Biedermänner in Sicht

Christopher Nolans Kriegsfilm „Dunkirk“ inszeniert die Rettung der britischen Armee vor der deutschen Wehrmacht im Jahr 1940

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Eine kurze Geschichte des Genres

Wieder mal ein Film, der am Strand spielt. Das Setting kennen wir aus Steven Spielbergs Saving Private Ryan (1998), Terrence Malicks The Thin Red Line (1998) oder auch Clint Eastwoods Flags of Our Fathers (2006). Doch diesmal ist die Perspektive anders. Wir werden nicht in die Situation von Soldaten versetzt, die eine waffenstarrende Küste erobern sollen. Das war der typische Plot der letzten 20 Jahre. Spielbergs Film über den D-Day hat sich bereits mit verschiedenen Genre-Bildern tief in unsere Kinogänger-Hirne eingegraben: Die zitternde Hand von Captain John H. Miller (Tom Hanks) und der Soldat, der sich im Landungsboot vor Panik erbricht. Dann die Öffnung der Klappe am Bug und die sofort einschlagende Maschinengewehrsalve, die so gut wie alle Insassen niedermäht, gefilmt aus der Rückenansicht. Soldatenkörper, die unter Wasser von Kugeln durchschlagen werden. Dann, am Strand, der plötzlich aussetzende Ton nach einer zu nahen Granatexplosion – und John Millers Shell Shocked Face.

Soweit der cineastische Meilenstein am Ende des letzten Kinojahrhunderts. Im selben Jahr nahm Malick die in Spielbergs Blockbuster formalisierten Angstbilder in der Eröffnungszene seines Pazifk-Kriegsfilms wieder auf. Dort war das Wetter besser als in der Normandie, und der Gegensatz idyllisch wuchernder Dschungelbuch-Natur zu der ewigen Geschichte von Kain und Abel ließ sich mit besonders biblischer Wucht inszenieren. Jahre später landete Eastwood auf dem eher trockenen Archipel Iwo Jima, auf dem sich die faschistischen Japaner eingegraben hatten, deren MG-Stellungen schwer zu knacken waren, genauso wie schon in Malicks The Thin Red Line. Mel Gibson inszenierte letztes Jahr mit Hacksaw Ridge eine weitere Folge dieser Serie, diesmal mit Klettereinlage an der Steilküste.

Hier wurden neue Standardszenarien eines Genres generiert, das man seit Jahrzehnten für ausbuchstabiert gehalten hatte: In fast allen diesen Filmen sehen wir angreifende amerikanische Soldaten, die entgegen ihrer historischen und dramaturgischen Rolle, als Helden aufzutreten, in banger Erwartung in offenen Booten sitzen und auf irgendwelche gefährlichen Küsten zurasen. Der Zuschauer versteht: Diese Männer wissen, dass sie ihrem sicheren Tod im Kugelhagel ins Auge sehen. Man sieht das in ihren Gesichtern, die die Kamera in Nahaufnahme zeigt. Unser Herz fängt an, in dumpfer Panik mitzuschlagen, und die Hände verkrampfen sich in der Lehne des Kinosessels. „Beruhige Dich“, denkt man zwischendurch, „es ist doch alles nur ein Film!“

Spielberg setzte diese szenischen Akzente in ihrer Emotionalisierungsintensität als erster. Mit seiner Eröffnung von Saving Private Ryan ist er nach wie vor unerreicht geblieben. Malick und Eastwood deklinierten die Pathosszenen, die er vorinszeniert hatte, nur noch einmal neu durch und spielten bereits mit der Erwartungshaltung des Publikums, die sich aus der Kenntnis des einflussreichen Vorgängerfilms ergab.

