Die Dinge und wir

Der Sammelband „Der Stand der Dinge“ plädiert vor dem Hintergrund einer stetig wachsenden Zahl von Gütern für das Schärfen unseres Bewusstseins

Von Sebastian MeißnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Meißner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Spätestens mit der Industrialisierung explodierte der Konsum von Dingen. Heute leben wir im Zeitalter des Massenkonsums – und seine Folgen für Mensch und Umwelt sind uns längst bekannt. Dennoch ist unser Umgang damit ambivalent und so haben sich neben der vorherrschenden Form der konsumistischen Einstellung zu den Dingen längst auch „widerständige Praktiken“ entwickelt, bei denen versucht wird, den Konsum weitgehend zu reduzieren, keinen Müll zu produzieren, zu recyceln und zu reparieren oder zu tauschen statt neu zu kaufen. Die Herausgeber:innen des Bandes Der Stand der Dinge. Theorien der Aneignung und des Gebrauchs Jan Beuerbach, Kathrin Sonntag und Amelie Stuart sprechen in der Einleitung von einem „ambivalenten Bild“ sowie von einem „Spannungsverhältnis zwischen Wegwerfmentalität und Sammelleidenschaft, Überfluss und Minimalismus, Wiederverwertung und geplanter Obsoleszenz“.  In ihrem Band, einer Publikation im Anschluss an eine Tagung zum Thema, skizzieren die Herausgeber:innen das Feld der zeitgenössischen Forschung und verweisen auf einige der einflussreichsten und prominentesten Autor:innen und ihren Theorien zur Aneignung und des Gebrauchs von Dingen und Autor:innen aus den Geistes- und Sozialwissenschaften. Untergliedert in die Kapitel „Dinge: Aneignung und Unverfügbarkeit“, „Gebrauch: Das Besondere im Alltäglichen“ sowie „Materialität: Selbst- und Weltbeziehungen“ entsteht so ein weitreichender Überblick, der mehr ist als nur erste Orientierungshilfe für Interessierte.

Die Notwendigkeit kollektiv geteilter Auffassungen

Die wiederentdeckte Sensibilität für das Materielle, die Aufmerksamkeit für die kleinen Mikroprozesse und Verstrickungen alltäglicher Praktiken mit den Dingen hat eine „Tiefendimension geisteswissenschaftlicher Forschung“ eröffnet.  Wie divers das Thema von den Autor:innen angegangen wird, sei hier exemplarisch an drei der versammelten Texten aufgezeigt: So wagt etwa Hans P. Hahn, Professor für Ethnologie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, in seinem einleitenden Beitrag („Die Unverfügbarkeit der Dinge. Notizen zur Destabilisierung des Mensch-Ding-Verhältnisses“) den Blick auf Dinge aus der Metaperspektive. Er präsentiert einige Ideen zu einem erweiterten Modell der Dingpolitik. Ausgangspunkt dafür ist die Beschreibung relevanter Eigenschaften von Objekten als allgemeine Grundlage für die Gesellschaft. Mit Verweis auf Miguel Tamens Absage an die Vorstellung objektimmanenter Eigenschaften betont er die Notwendigkeit in Interaktion erlernt und bestätigter, kollektiv geteilter Auffassungen über die Bedeutung von Objekten. Hahn legt unter Einführung der Begriffe Verfügbarkeit und Vertrautheit und unter Berufung auf unter anderem die Konsumgeschichte, Bourdieus soziologische Studien und Habermas und Gehlen offen, wie fragil derartige Bedeutungszuweisungen sein können.

Niklas Angebauer, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Oldenburg, beschäftigt sich in seinem Beitrag „Kein Eigentum ist auch keine Lösung. Was wir vom theoretischen Armutsstreit lernen können“ mit dem Unbehagen am Eigentum, was in der Definition von Proudhon zufolge das Recht mit sich bringt, Dinge nicht nur zu ge-, sondern auch zu missbrauchen – und zwar sozial (mit Blick auf Machtausübung) und ethisch (durch Missachtung des Eigensinns der Dinge). Sein mit historischen Beispielen aus der Ideengeschichte gespickter Beitrag endet mit zwei Lehren. Neben dem Besitzindividualismus, so schreibt er, fänden wir in der Traditionsgeschichte des westlichen Eigentumbegriffs auch normative Ressourcen, auf deren Grundlage sich Eigentum auch als Grundlage für sinnvollen Gebrauch lesen lasse. 

Warum Vinyl nicht analog ist

Oliver Zöllner, Professor für Medienforschung, Mediensoziologie, Digitale Ethik und Internationale Kommunikation an der Hochschule der Medien in Stuttgart, wiederum analysiert am Beispiel von Tonträgern bzw. Klangspeichern, wie diese „auf je unterschiedliche Nähe-, Werk- und Weltrelationen verweisen. Anders als physische Tonträger wie Vinyl und CD seien entmaterialisierte Dateien, die gestreamt werden, weit weg vom Nutzer und der Nutzungssituation. Das Werk (z.B. ein Album) sei nicht mehr separat gerahmt, sondern werde durch fluide Playlists ersetzt. Zöllner entlarvt in seinem Beitrag jedoch auch die Vinyl-Sammler und ihre Argumentation des Werts des Analogen, werden Schallplatten doch längst primär über digitale Plattformen erworben und weiterverkauft, was laut Zöllner ein illustratives Beispiel für die von Beck beschriebene gegenwärtige „Metarmophose der Welt“ ist.     

Und so stößt Der Stand der Dinge viele verschiedene Gedanken an und zeigt, dass unsere Wahrnehmung, Wertschätzung und Bedeutungszuschreibung von Dingen von vielen Faktoren abhängig ist, die sich ändern, die nicht selbstverständlich sind und somit nicht selbstverständlich von allen geteilt werden. Die Veränderung dieser Faktoren verändert jedoch unsere Gesellschaft – und damit uns. Das ist das Ding.

Titelbild

Jan Beuerbach / Kathrin Sonntag / Amelie Stuart: Der Stand der Dinge. Theorien der Aneignung und des Gebrauchs.
Schwabe Verlag, Basel 2022.
240 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-13: 9783796545917

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