Vom Poltern und Prophezeien

Maxim Biller schreibt über Deutschland, Literatur, Juden und das große Ganze

Von Peer JürgensRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peer Jürgens

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Judentum ist voll von Gestalten, die hinterfragen, sich widersetzen, zweifeln, streiten, diskutieren und ja, auch mal nerven. Man denke nur an den Disput zwischen Gott und Abraham um die Frage, ab wie vielen Gerechten Gott Sodom verschont oder an die Diskussion zwischen Gott und Moses, der sich gegen seinen Auftrag, die Juden aus Ägypten zu befreien, sträubt oder an Lilith, die erste starke, emanzipierte Frau.

Gehören Judentum und Widerspruch zusammen? Vielleicht. Entscheidender ist aber, ob Widerspruch ein Wert an sich ist. Man könnte bei Maxim Biller auf den Gedanken kommen, für ihn zähle die Provokation um der Provokation Willen. Aber Biller hat ein Ziel vor Augen. Sein Widerspruch, seine Salzprisen sollen eine aus seiner Sicht gefährliche Wunde offenbaren: die darniederliegende deutsche Literatur. Er mimt den Ruhestörer, er piesackt die deutsche Literatur- und Feuilletonszene, um die Kunst besser zu machen.

Dieses Anliegen betreibt Maxim Biller seit 30 Jahren. Eine Art Chronologie seiner Ruhestörungen liegt jetzt in Form einer Aufsatzsammlung bei Reclam vor, die 22 Texte zwischen 1991 und 2018 versammelt. Da Biller die Wahrheit liebt, wird er verstehen, wenn eine Empfehlung für dieses Buch lautet: Lesen Sie es nicht in einem Stück. Seine Texte sind unterhaltsam, scharfsinnig, klug argumentierend, bisweilen brillant formuliert und in einer Weise provokant, die immer auch den Schalk im Nacken sitzen haben. Und dennoch schleicht sich in die immer ähnlich gelagerten Angriffe auf die Nachkriegsliteratur, die 68er und den deutschen Durchschnittskult eine Larmoyanz ein, die für Langeweile sorgt. Einzeln für sich betrachtet aber ist nahezu jeder der 22 Texte empfehlenswert. 

Dabei stechen besonders Billers Betrachtungen zur Literatur heraus. Ob er mit der „Ichzeit“ eine neue literarische Epoche ausruft und den glaubhaften, mitreißenden Ich-Erzähler stark macht, ob er eine Lanze für die Kurzgeschichte bricht und nebenbei eine treffende Definition dieser Textart liefert, ob er sich wortgewaltig mehr echten Realismus und journalistisches Handwerkszeug in der Literatur wünscht oder ob er mehr Sex in der Literatur fordert – seine literaturtheoretischen und literaturkritischen Betrachtungen sind ganz großes Kino.

Amüsant lesen sich auch seine Abrechnungen mit den Nachkriegsautor*innen, der „lahmen Gruppe 47“, mit ihrer „Wehleidigkeit“ und der „blassen und reizlosen deutschen Gegenwartsliteratur“, die eine „kraftlose und provinzielle Schlappschwanz-Literatur“ sei. Es wäre vermessen zu sagen, dass Biller mit diesen Einschätzungen immer richtig liegt – wie es genauso vermessen wäre, alles abzustreiten, was er vorträgt. Seine Überlegungen aber, z.B. zur Täter-Opfer-Perspektive in den deutschen Weltkriegsromanen oder seine Empfehlungen für in seinen Augen gute Gegenwartsliteratur sind hochspannend.

Vor allem seine Ermutigung an eingewanderte Schriftsteller*innen, ihre eigenen Geschichten und Worte zu finden und sich gegen die „tyrannische Deutschunterricht-Tradition“ aufzulehnen, verdient jedoch laut gehört zu werden. Zu Recht übt er Kritik an der Macht der Verleger*innen, Lektor*innen und Buchhändler*innen zu bestimmen, was und wie gedruckt wird, zu Recht polemisiert er gegen die „Onkel-Tom-Literatur“ und zu Recht sehnt er einen Roman im Stil von Fatih Akins Film Gegen die Wand herbei. Dass die von ihm als „dritte Ethnie“ bezeichnete Kinder- und Enkelgeneration der Eingewanderten das Leben, das Chaos und die Zukunft Deutschlands sind, dürfte inzwischen außer Frage stehen.

Nicht immer überzeugend, aber ebenso launig lesbar sind seine politischen und gesellschaftskritischen Abhandlungen. Biller teilt hier heftig aus: gegen Gleichmacher-Mief, unmoralische Politik, Antisemitismus, Rechts-Linke, 68er … Dabei darf man nicht vergessen, dass er einige Texte in den 90er Jahren schrieb und damit oft schon Beobachtungen beschrieb, die in der Breite erst Jahre später klar sichtbar wurden. So liest sich z.B. seine Abrechnung mit der Westerwelle-Möllemann-FDP und ihrer bewussten, auf Systemzerstörung ausgerichteten Politik wie eine Vorwegnahme der heutigen AfD-Strategie.

Man muss nicht alle seine Einschätzungen teilen, so wie seine Bewertung der Ostdeutschen und ihres kulturellen Einflusses auf die Westdeutschen ziemlich hanebüchen ist. Wie er aber immer wieder – laut, brutal, offen, zugespitzt – judenfeindliche Tendenzen aufdeckt oder bedenkliche gesellschaftliche Entwicklungen aufzeigt, das verdient Respekt, Dank und (für die Ausdauer) auch Anerkennung.

Maxim Biller will Menschen die Augen öffnen für Dinge, die aus seiner Sicht falsch laufen. Er will ihnen seine Wahrheit und seine Moral vermitteln – wenn auch manchmal mit dem Dampfhammer. Oft trifft er mit seinen Ansichten ins Schwarze, manchmal verfehlt er die Zielscheibe. Aber ob man die Ansichten nun teilt oder nicht – gut zu lesen sind seine Texte (einzeln) immer. Lässt man sich auf sie ein und durchdringt die oberflächliche Provokation und hochliterarische Polterei, dann wird aus dem Ruhestörer ein manchmal prophetischer Mahner, auf den öfter gehört werden sollte. Daher wäre es z.B. schön, wenn der Friedenspreis tatsächlich mal an Rachel Salamander gehen würde.

Biller schreibt selbst, dass gute Literatur die Menschen besser macht. Die Lektüre der meisten seiner Essays in diesem Buch machen die Menschen besser.

Titelbild

Maxim Biller: Wer nichts glaubt, schreibt. Essays über Deutschland und die Literatur.
Philipp Reclam jun. Verlag, Ditzingen 2020.
272 Seiten , 8,80 EUR.
ISBN-13: 9783150196724

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