Eine recht einsame literarische Hochebene

Rudolf Borchardts Anthologie „Der Deutsche in der Landschaft“

Von Johann HolznerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johann Holzner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Anthologie, die Maßstäbe gesetzt hat und nach wie vor setzt; von allem Anfang an nicht ganz unumstritten, aber unbestreitbar ein kulturgeschichtliches Monument. Eine Sammlung, in der „Geselligkeit und Gesprächigkeit“ (Borchardt) den Ton angeben sollten und tatsächlich den Ton auch bestimmen, eine Sammlung deutschsprachiger Prosa des 18. und 19. Jahrhunderts auf höchstem Niveau, großartig wie Hugo von Hofmannsthals Deutsches Lesebuch (und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch nur diesem an die Seite zu stellen).

Rudolf Borchardt, geboren 1877 in Königsberg, wurde durch das Studium der Altertumswissenschaften ebenso geprägt wie durch die Lektüre der Werke von Stefan George und Hugo von Hofmannsthal. Gleichermaßen fasziniert von Forschung und Dichtung versammelte er in diesem seinem Lesebuch Der Deutsche in der Landschaft, das zum ersten Mal 1927 in der Bremer Presse erschien, Ansichten der Erde, Darstellungen von Landschaften in aller Welt, die ausdrücklich die Handschrift der (deutschsprachigen) Autorinnen und Autoren verraten sollten: Die Texte, die er zusammenträgt, sind (schon) in seinem Verständnis „nicht objektiv, wie man sagt […]; Anlass und Zeit, Willen und Stil sind an ihnen unablässig im Stillen am Werke, sie sind ein Teil von ihnen.“ Die Texte „heute meist unbekannter Naturforscher, Kulturhistoriker und Dichter“ (so der in jeder Hinsicht dürftige Klappentext dieser Ausgabe) stammen denn auch immerhin unter anderem von Bettina Brentano, Carl Gustav Carus, Annette von Droste-Hülshoff, Johann Georg Forster, Jacob Grimm, Joseph Freiherr von Hammer-Purgstall, Karl Immermann, Heinrich von Kleist, Carl Ritter, Karl Friedrich Schinkel, Adalbert Stifter und Ludwig Tieck, dessen Landschaftsvision mit Sätzen eröffnet wird, die man ganz leicht Thomas Bernhard zuschreiben könnte (um hier zentrale, wenn nicht sogar die wichtigsten Bezugsgrößen für Borchardt wie Johann Gottfried Herder, Johann Wolfgang von Goethe oder auch „das halbgöttliche Brüderpaar“ Alexander und Wilhelm von Humboldt einmal nur in Klammern zu nennen).

Dieser Nachdruck in der von Judith Schalansky herausgegebenen Reihe Naturkunden – keineswegs die erste Taschenbuch-Ausgabe der Borchardtschen Sammlung – ist zwar einigermaßen ansehnlich gestaltet – wozu vor allem die den Texten zugeordneten zeitgenössischen Illustrationen beitragen –, aber schauderhaft gebunden und generell nicht gerade mit der größten Sorgfalt erstellt: Die Erstausgabe der Anthologie (die vermutlich überhaupt nicht eingesehen worden ist) wird vorverlegt in das Jahr 1925, und über die vorliegende Ausgabe wird lediglich die Auskunft erteilt, dass „Orthografie und Interpunktion vorsichtig angeglichen“ worden seien, wobei offen bleibt, welche Norm hier als Grundlage gedient hat (Trennungsregeln zum Beispiel sind jedenfalls keine zu erkennen): Borchardts Unternehmen hätte eine solide Neuedition verdient.

