Bestseller-Autor der Aufklärung und Erfinder der deutschen Kriminalerzählung

Sarah Seidel schreibt gegen das Vergessen August Gottlieb Meißners an

Von Hannah Varinia SüßelbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannah Varinia Süßelbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

August Gottlieb Meißner (1753–1807), Professor für Ästhetik und klassische Literatur an der Universität Prag,  kann als einer der Urväter der deutschsprachigen Kriminalerzählungen gelten. Es nimmt also nicht Wunder, dass sein Name im Kontext der Erforschung deutschsprachiger Fallgeschichten, jener äußerst populären kleinen literarischen Form, die sich im 18. Jahrhundert auch in Deutschland entwickelte, immer wieder genannt wird. An einer einschlägigen Monografie aber mangelte es bislang. Sarah Seidel tritt dem entgegen und erweitert mit ihrer Studie „Erfunden von mir selbst ist keine einzige dieser Geschichten“. August Gottlieb Meißners Fallgeschichten zwischen Exempel und Novelle die noch recht spärlich vorhandene Literatur zu einer der bedeutendsten Figuren der aufklärerischen Kriminallitertatur.

Wer jedoch damit rechnet, durch die Fokussierung auf die Person Meißners mit rein biografischen Darstellungen und einer damit meist zusammenhängenden eindimensionalen Lesart seiner Fallgeschichten konfrontiert zu werden, wird im allerbesten Sinne enttäuscht. Seidel verfolgt das Ziel, die „diskursiven Parameter aufzudecken, die die literarische Fallgeschichte determinieren“, sie in einem zweiten Schritt auf ihre Erzählweise hin zu untersuchen und sie dann „zur historischen Figur Meißners in Beziehung“ zu setzen. Diesem Anspruch folgend ist ihre Arbeit in drei große Teile gegliedert, die thematisch sinnvoll und nachvollziehbar aufeinander aufbauen.

Zunächst nährt sie sich begrifflich dem Fallgeschichtsdiskurs allgemein an, klärt terminologische Fragen und stellt den aktuellen Forschungsstand dar. Diese erwartbare Vorgehensweise wird jedoch von Seidel stets auch kontextualisiert. Ausführlich stellt sie sowohl die inneren, also die textimmanenten, wirkungsästhetischen Elemente, als auch äußeren Entstehungsbedingungen dar, das heißt die sozialen und kulturellen Marktbedingungen,  die an dem großen zeitgenössischen Interesse an dieser kleinen literarischen Form maßgeblich beteiligt waren. Rechtsfälle lieferten bereits in der Frühen Neuzeit Stoffe für die erschwinglichen und daher vielfach kursierenden Einblattdrucke sowie Flugschriften. Im Zeitalter der Aufklärung hatten schließlich moralische Wochenschriften Hochkonjunktur. So überrascht es nicht, dass Almanache, Wochen- und Monatsschriften zu den Leitmedien der Aufklärung gehörten. Allerdings legt Seidel ihr Augenmerk nicht nur auf die literarischen Formen der Zeit, sondern betrachtet auch die Rezeption und Produktion von Literatur, indem sie Veränderungen des Publikums und dessen Lesegewohnheiten sowie die neu entstehenden Vertriebsmöglichkeiten, etwa die Praxis des Selbstverlags, diskutiert.

Laut des italienischen Rechtsphilosophen Cesare Beccaria, dem Autor der Schrift Von den Verbrechen und von den Strafen, sind Mitleid und Menschlichkeit Indizien für einen aufgeklärten Strafdiskurs. Dieser populäre Ansatz wurde, so Seidel, von Meißner „in die Forderung nach milderem Umgang mit den Delinquenten transformiert.“ Generell spielen Verbrecher in Meißners Fallgeschichten die zentrale Rolle. Er verleiht „den Delinquenten eine Stimme“, indem er sie in wörtlicher Rede zu Wort kommen lässt. Dadurch wird das aufklärerische Paradigma des „ganzen Menschen“ unterstützt, das zu dieser Zeit auf dem Vormarsch war. Dabei wird der Mensch nicht mehr als reine Dichotomie von Seele und Körper gesehen, sondern als eine Vermischung dieser beiden Dinge und vor allem erstmalig als Individuum wahrgenommen. Aber auch der philosophische Paradigmenwechsel von Rationalismus zum Empirismus setzt hier an. Observationen werden zum methodischen Fundament wissenschaftlichen Arbeitens. Meißners ästhetisches Programm sieht etwa die Rührung auf das moralische Gefühl hin ausgerichtet, das wiederum Anstoß zum Tätigwerden geben soll. Dies fiel, wie Seidel herausarbeitet, in der Spätaufklärung auf fruchtbaren Boden.

