Hass muss nicht hässlich sein

Karl Heinz Bohrer verfolgt in „Mit Dolchen sprechen“ die literarische Karriere eines dunklen Affekts

Von Willi HuntemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willi Huntemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alterswerke bedeutender Literaturwissenschaftler können zuweilen wie ein Resümee ihrer intellektuellen Biografie wirken; sie werfen durch das Thema, das sie behandeln, ein Licht auf ihr Temperament, können auf den ersten Blick für sich einnehmen oder eher Distanz wecken. Solch ein Buch ist etwa die für ein breiteres Publikum geschriebene Motivstudie Sieben Küsse. Glück und Unglück in der Literatur des damals 80-jährigen Schweizer Germanisten Peter von Matt (München 2017). Schon der Titel lässt ahnen, dass die hier vorliegende Untersuchung des fünf Jahre älteren Karl Heinz Bohrer über den „literarischen Hass-Effekt“ wohl nicht so ausgewogen sein wird. Gleichwohl ist Bohrers Studie mehr als ein Gegenstück zu derjenigen von Matts.

Wer die Schriften des streitbaren Intellektuellen Bohrer kennt, kann sicher sein, dass ihn keine biedere Motivuntersuchung erwartet, in der eine Reihe literarischer Werke aus verschiedenen Epochen auf ein ihnen gemeinsames Motiv hin abgeklopft werden. Zwölf Autoren, die eine Spanne vom 16. Jahrhundert bis in die jüngste Zeit abdecken und ausnahmslos der Höhenkammliteratur angehören – vom englischen Dramatiker Christopher Marlowe bis hin zum französischen Romancier Michel Houellebecq – werden in exemplarischen Textauszügen in einem close reading so auf das Thema hin befragt, dass deutlich hervortritt, was genau unter dem Hass-Phänomen in diesem Zusammenhang zu verstehen ist. Zugleich wird dadurch etwas von der Eigenart der Texte und ihrer Autoren aufgeschlossen.

Was Bohrer von vornherein nicht interessiert, ist, wie sich Hass als elementarer menschlicher Affekt, so wie alles Mögliche, auch in der Literatur spiegelt. Der Autor benötigt daher auch keine kulturanthropologische oder affektpsychologische Einleitung, sondern kann gleich in medias res gehen. Der Hass wird nicht als psychologische Größe verstanden, sondern ästhetisch in seinem imaginativen Potenzial und seiner poetologischen Signifikanz als Hass-Rede. Dieses Potenzial ist für das Komplementärphänomen der Liebe in der Literatur mit ihren zahlreichen poetologischen Kodierungen und Sprachen längst bekannt und hinreichend erforscht. Imaginative Rede ist abzugrenzen von diskursiver Rede, bei der der Hass nur ein Begleitmoment darstellt, funktional für Anderes ist – etwa die Anklage in einem politischen Pamphlet – und sich nicht zur sprachbildenden Kraft mit poetischem Eigenwert entfaltet. Die prägnante Formel für das sprachbildende Moment lautet: vom Affekt (der Person) zum Effekt (der Sprache). Hier zeigt sich Karl Heinz Bohrer als Ästhetiker sensu stricto, der unnachgiebig auf dem Eigensinn des Ästhetischen beharrt, als den man ihn seit langem kennt.

Bohrers Beleuchtung des so verstandenen „Hass-Effekts“ liegt mithin auf der Linie seiner zahlreichen Studien zu einer Ästhetik des Bösen und verwandter Affekte (vgl. Die Ästhetik des Schreckens: die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk, München 1978; Ästhetische Negativität, München 2002; Imaginationen des Bösen. Für eine ästhetische Kategorie, München 2004). Die Hass-Monografie wäre gleichsam der vorerst letzte Baustein in diesem Projekt einer „negativen Ästhetik“. Doch die Kenntnis dieser Schriften wird keineswegs vorausgesetzt; der Verfasser nimmt kaum auf sie Bezug, wie er überhaupt weitgehend auf Anmerkungen zur Sekundärliteratur verzichtet, was das Buch sehr gut lesbar macht.

