Immer wieder das Scheitern riskieren

Peter André Bloch resümiert ein halbes Jahrhundert der Beschäftigung mit Werk und Person des Schweizer Schriftstellers, Zeichners und Malers Friedrich Dürrenmatt

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Friedrich Dürrenmatt (1921–1990) war ein Berserker. Während sein Landsmann – und Konkurrent – Max Frisch den Weg nach innen, ins eigene Ich suchte, ging sein Denken und Schreiben in die Welt, ja den Kosmos hinaus. Dass er sogar Gott als literarische Figur in seinem Werk auftreten ließ, spricht in dieser Hinsicht Bände. Für Peter André Bloch (geb. 1936), den sich mit Dürrenmatt und seinem Werk seit einem halben Jahrhundert intensiv beschäftigenden Literaturwissenschaftler und namhaften Kulturmanager ist er „einer der wichtigsten zeitgenössischen Dichter“, der so provokant wie experimentierfreudig war und sich immer wieder neu erfand. In seinem Band Friedrich Dürrenmatt – Visionen und Experimente hat er jetzt die Summe aus seinen zahlreichen Begegnungen mit dem Dichter und seinen Werken gezogen. Dass dabei auch der Zeichner und Maler Dürrenmatt mit in den Fokus gerät, ist kein geringer Vorzug der lesenswerten Studien.

Untergliedert sind Blochs Untersuchungen, die als Band 2 der vom Schweizerischen Literaturarchiv und vom Centre Dürrenmatt Neuchâtel herausgegebenen Dürrenmatt Studien  erschienen sind, in vier große Teile, umrahmt von einer Einleitung und einem Epilog. Resümiert erstere – nicht ganz ohne Groll – Dürrenmatts „kurzen Weg von der Verkennung zur Vereinnahmung“, erinnern sich im das Buch beschließenden Epilog zwei Freunde des Schriftstellers und Malers an die gemeinsamen Zeiten: Bloch selbst und der seit den 70er Jahren eng mit Dürrenmatt verbundene, 2009 verstorbene Hotelier, Galerist und Kunstsammler Hans Liechti.

Bloch, emeritierter Germanistik-Professor sowie unter anderem Gründer der seit 1993 jährlich stattfinden Nietzsche-Kolloquien und heute Vizepräsident der Stiftung Nietzsche-Haus in Sils Maria, hat 1969 als 32-jähriger Assistent am Deutschen Seminar der Universität Basel Dürrenmatt persönlich kennengelernt. Als Leiter einer studentischen Arbeitsgruppe, die sich als „Dokumentationsstelle zu Literatur und Sprache der Gegenwart“ verstand und dem Verhältnis von schweizerischen Gegenwartsschriftstellern zu Sprache, Zeit und Gesellschaft nachging, vereinbarte er mit dem in Neuchâtel wohnenden damaligen Co-Direktor des Theaters Basel einen Interviewtermin. Aus diesem ergab sich – obwohl Dürrenmatt das erste Treffen aufgrund einer schweren Erkrankung verschieben musste – eine bis zum Tod des Schriftstellers am 14. Dezember 1990 andauernde freundschaftliche Beziehung. Dürrenmatt sah sich von Bloch zunehmend verstanden; Bloch wiederum ließ das Werk Dürrenmatts, namentlich auch der einer größeren Öffentlichkeit lange verborgen gebliebene malerische und zeichnerische Teil desselben, von nun an nicht mehr los.

Friedrich Dürrenmatt – Visionen und Experimente dokumentiert in seinem ersten Teil die drei Gespräche, die Peter André Bloch zunächst gemeinsam mit Rudolf Bussmann, beim dritten Treffen dann mit Herbert Tiefenbacher in den Jahren 1969, 1970 und 1974 mit Dürrenmatt führte. Themen sind das Verhältnis des Schriftstellers zur Sprache, die Frage des künstlerischen Engagements in Dingen der Gesellschaft und schließlich die Bedingungen für das Schreiben in der damaligen Zeit.

Über die Wiedergabe der in drei Dokumentationsbänden zwischen 1971 und 1975 erschienenen und von Dürrenmatt vorab einer genauen Textredaktion unterzogenen Gespräche hinaus findet man im vorliegenden Band allerdings noch Bemerkungen des Verfassers zu den jeweiligen Gesprächssituationen sowie Zusammenfassungen jener Gesprächsteile, die in den gedruckten Texten, die sich ja hauptsächlich um das jeweils im Mittelpunkt stehende Thema zu bewegen hatten, keinen Platz fanden. Sie sind, mehr als 40 Jahre nach der Aufzeichnung der Interviews, heute fast der interessantere Teil der Dokumentation. Denn nicht nur Dürrenmatts weit gespannte Interessen und sein Hang zum die Themen munter wechselnden Monologisieren werden hier deutlich, sondern auch die Tatsache, dass sich der Schriftsteller in den letzten zwei Jahrzehnten seines Lebens zunehmend auf sich selbst zurückzog, zumal seine späten Werke von der Öffentlichkeit immer kritischer beurteilt wurden. Dass er die ihm von Bloch, Bussmann und Tiefenbacher eröffnete Chance nutzte, sich Menschen gegenüber, die sich mit seinen Texten auskannten, in nächtelangen Gesprächen zu öffnen, verwundert deshalb kaum.