Heartbeat aus dem Off: See You on the Beach Again

Nun also Christopher Nolans Dunkirk. Diese 300.000 Soldaten greifen nicht einmal mehr an. Sie wollen bloß weg von diesem Strand an der französischen Küste, sie wollen einfach nur noch überleben, den Ärmelkanal überqueren und zurück ins nach wie vor halbwegs vor den Deutschen sichere England. Wieder geht es um Schiffe und Boote, bloß ist der Alptraum jetzt genau der umgekehrte: Man kommt nicht mehr raus hier. Keine Rettung, nirgends. „Where is the bloody Airforce?“, ruft ein Soldat verzweifelt.

Die wenigen Glücklichen, die es mit Ach und Krach auf irgendeine rettende Barke geschafft haben, die sie über den Charon zurück zu den Lebenden tragen könnte, sitzen in Wahrheit genauso in der Todesfalle. Sie müssen sogar als erste sterben. Sie werden in geschlossenen Räumen elendiglich ertrinken. Sie werden von Torpedos, Bomben und Maschinengewehrfeuer zerrissen. Und sie werden im brennenden Ölteppich gegrillt.

Worum geht es hier überhaupt? An sich handelte es sich bei Dünkirchen um einen Nebenschauplatz des Zweiten Weltkriegs, der allerdings in der Rückschau eine entscheidende Rolle spielte. Die Wehrmacht hatte Frankreich 1940 überrannt. Die französische und die britische Armee waren an der Atlantikküste eingekesselt worden. Hitler wartete aus unerfindlichen Gründen erstmal ab, die deutschen Panzer blieben stehen, und es gelang, die meisten englischen Soldaten auf die Insel zu retten. Es war einer dieser miltärischen Fehler der Deutschen, für die wir alle noch heute dankbar sein können.

Nolans Film aber versetzt uns zurück in die Situation der einfachen britischen Soldaten, die diesen Ausgang der Geschichte noch gar nicht kennen können. Sie wissen bloß, dass sie besiegt sind und dass Ihnen Gefangenschaft oder Tod bevorstehen. Man weiß ja, wie die Deutschen so sind. Gnadenlos. Darüber muss im Film kein einziges Wort verloren werden. Der Feind bleibt unsichtbar. Es gibt überhaupt keine Nazis in diesem Film. Aber ihre Kampfflieger sind überall. Sie tauchen weit oben im Himmel auf, erst leise und kaum hörbar. Dann stoßen sie herab, um Bomben über wehrlosen Menschenansammlungen abzuwerfen, die festgekeilt auf einer Mole stehen oder geduldig in langen Schlangen auf dem ebenen Strand an der Küste des Ärmelkanals auf ihre Einschiffung warten. Wir alle kennen die Kinobilder, die diesem Szenario vorausgegangen sind. Es ist der einzelne, schutzlose kleine Mensch in einer unendlich weiten Ebene, ohne Aussicht auf Deckung oder Flucht, und es ist das aus heiterem Himmel auf ihn herabstoßende Flugzeug – kurzum: das ist die Urangst-Situation aus Alfred Hitchcocks North by Northwest (1959), nur diesmal noch schlimmer.

Nolan widerholt derartige Szenen in Dunkirk immer wieder, untermalt von Hans Zimmers psychedelisch herumwummernder und in den Höhen schizophren dissonanter Herzschlagsmusik, die den frühen Jean-Michel Jarre mit klassischen Sounds aus Pink Floyds The Wall-Depression verbindet. Gleich zu Beginn, als der Protagonist Tommy (Fionn Whitehead) es aus dem unübersichtlichen Häuserkampf an den Strand geschafft hat, setzt dieses dräuende, tiefe Pochen eines Synthesizers ein. Es sind ungute Klänge, die das Publikum in diffuse Unruhe versetzen, ohne dass die meisten ZuschauerInnen auf Anhieb verstehen dürften, wie ihnen dabei geschieht. Plötzlich wirkt so selbst eine weite, offene Küstenszenerie im Sonnenschein bedrohlich. Man ahnt: Hier lauert Gefahr, jeden Moment kann wieder etwas Schreckliches passieren. Und so kommt es dann auch.