Das Nachwort von Franck Hofmann erläutert Borchardts Konzept im Kontext seines Gesamtwerks und im Zusammenhang der Entstehungszeit. Dabei kommen sowohl die konservativen als auch die modernen Seiten des „ästhetischen Aristokratismus“, den Borchardt repräsentiert, in den Blick: Grundeinstellungen, die der Leidenschaftliche Gärtner auch in Anbetracht der Karrieren von Benito Mussolini und Adolf Hitler lange nicht aufgibt. Etliche Beiträge aus seiner Sammlung weisen Wendungen auf, die – insbesondere gegen Araber und Türken gerichtete – rassistische Stereotype widerspiegeln und den Herausgeber augenscheinlich dennoch nicht irritiert haben. Gleichviel, es ließe sich wohl trefflich darüber streiten, ob derartige Äußerungen (im 19. Jahrhundert formuliert) schon ausreichen, die betreffenden Texte, die in der Regel doch ganz anderes intendieren, kurzerhand in den „Arier-Diskurs“ der Nationalsozialisten einzureihen.

Walter Benjamin, der Borchardts Anthologie 1928 besprochen hat, hat ganz bestimmt nicht übersehen, dass darin (wie der Herausgeber in seinem Nachwort selbst einräumt) „alles ausgeschaltet worden ist, was die heilige Natur und die fromme und geheimnisvolle Erde nur zu einem Vorwand nimmt, um die eigene Gefallsucht und Rührwitzigkeit an den Mann zu bringen“, und dass Borchardt mit diesem Verdikt namentlich Heinrich Heine ausgebootet hat. Er hat trotzdem der Anthologie eine geradezu hymnische Rezension gewidmet und ihr darin eine „höhere Einheit“ attestiert, eine Einheit, wie sie seinerzeit den Kranz des Meleagros von Gadara ausgezeichnet habe, „den wir, ob wir auch alle seine Blüten beim Namen nennen, uns nicht mehr aufgelöst zu denken wüssten.“ Was Benjamin ganz besonders fasziniert, ist der Umstand, dass die „vier Hauptansichten des Erdkörpers“, nämlich „die streng geographische, die naturwissenschaftlich beschreibende, die landschaftlich schildernde [und] die historische“ in dieser Sammlung sich ständig verbinden, sogar passagenweise sich „untereinander wieder zu geistigen Landschaften zusammenschließen.“

Der Deutsche. Borchardts Charakterisierung ist, das versteht sich, ein Produkt seiner Zeit – und gewiss auch einer Anmaßung sondergleichen. Im Gegensatz zu den Reiseliteraturen anderer Völker, so Borchardt, sieht der Deutsche, das „nie zur Ruhe gekommene Kind der Völkerwanderungen“, in aller Welt Gebiete, „wie sie keiner vor ihm sah“, er „prüft das von andern Völkern Geschriebene an den siegreichen Maßstäben seines neuen kritischen Vermögens, des Ertrages seiner erzwungenen kummervollen Gelehrsamkeit, streicht aus und zeichnet neu.“ 1944 sollte Borchardt, der aus einer jüdischen Familie stammte, selbst ausgeschaltet werden. Er wurde in Italien von der SS verhaftet und nach Tirol transportiert; im Jänner 1945 starb er in Trins, im Gschnitztal, an einem Herzversagen.

