Bedrohte Majestäten

Wilhelm Bodes Porträt „Hirsche“ verbindet Natur- und Kulturkunde

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit einigen Jahren fungiert Judith Schalansky als Herausgeberin der sorgfältig edierten, bibliophil und liebevoll gestalteten sowie literarisch kostbaren Reihe „Naturkunden“ im Matthes & Seitz Verlag. Die schmalen Bände verknüpfen zoologische, historische und umweltorientierte Reflexionen, sind aber nicht programmatisch im Sinne einer politischen Partei gestaltet. Die Autoren möchten Sensibilität für die Natur wecken, auf Folklore und Verklärung jeglicher Art wird verzichtet.

Auch Wilhelm Bode, Naturschützer und Jäger zugleich, stilisiert sich nicht als sentimentaler, schwermütiger Waldgänger, der versonnen die scheuen Majestäten und putzigen Rehkitze aufspürt. Dass erlegte Wildtiere genussvoll, als Gaumenfreude und Delikatesse, verspeist werden können, weiß er wohl. Sein Buch über Hirsche ist auch geschichtlich höchst bemerkenswert. Fast beiläufig verdeutlicht Bode, dass „Görings Reichsjagdgesetz“ von 1934 im Einklang stand mit der „Rassenhygiene der Nazis“. Die „weidgerechte Trophäenjagd“ folgte der dumpfen Ideologie und den Selektionsprinzipien des NS-Staates. Der Jäger ersetzte die Evolution. Das Wild wurde nach „Trophäenklassen“ sortiert, der „gut oder schlechte veranlagte Erbträger“ vom Jäger, der auf dem Hochsitz kostümiert saß, „gottgleich“ erschossen. Mit bitterer Ironie schildert Bode den Waldzustand von 1945: „Die Reviere waren während des Endsiegs und danach leer geschossen, darum bedurfte es nicht nur des Wiederaufbaus der Städte, sondern auch der Wildbestände.“

Der Forstwissenschaftler Bode erlebte im Lauf des Studiums zudem die „pure Ideologie“ der Forstwissenschaft. In Deutschland gab es zwar eine Vielzahl von Bäumen, aber von einem naturwüchsigen Wald fehlte fast jede Spur. Die Macht der „fachlichen Denkschemata“ lag dem systematisch angelegten deutschen „Försterwald“ zugrunde. Eine „naturnahe Waldwirtschaft“ fand nicht statt: „Forstakademiker lernen bis heute nicht, ihre naturfernen Monokulturen zu hinterfragen oder zu analysieren. Das gilt genauso für Jäger, die die weidgerechte Trophäenjagd als angeblich jahrhundertealtes Kulturgut erlernen und nicht infrage stellen dürfen.“ Wilhelm Bode hätte noch eine kurze Kritik des Liedgutes ergänzen können. Auch die Kulturlandschaft Oper, nämlich etwa Carl Maria von Webers „Der Freischütz“ und dessen sentimental-romantische, später bildungsbürgerlich beliebte Inszenierung von Jagdfantasien, hätte betrachtet werden können.

Hirsche, so Bode, ähnelten den Kühen, denn sie seien ebenfalls Wiederkäuer. Die Besonderheit dieser tagaktiven Tiere gegenüber anderen Hornträgern liege darin, dass sie jährlich ihr Geweih abwürfen und erneuerten: „Die zoologische Familie der Hirsche gehört zur Ordnung der Paarhufer und Unterordnung der Wiederkäuer. Deren Physiologie bestimmt ihre Lebensweise und befähigt sie zur Anpassung an die unterschiedlichsten Lebensräume. Als Wiederkäuer sind sie Pflanzenfresser, die schwer aufzuschließende Nahrung verwerten können.“

