Von Parkplätzen, Bier und toten Kühen

Über Philipp Böhms eigenwilliges Debüt „Schellenmann“

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Literatur überrascht immer wieder aufs Neue, so auch das Debüt des 1988 in Ludwigshafen geborenen Philipp Böhm, das unter dem Titel Schellenmann im Verbrecher Verlag erschienen ist. Überraschend ist dieses sprachlich durchgängig sichere Buch aufgrund der Vermeidung fast jeglicher Bezeichnungen. Weder Orte noch Gegenstände tragen Namen oder Fabrikate. Böhm will damit möglicherweise auf das Universelle seiner Geschichte verweisen, auch wenn sie nicht in einer Metropole, sondern in einer kleinen Stadt im Tal angesiedelt ist. Bereits auf der ersten Seite des Romans erhält man für den Fortgang der Handlung  wichtige Informationen. Zwei der Protagonisten werden benannt, Jakob und Hartmann. Außerdem wird sofort die Grundstimmung skizziert – es sterben sowohl Eichhörnchen als auch Kühe. Auch ein weiterer Hinweis wird gleich zu Beginn gesetzt: die Ortlosigkeit und Unbehaustheit, das Fehlen von so etwas wie Heimat, Wurzeln, sozialen Gruppierungen.

Jakob war ein ängstlicher Junge, dessen Bezug zur Welt sich änderte, als er Hartmann traf, der ihm zuhörte, der ihn beschützte, ihm schließlich eine Arbeit in der Fabrik verschaffte. Woher Hartmann kam, ist nicht bekannt. Und jetzt, da Jakob nicht weiß, wo Hartmann ist und ob er wiederkommen wird, fühlt er sich verlassen, alleine. Der Großteil von Schellenmann spielt innerhalb dieser Zeitspanne, zwischen Jakobs 16. und 19. Lebensjahr. „Jakob weiß nicht, was in der Fabrik eigentlich produziert wird“, heißt es an einer Stelle des Buches. Diese Aussage kann einerseits auf den Arbeitsprozess, auf die Fabrik als Hersteller von wasauchimmer gelesen werden. Sie kann aber auch weitergehend auf den Roman bezogen werden, da der Leser aufgrund der oben genannten Unbestimmtheit von Region und Zeit selbst nicht weiß, wo er sich befindet und welche Geschichte „eigentlich produziert“ wird.

Die Fabrik und in ihr die Maschine sind zentral für diesen artifiziellen Erstling. Bis auf wenige andere Orte – Bushaltestelle, Parkplatz, Kneipe – ist es die herausragende Begegnungsstätte. Hier trifft Jakob andere Menschen, Kollegen, Vorgesetzte (allesamt Männer). Der Arbeitsplatz als Ort der sozialen Interaktion, als identitätsstiftende Klammer, als Rettung vor der Hilflosigkeit des Individuums in der Welt, vor Einsamkeit und Isolation. Man mag an die Entfremdung des Einzelnen vom Produktionsprozess denken, an die Übermacht der Maschinen. Böhm lässt offen, welche Funktionen die Fabrik für sein Buch hat. Sie wirkt, vor allem durch die Maschine als Herz des Betriebes, wie ein dunkel pochender Organismus, wie ein Element aus Franz Kafkas Schreibuniversum oder eines expressionistischen Films, gleichsam wie eine überirdische technoide Gottheit. Dazu passt die Lektüre, auf die Jakob von seinen Kollegen einmal angesprochen wird: Er liest H. G. Wellsʻ Krieg der Welten, was sie ihm durchgehen lassen. Die Bibel allerdings sei verboten, ermahnen sie ihn. Ob das von der Unternehmensführung kommt, wird nicht erwähnt, ob es mit dem berühmten Marxʻschen „Opium des Volkes“-Spruch in Verbindung gebracht werden kann, bleibt dem Leser überlassen.

Schellenmann ist ein rätselhaftes Buch, das durch Kälte und Härte geprägt ist. Gefühle spielen in diesem Roman an der Oberfläche keine große Rolle, vielmehr wird übermäßig getrunken, häufig gekotzt, es kommt zu Prügeleien, an einer Stelle gibt es einen Hinweis auf die schwedische Death Metal-Band Opeth. Böhm, der für das Magazin für Literatur und Kultur metamorphosen arbeitet, packt viel in sein Debüt, das dadurch jedoch keineswegs überfrachtet ist. Man liest dieses zivilisationskritische Buch, diese Geschichte kurz vor der Apokalypse mit Spannung. Wie Jakob möchte man wissen, wohin Hartmann seine lange Reise geführt hat, was ihm dort widerfahren ist und wo er nun steckt. Und dann ist da ja noch der Schellenmann, ein unsichtbares Wesen, möglicherweise Jakobs Angstprojektion, die jedoch konkrete Gestalt annimmt, als er im Fastnachtsverein, dem er nach dem Willen seines Vorgesetzten beitreten soll, ein Kostüm entdeckt, das seinem Bild des Schellenmanns exakt entspricht. Diese Märchen- oder auch Alptraumfigur verfolgt Jakob. An einer Stelle erzählt er einer der wenigen Frauen des Buches ausführlich von seinen Gedanken zu diesem Schemen, was beinahe wie eine Wahnvorstellung wirkt. Schellenmann ist ein Buch der Ängste und der Sehnsucht, es erzählt von einer großen Einsamkeit und dem drängenden Wunsch nach Freundschaft, Schutz, Konstanz und Verlässlichkeit. Der kluge und anspielungsreiche Text hält in seiner offenen Form sehr viel für den Leser bereit, ein literarisch durchaus waghalsiges Unterfangen ist geglückt. Schellenmann ist das beeindruckende Debüt eines sehr ambitionierten jungen Autors.

Titelbild

Philipp Böhm: Schellenmann. Roman.
Verbrecher Verlag, Berlin 2019.
221 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783957323743

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