Überhaupt versteht es Bloch ausgezeichnet, seine Analysen und Werkinterpretationen, die klugen und Bild und Text in innere Zusammenhänge stellenden Bemerkungen zum malerischen und zeichnerischen Kosmos Dürrenmatts zu präsentieren. Dazu zählt auch die den vierten Teil beschließende Würdigung des Stücks Achterloo, mit dem sich Dürrenmatt für immer vom Theater verabschiedete. Bloch würzt sie mit persönlichen Reminiszenzen und kleinen Anekdoten, die den Menschen Friedrich Dürrenmatt ins Licht rücken.

Der konnte gelegentlich anstrengend sein – wie auch der Freund Hans Liechti in dem den Band beschließenden Gespräch bestätigt: Ein „nie zu bremsender Krampfer“ sei Dürrenmatt gewesen, liest man da. Andererseits war er aber auch für jede Aufmerksamkeit dankbar, freigebig und Genüssen, die er sich auf Grund seiner angegriffenen Gesundheit eigentlich nicht leisten durfte, nicht abgeneigt. In diesem Zusammenhang liest sich ein Telefongespräch, das Dürrenmatt mit einem Gymnasiasten, der sich am Vorabend eines Referats über den Winterkrieg in Tibet kurzentschlossen per Telefon mit dem Autor der Erzählung in Verbindung setzte, besonders berührend. Obwohl zunächst von dem Ansinnen des unbekannten Anrufers überrascht, gab Dürrenmatt anschließend umfassend Auskunft auf die Fragen des Schülers, korrigierte freundlich dessen Aussprachefehler – Tíbet statt Tibét – und wünschte anschließend noch viel Glück für den nächsten Tag.

Als einer, der nie zufrieden war, erscheint Dürrenmatt unterm Strich in Peter André Blochs Studien. Einer, der seine Werke ständigen Veränderungen unterzog, ergänzte, erweiterte, korrigierte, zurücknahm und neu ansetzte. Kein Gedanke blieb dabei ohne sein Gegenteil. Um sich – literarisch wie bildkünstlerisch – auszudrücken, stand ihm ein ungeheurer Fundus an überlieferten Texten zur Verfügung. Wie kaum ein anderer Schriftsteller seiner Zeit kannte er sich in den biblischen, griechisch-römischen, französischen, englischen und amerikanischen literarischen Traditionen aus, war bewandert in Naturwissenschaften und Philosophie, las theologische Standardwerke und Astronomie-Lehrbücher gleichermaßen. Dabei verstand er Schreiben hauptsächlich als „menschliches Dokumentieren […] menschliches Säen“ und bekannte: Es „ist wie in der Bergpredigt: Man sät, aber man weiß nicht, was man erntet, man weiß nicht, wohin die Körner fallen.“

Im 1970er Werkstattgespräch mit Bloch und Bussmann antwortete Dürrenmatt auf die Frage, was er mit der Behauptung meine, alles Existierende enthalte auch zugleich eine Chance, unter anderem: „Nun ist die Welt, in der wir leben, unmoralisch, sie ist nicht richtig, und die Frage stellt sich nun immer, wie können wir in einer nichtrichtigen Welt richtig leben.“ Es ist dies ein Problem, das sich uns Heutigen mindestens mit der gleichen Dringlichkeit stellt. In diesem Sinne kann nicht die Rede davon sein, dass das, was Friedrich Dürrenmatt seinen Zeitgenossen zu sagen hatte, nun, mehr als zweieinhalb Jahrzehnte nach seinem Tod, endgültig antiquiert sei. Gut, dass deshalb auch der vorliegende Band von Peter André Bloch mit dafür sorgt, dass der Mensch Dürrenmatt, sein Ringen mit den Angelegenheiten einer als absurd begriffenen und auf ihren Untergang hinarbeitenden Welt und das sich daraus ergebende literarische und zeichnerisch-malerische Werk nicht vergessen werden.

Titelbild

Peter André Bloch: Friedrich Dürrenmatt – Visionen und Experimente. Werkstattgespräche – Bilder – Analysen – Interpretationen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2017.
380 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835331129

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