In diesem Basis-Setting inszeniert Nolan eine quälend lange Serie von Fluchtversuchen, die immer wieder scheitern. Das Publikum wird zusammen mit den Soldaten in klaustrophobische Situationen der Hilflosigkeit versetzt. Am beklemmendsten ist dabei vielleicht diejenige im Bauch eines gestrandeten Kutters, in den sich eine Handvoll verzweifelter Briten flüchtet, um mit der Flut hinaus aufs Meer getrieben zu werden. Doch dann schlagen wie aus dem Nichts kommende, lautlose Kugeln durch die Bordwand ins Innere. Man hört nur ihren Einschlag. Plong. Ein lichthelles Löchlein im Dunkel. Petsch. Und noch eins. Nach vier Einschlägen wird ein erster Kamerad getroffen. Die Flut kommt. Wasser beginnt, durch die kleinen Öffnungen hereinzuströmen, doch niemand kann sich an Deck retten. Denn dort lauert der sichere Tod durch die deutschen Schützen, die irgendwo in den Dünen sitzen und nur darauf warten, dass jemand an Bord auftaucht. 

Brexit einmal anders

Eigentlich könnte alles ganz schön sein an der Atlantikküste. Wenn bloß nicht die Deutschen wären. Sie sind das tötende Prinzip. Schlichtweg eine historische Tatsache: Es waren die deutschen Weltkriege, welche die Welt im 20. Jahrhundert wiederholt und mit wachsender Gründlichkeit aus dem Paradies vertrieben haben. Das hatten wir erst neulich in Patty Jenkins’ pop-feministischer Comic-Verfilmung Wonder Woman wieder.

Diesmal sorgt allerdings keine israelische Beauty Queen für Ordnung. Frauen kommen bei Nolan so gut wie gar nicht vor. Man sieht nur einmal eine aus der Ferne lächelnd auf irgendeinem Boot stehen, als ihr der väterliche Commander Bolton (Kenneth Branagh) einige freundliche Worte zuruft. Nein, die wahren Helden dieses Films sind die Biedermänner von der Insel. Kein Wunder, dass der Brecit-Populist Nigel Farage den Film per Twitter mit einem Selfie lobte: Wenn die rettenden Fischkutter der braven Briten am Horizont auftauchen, füllen sich die Augen des lieben Commanders Bolton mit Tränen, und Zimmers Score schaltet jäh um auf einen herzerwärmenden Gustav-Mahler-Breitwandsound.

Kein Kriegsfilm ohne die zünftige Erzeugung eines Sense of Commonality (Hermann Kappelhoff): Die freie westliche Welt, symbolisiert durch die frischen Wiesen Englands, triumphiert hier in Gestalt der Zivilcourage britischer Privatskipper, die selbstlos ihre Kähne über den Kanal steuern. Es sind gewaltlose, tapfere und ordentliche Männer im Friesennerz, in blindem Verständnis zusammenhaltende Väter und Söhne, die den Shetland-Pullover und das Tweed-Jacket selbst noch im Angesicht deutscher Kamikaze-Flieger tapfer und mit Würde tragen, als seien sie auf einer gemütlichen Bootstour zum 17-Uhr-Tee.

It’s the love of keeping calm: Unter Einsatz ihres Lebens und mit sicherem Blick für die Situation bzw. mit genauem Gehör für den Klang der guten und der bösen Flieger steuern diese tapferen Briten ihre adretten Freizeitbötchen die paar Kilometer nach Europa hinüber, um ihre Landsmänner da rauszuholen, weil Churchill seine Flotte aus taktischen Gründen gerade leider noch nicht auslaufen lassen kann. Viele Soldaten müssen sterben, doch die meisten schaffen es so dann doch zurück zu den rettenden weißen Klippen Albions, und das gleißende Morgenlicht glitzert als Zeichen der Hoffnung und des Heils über dem Meer.