Der Rothirsch wurde nationalistisch vor 1945 zum „Deutschen Edelhirsch“ erhoben. Aber Hirsche waren und sind in ganz Europa anzutreffen. Die Hirschrudel seien streng hierarchisch gegliedert, eine „raue Ellbogengesellschaft“. Bode weist darauf hin, dass Hirsche schon für die Neandertaler eine „optionale fleischliche Nahrungsquelle“ darstellten. Zugleich aber legt er dar, wie dominant die „Jagdideologie“ sei. Der Mensch sei mitnichten ein „genetisch fixierter Jäger“, sondern von seinem Gebiss her „eindeutig“ als „primärer Pflanzenesser“ anzusehen: „Das Jagd-Gen ist also ein manifestes Ideologem von Jagd heute – ein Hirngespinst.“ Kulturell sei der Hirsch ein „Ganzheitssymbol“, einerseits „Wegweiser des Guten“, andererseits „Verlockung der Verderbnis“: „Für uns hirschverliebte Menschen – zuvorderst für alle geweihfixierten Jäger – kann der Hirsch ein zentrales Motiv für vorbildhafte Verantwortung für alle Wildtiere und ihre gefährdeten Lebensräume in einer zerstörten Kulturlandschaft sein. Oder aber das Prestigeobjekt einer Trophäenjagd, die darauf keine Rücksicht nimmt.“ Insbesondere macht Bode deutlich, mit Blick auf die deutsche Jagdgeschichte, wie das Rot- und Schwarzwild vom „Jagdtross der Fürsten“ zunächst erbarmungslos gehetzt und dann „unter Anwesenheit des gesamten Hofstaates mit großem Pomp und vermeintlich amüsanten Tötungstechniken zur Strecke gebracht“ wurde: „Man erfreute sich – quasi wie auf einer Theaterbühne – am Todeskampf der gequälten Hirsche und Wildschweine mit den sie im Blutrausch hetzenden Hunden und feierte die weniger todesmutigen Edelmänner, die den Tötungsakt an den erschöpften Kreaturen vollzogen. Man war stolz auf das unterhaltsame Gemetzel, was die Hofmaler in detailreichen Szenerien zur Ausschmückung der Schlösser festhielten, die jeden Tierschützer anwidern.“ Unter Wilhelm II., den Bode als „Trophäenkaiser“ bezeichnet, führte die maßlose „Jagdlust“ zu „untragbaren Wildschäden“. Erschwerend komme für das Wild und seinen bedrohten Lebensraum heute hinzu, dass aus den Mittelgebirgen nun „Fichtenplantagen“ geworden seien.

Nüchtern schreibt der Autor: „Jagd ohne Tierschmerz bleibt pure Theorie.“ Bode fragt, ob die „Hege von hochsensiblem, ökologisch und verhaltensbiologisch anspruchsvollem Rotwild in unserer Kulturlandschaft“ verantwortet werden könne. Er skizziert eindrücklich, dass die „Lebensraumansprüche“ des Rotwildes sichergestellt sein müssten, wenn man dieses „bejagen“ wolle. Wer die Hirsche beobachte, sei „fasziniert von der Würde, Gelassenheit und Ruhe, die sie als tagaktive Tiere ausstrahlen“, als „wahrlich majestätische Individuen in einer hochkomplexen Hirschgesellschaft“. Der Rothirsch, von seiner Natur her ein Tier „offener Lebensräume“, sei also mitnichten ein „stolzer König der Wälder“, vielmehr ein „geschlagener Feldherr ohne Reich“, somit ein „Gefangener im Waldesdunkel“. Der Hirsch sei ein „bejammernswertes Geschöpf“, eine „arme Sau, mit der niemand tauschen möchte“:

Ihn zu erlegen ist keine Kunst, wenn man ihm auf seinem Rückwechsel von der Fütterung oder der Äsungsfläche zurück in seinen Tageseinstand auflauert oder ihn bei Neuschnee einkreist und aus seinem Angstversteck herausdrückt. Wäre Jagd angewandter Naturschutz, wie die Jägerlobby behauptet, würde sie ihre Mitglieder an anderen Zielen orientieren als an der Trophäe.

Wilhelm Bode selbst jagt Wildtiere, nicht aber in „intakten Naturlandschaften“: „Jagd heißt seitdem für mich ausschließlich, die jagdbare, wildlebende Tierwelt unserer Kulturlandschaft zu nutzen und selbst meinen Beitrag zu leisten, dass sie sich vielfältig und für uns Jäger reich gebärend entwickelt – und natürlich als Lebensraum für den majestätischen Rothirsch.“ So sei das Reh mittlerweile, auch bedingt durch den Klimawandel, zu einem „echten Problem“ geworden. Damit der Bestand nicht weiter anwachse, müssten Rehe „wenigstens in Höhe ihrer jährlichen Geburtsrate“ erlegt werden. Das Reh, diese „Primaballerina mit graziler Eleganz“? Disneys Bambi einfach töten und verspeisen? Wilhelm Bode ergänzt kulinarische Betrachtungen: „Längst wurde das sympathische Reh zur Standardbeute des Jägers und liefert der Wildküche schmackhaftestes Fleisch.“ Dieser kluge und kenntnisreiche Band bereichert die vorzügliche Reihe „Naturkunden“ ungemein. Der Leser erfährt einiges über den Wald und seine Wildtiere – und über deutsche Jäger in Geschichte und Gegenwart.

Titelbild

Wilhelm Bode: Hirsche. Ein Portrait.
Herausgegeben von Judith Schalansky.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2018.
156 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783957576729

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