Wirklichkeit und Mythos

Für „Sara“ lässt Bob Dylan kurzeitig seine Maske fallen, für „Isis“ setzt er sie wieder auf

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

1.

Bob Dylan, so der populäre Mythos, ist ein Mann, der nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern vor allem auch in seinen Texten seit jeher eine Maske getragen hat. Kein Wunder also, dass er auf seiner legendär gewordenen „Rolling Thunder“-Tour im Jahr 1975 mit weiß geschminktem Gesicht auf der Bühne stand, umringt von einer Art musikalischem Wanderzirkus, und die Songs seines kommenden Albums Desire spielte. Das Ungewöhnliche an dem Album war, dass Dylan bis auf zwei Ausnahmen die Texte gemeinsam mit dem Dramatiker (und Psychoanalytiker) Jacques Levy verfasst hatte. Das Ergebnis waren unter anderem eine Rückkehr zum politischen Aktivismus in Gestalt des in Folk-Storytelling-Form gehaltenen „Hurricane“, eine überlange Gangsterballade („Joey“), eine Hommage an Joseph Conrad und Ernest Hemingway („Black Diamond Bay“) sowie eine seltsame, mystische Abenteuergeschichte namens „Isis“ (von der später noch die Rede sein wird). Da war aber auch ein außergewöhnlich intimer, persönlicher Song – einer der beiden, die ohne Levys Beteiligung entstanden ist, der den Namen von Dylans damaliger Ehefrau trägt, „Sara“. In diesem scheint der Sänger plötzlich jene mythenumrankte Maske fallen zu lassen und ganz bei sich selbst zu sein im Wunsch, seiner Frau eine ehrliche, mit autobiografischen Anekdoten gespickte Liebeserklärung darzubieten. Daher ist eine weit verbreitete Sichtweise unter Rezipienten, „Sara“ sei eines der äußerst seltenen Lieder, vielleicht sogar das einzige in seiner Karriere, in dem Bob Dylan ganz Robert Zimmerman ist, in dem er keine Maske trägt, keine Rolle spielt; ein lyrisches Ich also, das mit dem Dichter mehr oder weniger eins ist, die Form des Liebeslieds ganz in der Tradition des Minnesangs dafür verwendend, seiner Ehefrau zu schmeicheln.

Und tatsächlich finden sich in dem Text mehrere autobiographische Bezüge. Da ist zunächst der Name der Besungenen, Sara, der schließlich dem von Dylans damaliger Ehefrau Sara Lowndes entspricht. Er erinnert sich an einen gemeinsamen Strandurlaub, ‚als die Kinder noch Babies waren und am Strand spielten‘. Tatsächlich hatte das Paar mit seinen kleinen Kindern 1965 inmitten des Trubels um Dylans öffentliche Person einen kurzen Strandurlaub in Portugal genossen. Und da ist natürlich die wohl berühmteste Zeile des Gedichts, die seinerzeit den zahllosen Dylanologen wie ein Schlüssel zu einem der kryptischsten Texte aus Dylans Frühwerk geschenkt wurde, „staying up for days in the Chelsea Hotel / writing ‚Sad Eyed Lady of the Lowlands‘ for you“. Dylan hatte also den berühmten letzten Song auf seinem Meisterwerk Blonde on Blonde aus dem Jahr 1966 für Sara Lowndes geschrieben. Diese, und weitere, autobiographische Skizzen vereinen sich also zu einem Bild, das Dylan 1975 von seiner Ehe zeichnet, die er trotz der großen Krise, in der sich die beiden damals befanden, glorifiziert und als von einer Liebe gekennzeichnet darstellt, die unerschütterlich ist. Vielleicht, so die naheliegende Theorie, wollte er seine von ihm getrennt lebende Frau auch einfach wieder zurückgewinnen.

Der Musiker und Dichter Larry „Ratso“ Sloman, ständiger Begleiter Dylans auf der Rolling Thunder Tour, hat eine sehr konkrete Erinnerung an die Aufnahmen des Songs zu Protokoll gegeben. Ende Juli 1975 arbeitete Dylan im Studio gerade am Desire-Album, als Sara Lowndes vorbeikam. „Plötzlich wandte sich Dylan seiner Frau zu und sagte zu ihr: ‚Das ist für Dich!‘. Er tauchte völlig in diesen unwiderstehlichen Song ein, den er für sie in diesem Sommer in den Hamptons geschrieben hatte.“ Und auch Jacques Levy kann sich an den von Sloman beschriebenen Augenblick erinnern: „Dylan sang für seine Frau, die ihn von jenseits der Glasscheibe betrachtete. Es war außergewöhnlich. Man hätte eine Nadel fallen hören können. Und es hat funktioniert. Danach sind sie wieder zusammengekommen.“