Den Erzählstrategien sowie formalen Elementen in Meißners Fallgeschichten widmet Seidel den zweiten Teil ihrer Arbeit. Sie betont ausdrücklich, dass Fallgeschichten „an der Konstitution des ‚ganzen Menschen‘“ mitschrieben. „Wo es ihnen an exakter Beschreibungssprache mangelt, greifen sie auf Metaphern zurück“, woraus sich „Sprach-Bilder, die das Körper-Seele-Verhältnisses als ‚Seelenabdruck‘ oder ‚Seeleneinschreibeverfahren‘ bezeichnen“ ergeben.  Gesondert zu unterstreichen sind Seidels Bemühungen, die  paratextuellen Elemente herauszuarbeiten. Dabei geht sie unter vielen weiteren Punkten die Heterogenität der Titel, die Fußnoten, die Nummerierungen sowie die serielle Zusammenstellung der Fallgeschichten ebenso an wie deren publizistische Kontexte .

Im dritten Teil schließlich setzt die Verfasserin Meißners literarisches Programm mit biografischen Elementen und ästhetischen Überlegungen in ein aufschlussreiches Verhältnis. Dazu fokussiert sie sich bei der Analyse von Meißners tatsächlicher Textarbeit hauptsächlich auf seine Notizbücher, Vorlesungen und Vorreden. Besonders hervorzuheben sind ihre detailreichen Darstellungen der verschiedenen Bearbeitungsschritte und Fassungen einzelner Fallgeschichten. In seinen Poetik-Vorlesungen an der Universität zu Prag definiert Meißner „als wesentliches Element der Erzählung die Handlung“, von der es weiter heißt, „je interessanter diese ist, desto besser ist auch die Erzählung“. Dass Meißner also Kriminalfälle als Gegenstand seiner literarischen Produktion auswählt, ist vor diesem Hintergrund naheliegend. Überraschender ist jedoch, wie eng diese thematische Entscheidung mit seinem ästhetisch-poetologischen Verständnis von Literatur zusammenhängt. Sein Zugang zur Ästhetik ist ebenfalls „stark anthropologisch geprägt“ und hat genau wie seine literarischen Texte das Ziel „den Menschen zu erforschen“.

Anhand zahlreicher weiterer Belegstellen zeigt Seidel, dass Kriterien, die in der Poetik-Vorlesung „formuliert werden, unschwer erkennbar in die Fallgeschichtsschreibung eingegangen sind.“ Dazu gehören unter anderem das Postulat der Kürze, Deutlich- und Wahrscheinlichkeit sowie Lebhaftigkeit. Aber auch sein methodologischer Zugang unterscheidet sich kaum, denn „nicht nur seine Fallgeschichten heben die Exemplarität innerhalb der Bewegung zwischen Allgemeinem und Besonderem hervor, sondern auch für seine Vorlesung bilden Beispiele die tragenden Säulen.“

Das im Titel der Dissertation genannte Zitat „Erfunden von mir selbst ist keine einzige dieser Geschichten“ wird ebenfalls unterstützt durch den Nachweis, dass Meißner den zu seiner Zeit stattfindenden Paradigmenwechsel von Imitation zu Genieästhetik, wie sie beispielsweise Karl Philipp Moritz in seiner Schrift Über die bildende Nachahmung des Schönen vorstellt, nicht mitvollzieht, sondern traditionelleren Auffassungen treu bleibt. Dennoch wäre es, so wird deutlich, zu einfach gedacht, in Meißners Schreibverfahren ein stumpfes Kopieren zu sehen. Seidel belegt, dass Meißner durch vielfältige Dekontextualisierungs- und Rekontextualisierungsverfahren einen beeindruckenden Variationsreichtum schafft. Darüber hinaus problematisiert die Autorin weitere interessante Felder, beispielsweise Meißners Textarbeit im Hinblick auf das Urheberrecht der damaligen Zeit.

Seidels Studie baut komplexe Sachverhalte Schritt für Schritt nachvollziehbar auf, ist sprachlich ausgefeilt und dennoch gut verständlich geschrieben. Besonders hilfreich ist die Tatsache, dass Seidel die Beispiele stets gut auswählt und weder inflationär noch zu spartanisch nutzt. Im Hinblick auf die strategische Platzierung von Exempeln ähnelt ihr Schreibstil fast dem Meißners. Gegenstand und Analyse ergeben so ein stimmiges Bild.

Der Autor und Textarbeiter August Gottlieb Meißner wird erfreulich differenziert beleuchtet, sodass die geläufige Auffassung, ihn nur als Randfigur einer sich aus seiner Tradition entwickelnden Kriminalliteratur zu sehen, als ungemessen erkennbar wird. Wer einen Einstieg in das Forschungsgebiet der literarischen Fallgeschichte sucht, kann mit Seidels Dissertation auf eine fundierte, gut leserliche und verständliche Arbeit zurückgreifen, die sowohl Begriffsdefinitionen enthält als auch einen weiten Bogen zu einem komplexen literar-ästhetischen Programm und Schreibverfahren schlägt. Auf diesem Wege werden der Autor Meißner und sein kriminalliterarisches Programm so präsentiert, wie es ihrem Rang gebührt.

Titelbild

Sarah Seidel: »Erfunden von mir selbst ist keine einzige dieser Geschichten«. August Gottlieb Meißners Fallgeschichten zwischen Exempel und Novelle.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2018.
311 Seiten, 29,50 EUR.
ISBN-13: 9783865256133

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