War es Bohrer früher darum zu tun gewesen, das Böse, vor allem in der Literatur der Moderne, aus einer moralbestimmten Perspektive herauszulösen und von einer Rationalisierung im Dienst der Gesellschafts- und Kulturkritik freizuhalten, um es als ästhetisches Phänomen mit eigenem Erlebnispotenzial zu legitimieren, so soll nun der Hass als Modus poetischer Rede mit spezifischer Ausdrucksintensität in den Blick genommen werden.

Die Affinität zwischen dem Bösen und dem Hass wird sinnfällig im ersten Werkkomplex der Untersuchung. Die Shakespeare-Gestalten von Richard III. über Othello bis Hamlet sowie Satan in Miltons Paradise Lost liefern als Bösewichte auch einschlägige Fälle von Hass-Rede.

Wie die imaginative Hass-Rede in Konflikt kommen kann mit der politischen Satire, zeigt Bohrer anhand des weltliterarischen Romans eines ihrer Meister: Gullivers Reisen von Jonathan Swift. Die feststehende Absicht bei der satirischen Schreibform (Anklage, Entlarvung) führt dazu, dass die „dem imaginativen Hass eigene Subversivität, Unheimlichkeit und sogar Rätselhaftigkeit“ dann nicht aufkommen können, so der Autor. Aus einem ähnlichen Grund sind die Texte von Elfriede Jelinek gerade nicht einschlägig für Bohrers „Hass-Effekt“, da der Hass in ihren Texten immer nur Begleitphänomen einer aufklärerisch-emanzipatorischen Grundhaltung ist und in seinem ästhetischen Eigenwert nicht zur Geltung kommen kann.

Moralische Absicht und ästhetischer Hass-Effekt vertragen sich nicht; deswegen hat auch die westdeutsche Nachkriegsliteratur, die der Autor von einer „politisch-moralische[n] Tendenz“ unter der „Schuldlast des Holocaust“ gezeichnet sieht, nichts beizutragen zur Hass-Rede; als Ausnahmen behandelt Bohrer Rolf-Dieter Brinkmann sowie Rainald Goetz, die er Thomas Bernhard und Peter Handke als österreichischen Vertretern eines literarischen Hass-Diskurses gegenüberstellt.

Überhaupt ist die imaginative Hass-Rede äußerst untypisch für die deutsche Literatur. Als Grund macht der Autor den Einfluss des deutschen Idealismus geltend; bereits Hegel mit seiner moralfixierten Inhaltsästhetik, notorischer Gegner Bohrers, hatte dem Bösen als ästhetischer Kategorie jeden Rang abgesprochen. Der Autor knüpft daran beiläufig die Feststellung, dass in deutlichem Kontrast zur französischen Literatur des späten 18. und des 19. Jahrhunderts das „Böse“ wie das „Obszöne“ als ästhetische Leitkategorie keine Rolle spielen. Diesem Defizit entspreche dann, so Bohrer in einer leider nicht weiter ausgeführten Kompensations-These, ein Übermaß von „politisch-ideologische[m] Hass in der deutschen Publizistik und Realität des 20. Jahrhunderts“: Der ausgeblendete imaginative Hass führt später zu seinem Ausleben in der Wirklichkeit.

So stehen denn neben den schon erwähnten Brinkmann und Goetz nur zwei deutsche Autoren: Richard Wagner, dessen Ring des Nibelungen eine musikdramatische Bühne für den metaphysischen Widerstreit der polaren Prinzipien Liebe und Hass abgibt, und Heinrich von Kleist, bei dem der Hass seine imaginative Intensität durch Gewalt und Leidenschaft gewinnt – dies bei moralischer Ambivalenz (Kohlhaas), was wiederum das Verdikt Hegels herausforderte, der mit einem von moralischer Qualität logeslösten Hass-Affekt nichts anfangen konnte.

Mit Baudelaire, einer Schlüsselfigur in Bohrers ästhetischem Denken, wird existenzieller Hass zum Weltverhältnis des Dichters, was in eingehenden Textanalysen gezeigt wird, und ist als „Pathoswort“ seither in der Subjektivität des modernen Dichters verankert. Kleist und Baudelaire markieren nach Marlowe/Milton im 16./17. Jahrhundert die Zunahme der „existentiellen Hass-Empfindung im Dichter selbst“ für das 19. Jahrhundert. Diese ist neben dem „Pathos des Ungewöhnlichen“, so Bohrer, einer der Gründe für den poetischen Hass-Ausdruck.