Oliver Trager bezieht sich ebenfalls auf diese Geschichte, schreibt die Beobachtung jedoch allein Levy zu und deutet an, dass sie auch durchaus Teil der Dylan-Mythologie sein könne, in der man sich nie sicher sein könne, wieviel Wahrheit darin steckt. Doch auch er sieht in seiner Bob Dylan Enzyklopädie „Sara“ als eine der großen Ausnahmen in Dylans Katalog an: „simple, sentimental, soul-baring and autobiographical“. Für einen Künstler, der zeitlebens sehr hart daran gearbeitet habe, Analysen seines Werkes zu erschweren und vor allem autobiografische Elemente zu vernebeln, sei der Song ein ‚Augen öffnender Moment‘.

2.

Der Text beginnt und endet mit einer Szene am Strand. Das lyrische Ich erinnert sich zu Beginn, wie es einst auf einer Düne lag und seinen kleinen Kindern beim Spielen im Sand zuschaute. Es ist das Heraufbeschwören einer vergangenen Idylle, das in der ersten Strophe stattfindet, sentimental, aber nicht resigniert; vielmehr scheint dem Sänger die Erinnerung Kraft zu verleihen und ihn seiner Liebe zu versichern, auch wenn Sara, deren Name am Ende dieser und jeder weiteren Strophe besungen wird, sich offenbar zu seiner Verwunderung ‚anders entschieden‘ hat. Nach einer weiteren, detaillierten Beschreibung der spielenden Kinder folgt ein Lobgesang auf Sara, sie wird als „sweet virgin angel, sweet love of my life“ sowie als „radiant jewel“ und „mystical wife“ besungen. In der dritten Strophe teilt das lyrische Ich weitere Erinnerungen, wohl aus dem gleichen Urlaub in Portugal: man schläft im Wald an einem Lagerfeuer, trinkt Rum in einer Bar, die Kinder werden mit Märchen unterhalten, und der Sänger ist sich sicher: Sara zu lieben ‚ist die eine Sache, die ich nie bereuen werde‘.

In der vierten Strophe erinnert er sich an seine Zeit im New York der 60er Jahre, als er sich tagelang im Chelsea Hotel einmietete und „Sad Eyed Lady of the Lowlands“ niederschrieb. In der fünften Strophe geht die Erinnerung noch weiter zurück; er versucht, sich an das erste Treffen zu erinnern, doch sein Gedächtnis liefert ihm nur einzelne Bilder, die er zu Metaphern formt; es ist die einzige leicht kryptische Strophe des Songs, in dem das lyrische Ich von einem Boten erzählt, der ihn inmitten eines Tropensturms ausgesendet hat (aber möglicherweise ist auch hier ein autobiographischer Verweis enthalten). In der letzten Strophe kehrt seine Erinnerung zurück an den Strand vom Anfang; doch nun ist er verlassen, nur Seetang und die letzten vermoderten Reste eines gestrandeten Schiffs sind zu sehen, es ist ziemlich naheliegend, diese als Metapher für die sich in Auflösung befindende Liebe zu deuten. In den letzten Zeilen beschwört er seine Angebetete, jene ‚glamouröse Nymphe mit Pfeil und Bogen‘ noch einmal: „Don’t ever leave me, don’t ever go.“

Dargeboten wird der Song mittels eines nuancierten, für Dylans Verhältnisse durchaus emotionalen Vortrags. Sein Flehen am Ende jeder Strophe, wenn er die Geliebte besingt, wirkt durchaus authentisch, sodass man vermuten könnte, er möchte dem Hörer tatsächlich einen Einblick in sein Innenleben gewähren, oder dass er zumindest die Rolle des gepeinigten Liebhabers sehr gut spielt. Der Klang der Stimme sei hier alles, so Dylans Biograph Paul Williams, „der Text kommt nach dem Lied und das Lied nach der Darbietung, dem letzten Element des künstlerischen Schaffens.“ Er argumentiert, dies sei der Tatsache geschuldet, dass „Dylan völlig unmißverständlich von sich selbst erzählt“, auch wenn er hierfür keine Belege liefert außer den autobiographischen Hinweisen, die sich im Text finden lassen.

