Lebenslügen einer Familie

Über Philip Bloms Roman „Bei Sturm am Meer“

Von Monika GroscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Grosche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Benedict sitzt alleine in einem Hotelzimmer in Amsterdam. Das, was ihn dort hingeführt hat, ist aber kein Städtetrip oder eine Geschäftsreise, sondern vielmehr der Tod seiner Mutter Marlene. Diese ist nach mehrmonatigem Ringen einem Krebsleiden erlegen und nun will Benedict als einziger Hinterbliebener die Beisetzung in Amsterdam regeln. Makabrerweise ist jedoch die Urne mit der Asche auf dem Postweg verloren gegangen. Während das Beerdigungsinstitut nun mit der Suche nach den sterblichen Überresten beschäftigt ist, bleibt ihm nichts anderes übrig, als zu warten.

Er beschließt, die Tage in Amsterdam nicht einfach zu vergeuden, sondern in einem Brief an seinen Sohn ein Resümee seines bisherigen Lebens zu ziehen. Je mehr er schreibt, desto tiefer taucht er ein in die Vergangenheit und merkt, dass der Tod seiner Mutter und die unerwartete Zwangspause in seinem Leben durch die verschwundene Asche eine Zäsur darstellen. Nun ist er ganz allein auf sich gestellt, da seine Ursprungsfamilie nicht mehr existiert. Umso dringender stellt sich ihm die Frage, ob er seinem Sohn der Vater sein kann, der er sein möchte – oder ob er ebenso aus dem Leben des Vierjährigen verschwinden wird, wie sein Vater damals, als er im gleichen Alter war.

Doch während bei ihm eine mögliche Trennung von Kind und Partnerin eine Frage seines Willens ist, hatte sein Vater damals keine Wahl. Dieser wurde als Reporter auf einer Reise in Lateinamerika entführt und verschwand spurlos, während Marlene und Ben allein in Hamburg zurückblieben. – Das zumindest ist die Geschichte, mit der Ben aufgewachsen ist und an der Marlene bis zum bitteren Ende festhielt.

Umso erstaunter ist der 44-jährige, als er während und nach der Beisetzung seiner Mutter auf ganz neue Informationen stößt. Diese führen ihn zu einer unbekannten Frau, die ihm die Wahrheit über den ins Heldenhafte stilisierten Übervater verrät und letztendlich die Wahrheit über die damaligen Geschehnisse offenbart.  Zu seinem Erschrecken erkennt Benedikt nicht nur, dass er seinem Vater aüßerlich ähnelt. Auch einige Charakterzüge scheint er von ihm übernommen zu haben, obwohl er ihn zutiefst verachtet. Und so setzt er alles daran, das ebenso tragische wie absurde Familiendrama gänzlich aufzudecken.

Dementsprechend erzählt der Roman nicht nur die Geschichte seiner Kindheit, sondern begibt sich auch auf die Spurensuche nach der Jugend der Mutter, die sich ihrerseits scheinbar erfolgreich gegen ihre übergriffige Mutter gewehrt hatte. Diese hatte ihre im Krieg zerplatzten Träume von einer Schauspielkarriere auf die Tochter übertragen, die den hohen Erwartungen jedoch nicht gerecht wurde. Letztendlich blieben beide Frauen in einem Netz aus Enttäuschung, Konkurrenz und gegenseitigen Schuldzuweisungen gefangen, sodass sie kaum fähig waren, zu ihrem Sohn beziehungsweise Enkel eine positive Beziehung aufzubauen.

Ob er dies gegenüber seinem Sohn bewerkstelligen kann, weiß Benedikt zum Zeitpunkt seines brieflichen Bekenntnisses noch nicht. Doch auf jeden Fall möchte er, dass dieser als Erwachsener lesen und nachvollziehen kann, wie die Familiengeschichte aussah, die seinen Vater geprägt hat.

Mit Bei Sturm am Meer legt der Historiker und Autor Philip Blom einen sehr nachdenklichen Roman vor, der das Konstruieren von Lebenslügen in den Mittelpunkt des Geschehens rückt. Seine Figuren fühlen sich fast ausnahmslos äußeren Bedingungen und Zwängen ausgeliefert, aus denen sie kein wirkliches Entkommen sehen. So lässt er die eine in den Alkohol, die andere in die Mystifizierung eines Ex-Partners flüchten, während er die Hauptfigur Benedikt nach Jahrzehnten des inneren Rückzugs an einen Wendepunkt stellt, dessen Ausgang offen bleibt: Wird er sich für seinen Sohn und den Versuch eines familiären Neubeginns entscheiden oder sucht er einen radikalen Weg ganz für sich allein? Beinahe sachlich und in leiser Tonart, aber mit enormem Tiefgang transportiert Blom große Gefühle und schafft es dabei, spannungsgeladen bis zum Ende den Leser in den Bann zu ziehen.

Titelbild

Philipp Blom: Bei Sturm am Meer. Roman.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2016.
221 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783552057937

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