Der Deutsche in der Landschaft ist zum einen, jedenfalls streckenweise, unleugbar ein Dokument der Hybris deutschsprachiger Reisender: Joseph von Hammer-Purgstall, der österreichische Pionier der Orientalistik und erste Präsident der Wiener Akademie der Wissenschaften, bemerkt auf der Reise nach Brussa (Bursa) den „Zauber des Himmelsstrichs Kleinasiens“ und „vergisst dabei“ ganz, wie er gleich freimütig hinzufügt, dass „man sich in der Türkei befindet“. Carl Friedrich Philipp von Martius, Direktor des Münchner Botanischen Gartens und Mitglied der Bayerischen wie auch der Preußischen Akademie der Wissenschaften, entdeckt in Brasilien nicht nur die „Majestät und Herrlichkeit der Vegetation“, sondern auch „Indianerhorden, die, noch nicht der portugiesischen Oberherrschaft unterworfen“, in den Urwäldern „als unruhige Nomaden umherschweifen […], der träge Coroado, der wilde Puri, der menschenfressende Botocudo und andere minder zahlreiche Völkerstämme.“ Zum andern jedoch und in allererster Linie ist Borchardts Anthologie auch und vor allem ein Werk, das anschaulich sichtbar macht, was Natur bedeutet; „niemand kann sie“, bemerkt schon Heinrich Nissen, der Althistoriker, in seiner Italischen Landeskunde, „mit offenen Augen betrachten, ohne die tiefen Wunden gewahr zu werden, die des Menschen Unverstand und Raubgier ihr geschlagen.“ Eine Beobachtung aus dem Jahr 1883. Wenngleich die meisten Beiträge dieser Sammlung derartige oder ähnlich grundierte Kritik nicht unmittelbar mitliefern, fordern sie inzwischen zu solcher Lektüre nahezu direkt heraus.

Unter allen Regionen, die in diesen Darstellungen betrachtet werden, nimmt (wenig verwunderlich) der Mittelmeerraum eine herausragende Stellung ein; attische und italienische Landschaften beflügeln offensichtlich auch wie kaum andere sonst zu Ausführungen über kulturgeschichtliche Entwicklungen und Gemengelagen zwischen Natur und Gesellschaft. Die Gebirgsgruppen und Seen der Schweiz, deutsche und österreichische und niederländische Stadtlandschaften finden ebenfalls die ihnen gebührende Berücksichtigung. Darüber hinaus: Lateinamerika, Asien. Der Balkan (der scheinbar fest umrissen nur bis zur Nordgrenze Griechenlands reicht), Skandinavien und Russland werden hingegen allenfalls da oder dort gerade noch gestreift; Afrika bleibt eine Terra incognita, ein schwarzer Fleck auf Borchardts Landkarte, ebenso wie die Terra Australis. Nicht alle Autorinnen und Autoren geraten so rasch ins Schwärmen wie Wilhelm Heinse oder bleiben so nüchtern-detailversessen wie Georg Forster (jedenfalls wo immer es darauf ankommt); doch Nissen ist keineswegs der einzige, der für vergleichende Studien wirbt, das heißt einerseits auf die Literatur der Antike zurückgreift und andererseits einen Blick in die Zukunft riskiert.

So bietet Borchardts Sammlung noch immer Entdeckungen über Entdeckungen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil er aus umfangreichen Textzusammenhängen keineswegs immer die berühmtesten ausschneidet. Aus Jakob Philipp Fallmerayers Fragmenten aus dem Orient nimmt er beispielsweise die Kapitel über Tempe und Jerusalem heraus, er verzichtet dafür auf den Heiligen Berg Athos; und aus Stifters Studien wählt er einen Auszug aus dem Hochwald, aber nicht das Vorwort zu den Bunten Steinen, obwohl sich ganz leicht von Salomon Gessners Bericht über Die Gegend im Grase ein Bogen zum Sanften Gesetz spannen ließe. Vieles spricht dafür, dass Borchardt ästhetische Kriterien immer wieder als erste für die Gestaltung dieses Bandes berücksichtigt hat, „dessen sprachliches Niveau eine schwellenlose Hochebene darstellt.“ (Walter Benjamin)

Denn alle Autorinnen und Autoren der Anthologie verbindet das eine: dass sie, unbeeindruckt von Vorläufern oder von Schulen, ihre eigene Sprache entwickeln und sich bewahren, so wie sie auch ihre eigene Anschauung der Welt vorwärtstreiben, kultivieren und sich nicht mehr nehmen lassen, von niemandem.

Titelbild

Rudolf Borchardt: Der Deutsche in der Landschaft.
Mit einem Text von Walter Benjamin und einem Nachwort von Franck Hofmann sowie zeitgenössischen Ansichten.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2018.
552 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783957575296

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