In diesem Zusammenhang ist es interessant, einen kurzen Blick auf die performativen Aspekte zu werfen: „Sara“ gehörte allabendlich zum Set der „Rolling Thunder“-Tour, es war eines der sechs Stücke des noch unveröffentlichten Desire, die er auf dem ersten Teil der Tour spielte. Dank des im Frühjahr 2019 erschienenen Boxsets mit mehreren Konzerten aus dieser ersten Phase der Tournee lassen sich Dylans Vorträge des Stücks sehr gut miteinander vergleichen. Tatsächlich gewinnt man bei den vier beigelegten Auftritten aus dem November 1975 den Eindruck eines eher routinierten Vortrags – anders etwa als bei den verschiedenen Versionen seines Comebacks als politischer Aktivist, „Hurricane“, dem er stets versucht, eine persönliche, emotionale Note zu verleihen. Gerade das Moment des Flehens gerät bisweilen fast zur Parodie, wenn Dylan den Namen seiner Ehefrau wie ein Südstaatler verzerrt: „Sai-ra“ erklingt es da aus seinem Mund und allein das nimmt dem Text seine Dringlichkeit. Erstaunlicherweise ist dies beim Auftritt vom 4. Dezember in Montreal nicht mehr der Fall, als Dylan die – vergleicht man die vorhandenen sechs Konzertaufnahmen – emotionalste Darbietung des Stücks gewährt. Warum dies so ist, können in Zukunft vielleicht findige Dylanologen klären.

3.

Bob Dylan selbst sagte seinerzeit im Interview mit dem Rolling Stone, er wisse eigentlich gar nicht, ob er „Sara“ für seine Frau geschrieben habe, oder vielleicht doch eher für ein Idealbild von ihr, das er mit sich herumgetragen habe. Heinrich Detering sieht auf dem Album Desire drei Arten der Inszenierung der Geliebten: als die „archaische Muttergottheit, die Liebende und Geliebte des Osiris im ägyptischen Mythos und in den daraus hervorgehenden römischen Mysterienkulturen“, als „mystische Seelenschwester in der jüdisch-christlichen Vorstellungswelt von Tod und Auferstehung“ in „Oh Sister“ sowie schließlich die „reale Ehefrau“, deren Name allerdings „glücklicherweise auch derjenige der biblischen Ehefrau Abrahams ist“. Er schließt daraus, dass Dylan in „Sara“ eine „gewissermaßen lebensweltliche Übertragung des mythischen Modells in die autobiographische Gegenwart“ betrieben habe, die Fortsetzung eines Mysterienspiels rund um die Liebe, das er mit dem Album Blood On The Tracks ein Jahr zuvor begonnen habe. Und auch Paul Williams merkt nach seinen Ausführungen zu Sara an, im Grunde spiele es überhaupt keine Rolle, ob Dylan eine Frau namens Sara gehabt habe: „Sie und der Mensch, der für sie singt, könnten erfunden sein, und es wäre immer noch dasselbe klassische Liebeslied.“

Gerade in diesem Zusammenhang scheint es daher von Bedeutung, einen Blick auf den Kontext jenes Albums zu werfen, auf dem der Song veröffentlicht wurde. Desire folgt auf die traurigen Liebeslieder von Blood on the Tracks, einer Platte, auf der Dylan seine Ehe recht schonungslos verarbeitete. Nun also ein Album, dem er den Titel „Verlangen“ gibt, und dass sich diesem Motto auf mehreren Ebenen annähert. Die Emotionen stehen auf diesem Album noch mehr im Mittelpunkt als auf dem zumindest musikalisch manchmal etwas unterkühlten Vorgänger; die (bisweilen etwas schräg klingende) Geige der Straßenmusikerin Scarlett Rivera schenkt den Kompositionen eine raue, exaltierte Emotionalität; Dylan versucht, dieser mit seinem Gesang zu folgen. Und es sind zwei Liebeslieder – oder präziser gesagt: Lieder über die Ehe – welche die Platte rahmen. Am Ende steht „Sara“, am Anfang (nach dem Aktivisten-Stück „Hurricane“) folgt „Isis“, „a song about marriage“, wie ihn Dylan bei der „Rolling Thunder“-Tour regelmäßig ankündigte.