Für das 20. Jahrhundert stehen dann neben den Beziehungsdramen August Strindbergs vor allem französische Autoren: Sartre, Céline und Houellebecq. Das Kapitel über Célines Roman Reise ans Ende der Nacht verortet den umstrittenen Autor jenseits von humanistischer Kulturkritik und ist eine ausgezeichnete Einführung in das Werk, die man für sich lesen könnte. Mit diesen drei Autoren hat sich die Hass-Empfindung zu einem „radikal-subjektiven Code“ transformiert.

Über seine genauen Textlektüren hinaus bietet Bohrer Anhaltspunkte für eine Kontextualisierung der literarischen Hass-Rede. Wie sie sich im Einzelnen ausprägt, ist einmal vom in der Zeit vorherrschenden Genre abhängig: gebundene Rede in dem Dramen Marlowes und Shakespeares, erhabene Stillage und Pathos im Versepos Miltons. Ein anderer, das Vorkommen von Hass als literarischem Gestus begünstigender Faktor ist die vor allem mit der englischen Geschichte einhergehende Erfahrung von Grausamkeit und Gewalt sowie in Frankreich der Modernitätsdiskurs seit der Großen Revolution.

Sicher, manchen Kritikern mag dies zu wenig sein, die ganze Untersuchung zu sehr auf immanenter Interpretation beruhen. Überhaupt scheinen Karl Heinz Bohrers „negative Ästhetik“ und sein Kunstbegriff etwas notorisch Provozierendes zu haben. So haben bereits anlässlich des Sammelbandes Imaginationen des Bösen, drei Jahre nach den Anschlägen vom 11. September, Rezensenten wie Jan Süselbeck dem Autor den Vorwurf der Ästhetisierung eingetragen oder wie Niels Werber mangelnden Aktualitätsbezug beanstandet (Böses, sei Du mein Gutes, Frankfurter Rundschau, 22.4.2004). Und nun wiederholt der Kritiker Steffen Martus diese Forderung nach aktueller Einbettung angesichts der „Hass“-Studie – als hätte Karl Heinz Bohrer nicht schon zu Beginn seines Vorworts deutlich gemacht, dass es ihm nicht um den Hass „als politisch-weltanschauliches Gebräu“ oder ein „ideologiekritische[s] Verständnis des Wortes oder des Begriffs ‘Hass‘“ gehe. Eine seltsame Anmutung – als sei die historische Nachzeichnung eines Affekts oder Motivs in literarischen Texten nur legitim, wenn sie wie auch immer Bezug nimmt auf eine aktuelle Problemlage. Nein: Die Untersuchung von antijüdischen Stereotypen in der Literatur muss nichts beitragen zur aktuellen Diskussion um Antisemitismus in der Gesellschaft, die Behandlung des Wutmotivs in der Literatur nicht zum „Wut-Bürger“ unserer Tage führen und eine Studie zum literarischen Hass-Effekt nicht hate speech als gegenwärtiges Phänomen in den sozialen Medien einbeziehen.

Wem Bohrer zu weltabgewandt ist, der sei zum Schluss auf einen nahezu zeitgleich erschienenen Tagungsband als Abhilfe verwiesen: Jürgen Brokoff/Robert Walter-Jochum (Hg.): Hass/Literatur. Literatur- und kulturwissenschaftliche Beiträge zu einer Theorie- und Diskursgeschichte. Bielefeld 2019. Dieser bietet eine kulturwissenschaftliche Herangehensweise an den Themenkomplex und ist methodisch derart weit von Bohrers traditionell-philologischem Zugang entfernt, dass keiner dem anderen auch nur eine Fußnote schuldig gewesen wäre. Ob dieser Sammelband allerdings auch so lesenswert ist wie Karl Heinz Bohrers Studie, das müsste eine andere Besprechung klären.

Titelbild

Karl Heinz Bohrer: Mit Dolchen sprechen. Der literarische Hass-Effekt.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
494 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783518428818

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