Back in England’s Green, in dem erstaunlicherweise nur die Sonne scheint, wird den glücklichen Überlebenden, die zu Zimmers ätherischen Klängen aus einem sanften Heilschlaf erwachen, erst einmal ein frisches Bier durch das Zugfenster hereingereicht, sobald der Zielbahnhof erreicht ist. Nicht das Töten bedeutet in diesem Film den Triumph, sondern das bloße Überleben und die gesunde Rückkehr vom üblen Hitler-Kontinent. „That’s enough“, sagt der weise blinde Mann, der am britischen Bahnhof warme Wolldecken verteilt: „Well done.“

Die Ego-Shooter der Lüfte

Bliebe nur noch das Problem mit den anonymen Nazi-Jagdfliegern. Deren Schandtaten dürfen natürlich nicht unbeantwortet bleiben. Ganz so pazifistisch ist der Plot dann doch nicht – wie das immer so ist mit den sogenannten Anti-Kriegsfilmen. Hier sind es die Spitfire-Piloten der Royal Air Force, die bei Nolan die Agency des Fingers am Abzug vertreten. Sie setzen ihr Leben besonders breitwandtauglich aufs Spiel. Man sieht: Es ist wohl wirklich kein Spaß, einen deutschen Flieger hinter sich am Himmel auftauchen zu sehen, der sich gemein aus der Sonne genähert hat und plötzlich das Feuer eröffnet. Irgendwie sind es dann aber doch meistens die geschickt per Funk teamworkenden Tommies, die die feindlichen Flieger aus dem Rückhalt relativ bequem abschießen können. „Got him.“

Wieder gilt: Die britischen Abfangjäger bekommen Gesichter, nicht aber die bösen Piloten in den deutschen Maschinen. So wird sichergestellt, das jede falsche Empathie geblockt wird und gar nicht erst aufkommen kann. Allerdings geht den Guten dann irgendwann leider auch mal der Sprit aus, oder sie stürzen sonstwie ab. Da ist es natürlich praktisch, dass der blonde Tim-und-Struppi-Sohn (Tom Glynn-Carney) und sein sanfter Vater (Mark Rylance) mit ihrem gemütlichen Äppelkahn gerade wieder auf dem Kanal vorbeicruisen.

Anders als der Rezensent sollte man diese fesselnden Luftkampfszenen wohl wirklich in jenem legendären 17mm-IMAX-Format sehen, in dem dieser Film gedreht worden ist. Dann wäre auch noch einmal genauer über Hoyte van Hoytemas Kamera zu reden gewesen: Die Weite des Himmels und des in nunacenreichen Grün- und Blautönen oszillierenden Ozeans spielen hier die Hauptrolle. Und wieder wird der Triumph in den Lüften mit schockhafter Klaustrophobie gedämpft: Nach dem notgedrungenen Wassern eines abgeschossenen britischen Kampffliegers öffnet sich das Cockpitfenster nicht mehr.

Sollte man eine Prognose wagen wollen, was von diesem neuesten Sequel der Beach-Kriegsfilme in Zukunft haften bleiben wird, dann müsste man wohl Zimmers Filmmusik nennen – und zwar noch vor der angeblich so hyperrealen Vintage-Kameraarbeit van Hoytemas. Ganz klar: Ohne diesen Score wäre die Affektpoetik dieses monumentalen Werks wahrscheinlich ungefähr so beklemmend wie Samson und Tiffy beim Abschiedgsguß in der Sesamstraße. Gut, das ist etwas übertrieben. Aber man sollte das dramaturgische Genie Nolans nicht überschätzen. Er kocht auch nur mit Wasser. Wenn auch auf der Höhe vieler seiner Vorgänger.

Dunkirk. Großbritannien / Frankreich / Niederlande. Regie: Christopher Nolan. Kamera: Hoyte van Hoytema. Musik: Hans Zimmer. Warner Bros. Pictures 2017, 107 Minuten.

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