„Isis“, anders als „Sara“ gemeinsam mit Jacques Levy geschrieben, geht die Darstellung der Ehe jedoch gänzlich anders an als das simple und emotional offene „Sara“: Nur in der ersten und in der letzten Strophe des langen Textes berichtet das lyrische Ich von der Ehe mit Isis: „I married Isis on the 5th day of May, but I could not hold on to her very long“, beginnt der Song. Wir erfahren nichts über ihn, über Isis oder über ihre Beziehung, denn alsbald bricht der Sänger auf und begibt sich auf eine surreale Abenteuerreise um die halbe Welt, die er in zehn Strophen eindringlich schildert. Am Ende dieser Odyssee kehrt er heim zu Isis, die ihn nur fragt, wo er denn gewesen sei, worauf er ausweichend antwortet: „No place special“, und ob er denn nun gedenke zu bleiben, worauf er sich nur ein lakonisches: „If you want me to, yeah“ abringt. In der in Lyrics gedruckten Fassung antwortet er allerdings “Yeah, I jes might“ (was sich auch auf das vorangegangene Zeilenende „quite“ reimt), zeigt also eine deutlich reserviertere Reaktion auf die Frage seiner Frau.

Am Ende des Textes erkennt man jedoch eine Parallele zu „Sara“, als er die Geliebte nämlich als „mystical child“ (das in „Sara“ ja wie gesehen zum „mystical wife“ wird) besingt, allerdings ergänzt, „what drives me to you is what drives me insane“. Es ist also naheliegend, „Isis“ und „Sara“ als zwei Seiten einer Medaille zu sehen: Ersteres nämlich ist der Bericht eines herumstreunenden Abenteurers, der am Ende seiner Irrfahrten nach Hause kommt, den Leser/Hörer jedoch in einen Zwiespalt entlässt: Warum benennt er das Lied nach der Frau, die im Grunde nur eine Randfigur im Text ist, und verwendet ganze zehn der dreizehn Strophen auf den Bericht über seine absurd wirkenden Abenteuer? Das Interessante an „Isis“ ist letztlich, dass man natürlich versuchen kann, die ganze Symbolik der langen Grabraub-Episode mit dem ägyptischen Namen der Geliebten irgendwie in Einklang zu bringen, um zu einer mehr oder weniger schlüssigen Interpretation zu kommen. Man könnte allerdings auch einfach einen Blick auf die thematische Gewichtung der Strophen werfen, um so die emotionale Verwirrung eines unsicheren Mannes offenzulegen, der sich – und hier sind wir wieder bei der anderen Seite der Medaille, „Sara“, angelangt – überwinden muss, um schließlich um Verzeihung zu bitten.

„Isis“ kann daher als Text über einen Mann gelesen werden, der den Wert von Treue und Vertrauen noch nicht entdeckt hat. Sein Streunen wird allerdings nicht anhand seiner außerehelichen Beziehungen mit anderen Frauen beleuchtet, sondern anhand der Begegnung mit einem anderen Mann, der ihn von ‚falschen‘ Idealen überzeugt: Gier, Erfolg, Reichtum. Erst muss er diesen Mann an seinem Eifer sterben sehen, um sich der wahren Werte im Leben zu besinnen und nach Hause zu Isis zu reiten. Doch so richtig überzeugt scheint er auch nach der Irrfahrt nicht: ‚Naja, wenn du es so willst, dann bleibe ich eben…’

So könnte man die Behauptung aufstellen, dass das lyrische Ich von „Isis“ und „Sara“ dasselbe ist: Der eine verwendet eine krude Abenteuergeschichte als Allegorie auf seine ehelichen Verfehlungen und seiner steten körperlichen wie emotionalen Abwesenheit, der andere besingt eine gemeinsame Vergangenheit, wohl nur ein kleiner Ausschnitt, dem er aber im Zuge seines Willens zur Versöhnung ein übergroßes Gewicht verleiht. Demnach kann man im Handlungsverlauf auch einen Lernprozess abgebildet sehen. Der Erzähler von „Sara“ braucht keine Allegorien, keine Mythen und keine Geschichten mehr, um sich zu seiner Liebe zu bekennen.

Dass Bob Dylans Versuch, seine Ehe mit einem Song zu retten, letztlich gescheitert ist (selbst wenn es für eine kurze Zeit anders aussah), beweist auch eine interessante Anekdote: Irgendwann schmiss Dylan „Sara“ aus seinem Live-Set raus und ersetzte den Song durch „Idiot Wind“, die wohl bösartigste Attacke auf ein Mitglied des anderen Geschlechts, die er jemals geschrieben hat: „You’re an idiot, babe, it’s a wonder that you still know how to breathe.“

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zur Reihe „Lyrik aus aller Welt. Interpretationen, Kommentare, Übersetzungen“. Herausgegeben von Thomas Anz und Dieter Lamping.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz