Neun Perspektiven auf eine fragmentierte Welt

Der Erzählband „Supermilch“ des Nachwuchsschriftstellers Philipp Böhm zeigt tentativ eine Welt zwischen Zivilisationsdreck und digitalem Nirvana

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Aller guten Dinge sind bekanntermaßen drei: Nach Anke Stellings Erzählungen Grundlagenforschung und den aus dem Kroatischen übersetzten Erzählungen Mars von Asja Bakić legt der Berliner Verbrecher-Verlag in seiner 2020 begonnenen Reihe „kurze form“ als dritten Band neun Erzählungen des Nachwuchsautors Philipp Böhm unter dem Titel Supermilch vor. Böhm, 2019 erstmals als Romanautor in Erscheinung getreten und bereits mit ersten Literaturpreisen ausgezeichnet, gelingt es in seiner Kurzgeschichtensammlung, einen eigenen literarischen Ton mit einer nachdenklich stimmenden Atmosphäre zu verknüpfen. Denn die in den Erzählungen geschilderten Themen, Motive, Ereignisse und Räume sind einerseits vertraut – sei es durch eigenes Erleben, medialen Konsum oder digitale Nutzungsgewohnheiten. Andererseits sind sie so unbestimmt, dass sie im besten Sinne irritieren und so zum Lesen und Reflektieren motivieren. Nicht jeder Erzählung gelingt dies in gleicher Intensität und Nachhaltigkeit, aber wie immer bei verschiedenen Texten eines jungen Autors gibt es Texte, die bleiben und die Lust auf eine zweite oder dritte Lektüre machen. Zudem verknüpft der Autor auch sprachlich den modernen, Anglizismen begünstigenden Zeitgeist mit tradierten Gattungskonventionen, worauf bereits die jeweiligen Titel der neun Erzählungen verweisen: „German Content Superstar“, „Die Berge unter der Stadt“, „Unser Flecken“, „Das Macdougall-Projekt“, „Der Schlüssel zum Keller“, „So klagte der King“, „Sterben mit den Philistern“, „Playhouse“, „Bei Pac-Man gewinnen“. 

So variantenreich die Titel, so thematisch vielgestaltig die Erzählungen, die eines vereint: Sie artikulieren in Gänze eine latente Verzweiflung an der sich digitalisierenden Welt und ein Unwohlsein angesichts einer wahrgenommenen sozialen Disharmonie bzw. Isolation. Dabei mutieren die Geschichten selten zum sozialkritischen Lamento, aber sie stellen in den besten Erzählungen doch die Entwicklungstendenzen in Frage. Bestes Beispiel: der Quasi-Aufstieg eines Kanalreinigers zum Internet-Star. Die Hauptfigur namens Achill arbeitet im Untergrund, in der Kanalisation einer Großstadt, und kämpft mit den Folgen der Berge aus Zivilisationsdreck, die die Abflüsse verstopfen: 

Es war das Öl, das literweise in die Abflüsse gegossen wurde, altes Öl, ehemaliges Frittierfett, ranzige Ströme, die nicht versiegen wollten. Irgendwo in den Schächten unter der Stadt trafen diese Ströme auf feuchtes Toilettenpapier und hinabgespülte Damenbinden, Material, das nicht zerfiel, und fanden dort die Oberfläche, an der sie gerinnen konnten. Berge wuchsen langsam. Irgendwo blieb das Fett hängen und zog weitere Elemente an sich, immer mehr kleine Partikel verfingen sich an der Oberfläche und wurden ins Innere der Masse gezogen, die sich erweiterte und heranwuchs.

Zugleich zeigt die Geschichte, wie der Kanalreiniger als Meme reüssiert, da eine in der Kanalisation gedrehte Dokumentation ihn bei einer Momentaufnahme mit markanter Mimik zeigt: 

Vielleicht waren es seine weit aufgerissenen Augen gewesen, seine glänzende Stirn oder der massive Fettberg im Hintergrund. Achills Bild hatte eine Reise begonnen, die 107 Kilobyte wurden vervielfältigt und verbreitet und er selbst wuchs zu einer Berühmtheit heran, warnte vor Sexbots und Clickbait-Seiten, vor ermüdenden Blockchain-Diskussionen und nachbearbeiteten Porträts, ohne dass er davon etwas erfuhr. Achill wurde zu einer namenlosen Berühmtheit, hatte einen eigenen Eintrag bei knowyour-meme.com und fuhr doch jeden Tag in den Vorort hinaus, wo keine Bäume an den Straßen wuchsen.

Die Kanäle der Kanalisation und die des Internets gehen eine unheilvolle Allianz ein, indem die Geschichte auf die „Monate unscharfen Ruhms“ abhebt, die Achill erlebt. Sein sprichwörtlicher Schwachpunkt, die Unvorsichtigkeit angesichts der latenten Gefahr in der Unterwelt, wird am Ende der Geschichte artikuliert: „Der leise Piepton des Multiwarngeräts verriet das Sinken des Sauerstoffgehalts im Schacht.“ Der weitere Ausgang bleibt offen. 

Die artifizielle Kunstfertigkeit des Autors zeigt sich auch in der Platzierung der Geschichten: Gerahmt wird der Erzählband durch zwei Geschichten, die sich thematisch ergänzen. In der ersten Erzählung „German Content Superstar“ geht es um einen Prozess – den Prozess des Wahnsinnigwerdens, den ein Werbetexter durchläuft. In der Ich-Perspektive wird introspektiv die wachsende Isolation und der Verlust des Gemeinschaftsgefühls respektive dessen Ersatz durch Einsamkeit versinnbildlicht, letztlich evoziert durch die Arbeitsbedingungen in der sog. New economy: „Einst war ich eine Maus und glücklich. Jetzt bin ich ein Ficker, ein Go-Getter, ein German Content Superstar und niemand fragt, wie es kam, dass ich so wurde.“ Die Entgrenzung der Arbeitszeit geht einher mit dem Druck, immer mehr Output zu generieren: „Ich steigere den Organic Traffic um zehn Prozent. Die Conversion Rate steigt.“ Sprachlich gestaltet wird dies durch den stilsicheren Einsatz der spezifischen Sprechweise der Werbebranche, in der von den Mitarbeitern verlangt wird, die Grenze zwischen Privatleben und Beruf zu negieren. 

In der letzten Erzählung des Bandes, die den Titel „Bei Pac-Man gewinnen“ trägt, befindet sich ein verzweifelter Mann in einer psychiatrischen Klinik und führt Selbstgespräche bzw. innere Monologe. Ob es sich um den gleichen Werbetexter wie in „German Content Superstar“ handelt, bleibt unbestimmt, es spricht jedoch einiges dafür, da sich die Figur über die Gründe ihrer Angst klar werden muss. In nuce ist es der Leistungsdruck einer durchrationalisierten Arbeitswelt, die sich der unbeschränkten Selbstoptimierung verschrieben hat, wofür das Computerspiel „KILL SCREEN“ metaphorisch steht: „Alles würde wieder anfangen, nur noch schwieriger sein.“ Die Verhältnisse machen krank, das Individuum ist ihnen hilflos ausgeliefert.

Aber Böhms Erzählungen sind nicht auf diese psychologisierende Reflexion der Folgen von Kapitalismus und Gewinnmaximierung beschränkt, der Autor ruft diverse narrative Genres auf und spielt mit ihnen. Zugleich zeigt er, dass er als Literat traditionsbewusst ist und große Vorbilder hat. So muten die Gestaltung und der Ausgang der Erzählung „Der Schlüssel zum Keller“ durchaus kafkaesk an, wenn ein Ich-Erzähler über den vermeintlichen Mitbewohner konstatiert: 

Friedrich ist mein Gast, vielleicht auch mein Besucher oder sogar mein Mitbewohner. Wer kennt schon den Unterschied? Wenn ich nach Haus komme, sitzt er da, thront auf meinem Sofa, in all seiner Pracht, das runde Krötengesicht zu einem Lächeln verzogen, und ich lächle zurück.

Weniger zum Lachen wirkt das weitere, durchaus surreale Schicksal des Mitbewohners: Er landet wegen eines banalen Regelverstoßes, des nächtlichen Diebstahls einer Flasche Bier aus den Kellervorräten des Erzählers, in eben diesem Keller als Gefangener des Erzählers: „In den ersten Tagen steige ich noch manchmal hinab, setze mich neben die schwere Tür und lausche seinem Klopfen und seinen Beteuerungen, sich zu ändern, sich wirklich zu ändern. Dann lasse ich es sein“.

Die Erzählungen in Supermilch beschreiben durch die atmosphärisch dichte Gestaltung eine Welt, die die Kohärenz und den sozialen Zusammenhalt verloren hat. Das Individuum ist auf sich selbst zurückgeworfen und verliert dabei mehr als das Soziale – bisweilen nur das rechte Maß, im schlimmsten Fall sogar den Verstand. Böhms Texte irritieren im besten Sinne der literarischen Traditionslinie, sie zeigen durch verstörende thematisch-motivische Elemente sowie den filigranen Einsatz von Metaphern und Symbolen, dass hinter der Oberfläche – bzw. in der Kanalisation unter ihr – auch die Angst sitzt, mit unabsehbaren Folgen für die conditio humana. 

Titelbild

Philipp Böhm: Supermilch. Erzählungen.
Verbrecher Verlag, Berlin 2022.
180 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783957325143

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