfer, sozusagen als „Aas“ einer ausbeutenden Gesellschaft. Der schmale Band beginnt mit einem Blick auf eine Mülldeponie, auf der ein Straßenkind einen scheinbar verwesenden, aber doch noch lebenden Körper entdeckt. „O ser humano no lixo falta pouco para ser lixo humano“ („Der Mensch im Müll ist kaum weniger als Menschenmüll“), heißt es thetisch und tatsächlich sind es vor allem alternde Körper, die Bessa schöpft, detailliert beschreibt und schließlich verfallen lässt: Zwei Senioren spielen in den frühen Morgenstunden an der Strandpromenade Dame und legen sich mit den Straßenkindern von der Mülldeponie an – mit fatalen Folgen. Eine ältere Dame, Aparecida, wird bei ihrem wöchentlichen Ritual, das Frühstück für die undankbare Familie des Enkels zuzubereiten, beschrieben. Wehmütig verliert sie sich in Erinnerungen und macht sich Gedanken um verpasste Gelegenheiten und falsche Entscheidungen. In ein paar Erzählungen darauf treffen wir sie wieder – in einem Altenheim, wo sie mit ihrem verhassten toten Ehemann spricht und schließlich selbst stirbt. Ähnlich wie Aparecida geht es dem Besitzer einer Bäckerei, Álvaro. Auch er trauert einer verpassten Liebesgeschichte hinterher, schafft es noch nicht einmal bei der Beerdigung seiner Angebeteten, ihr in Briefform seine Liebe zu gestehen. Ein Alter ohne Namen erträgt die Einsamkeit in seiner Wohnung an der Copacabana nicht mehr, bricht mit seinem Rollator aus der Wohnanlage aus und kommt auf einer mehrspurigen Straße unter die Räder. Äußerst feinfühlig versetzt sich Bessa in ihre Protagonist*innen, lässt ihre Gedanken im Erzählfluss verschwimmen und verwendet häufig eine autonome direkte Rede, die eine ganz besondere Nähe suggeriert.         

Urubus ist allerdings vor allem ein Loblied auf das Detail. Ein Auszug aus der portugiesischen Übersetzung von Charles Bukowskis Gedicht The Shoelace (1972) bildet den Rahmen und das Motto für die kurzen Episoden:

it’ s not the large things that 
send a man to the
madhouse. death he’s ready for, or
murder, incest, robbery, fire, flood…
no, it’s the continuing series of small tragedies
that send a man to the
madhouse…
not the death of his love
but a shoelace that snaps
with no time left …
the dread of life
is that swarm of trivialities
that can kill quicker than cancer

Tatsächlich sind es diese scheinbar trivialen Dinge, die Bessa in den Blick nimmt, um sie dann in ihrer ganzen Dramatik zu entfalten. Dabei erweist sie sich als Meisterin der Beschreibung von Details, die sie anschließend puzzleartig zu einem Ganzen fügt. Nur einen Augenblick lang erscheinen Dinge bedeutungslos, im nächsten entwickeln sie sich zum bedeutsamen Motiv, so das mysteriöse Päckchen und seine Besitzerin, die als kaum beachtete Passantin oder als Fahrgast auftaucht, bevor ihr Schicksal ins Zentrum rückt. Somit kreuzen sich auch die Wege von Bessas Held*innen auf der Straße, in der Bäckerei oder in Form von erst später ans Licht kommenden Verwandtschaften. Der Handlungsort, Rio de Janeiro, scheint sie ebenso zu vereinen wie ihre Rolle als Opfer, als Ausgebeutete. Das Ent- und Aufdecken dieser unerwarteten Beziehungen zwischen den Protagonist*innen macht den Erzählband gerade so reizvoll: Er vermittelt das Gefühl einer produktiven Partizipation, fast ein wenig wie in einem Kriminalroman. So entsteht nach der Lektüre der Eindruck, eine Vogelperspektive – wie sie übrigens auch die Aasgeier am Ende des Bands beschreiben – erreicht zu haben: Die eigentlich unübersichtliche, in Einzelschicksale zersplitterte Welt wird dank der Verwobenheit von Personen und Ereignissen plötzlich klein und zugänglich. Es gibt zwei Möglichkeiten Urubus zu lesen – entweder als Erzählband im klassischen Sinn oder eben als zusammenhängendes Porträt einer Randgruppe der brasilianischen Gesellschaft. So oder so: Der Band ist ein ganz besonderes Leseerlebnis und unbedingt zu empfehlen. 

Titelbild

Carla Bessa: Urubus.
Brasilianisches Portugiesisch.
Confraria do Vento, Rio de Janeiro 2019.
104 Seiten, 27,00 EUR.
ISBN-13: 9788555320811

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