Kafkas „rechnende“ Helden

Beiträge zur Forschung von Jürgen Born

Von Herbert FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jürgen Born analysiert in seinem jüngsten Buch Franz Kafka oder Die Magie einer Prosa, Kafkas Poseidon-Parabel. Der Meeresgott sieht in diesem Text aus dem Jahre 1920 seine Aufgabe, die doch eigentlich die ist, die Meere zu „beherrschen“, allein darin, Berechnungen über diese Meere anzustellen. Anstatt die Meere zu erleben und, wenn es sein muss, sie mit seinem Dreizack zu bändigen, sitzt er „in der Tiefe des Meeres“ an einem Arbeitstisch und rechnet. Er wird zu einem Sisyphus und verkehrt seine ursprünglich „freie und souveräne“ Existenz in das Gegenteil.

Born erschließt von dieser Parabel aus wesentliche Merkmale der Helden in Kafkas Prosa. So zeigt er, wie Josef K. in dem Roman Der Prozess immer wieder versucht, „rechnerisch“, mit seinem Verstand also, die Probleme, vor die ihn die anstehenden Gerichtsverfahren stellen, anzugehen. Auf diese Weise versäumt er es, seine mögliche Schuld zu erkennen und zuzugeben. Er verdrängt die Gedanken an seine Schuld und wird ein Spielball des Gerichts, das ihn am Ende, ganz konsequent, wie Born ausführt, vernichtet.

Ähnliches gilt auch für den Landvermesser K. im Roman Das Schloss. Auch er meint, allein mit seinem Verstand in die „rational undurchdringliche, ‚mythische‘ Welt“ des Schlosses eindringen zu können. Er endet kläglich in einem engen, stickigen Dienstmädchenzimmer des Herrenhofs im Ort. Aus der großen Freiheit, die er sich, als er am Anfang des Romans auf der verschneiten Brücke steht, erträumt, wird schließlich nichts als eine kaum erträgliche Enge.

Auch Kafka selbst weiß, Born zeigt das an seinen Briefen und Tagebucheinträgen, um eine Seite seines Charakters, die das Kalkulierbare und Rechnerische über das Emotionale und Mitmenschliche stellt, und setzt sich damit immer wieder kritisch auseinander. In seinem Verhältnis zu Felice Bauer wird dieser Wesenszug zu einem alles belastenden Problem. Kafka muss sich eingestehen, dass das Rechnen allein nicht genügt, „die Beziehung zwischen zwei Menschen im voraus zu bestimmen“.

Born demonstriert in diesem Beitrag des Buches seine Fähigkeit, die Bedeutsamkeit von Motiven in Kafkas Werk zu erkennen und zu analysieren und von diesen Motiven aus entscheidende Aspekte des Werkes darzustellen. Er schafft ein Netzwerk an Bedeutungen und zeigt Zusammenhänge auf, die dem weniger erfahrenen Kafkaleser wertvolle Lektürehilfen liefern. Borns Sprache macht das Komplizierte bei Kafka klar und bleibt dennoch differenziert und vereinfacht nichts. Das Buch Die Magie der Prosa ist sowohl inhaltlich wie sprachlich ein Lese-Vergnügen.

Jürgen Born gehört zu den renommierten Kafka-Forschern in Deutschland. Er wurde 1927 in Danzig geboren, studierte an deutschen und amerikanischen Universitäten Germanistik und Anglistik und lehrte nach seinem Studium als Dozent an amerikanischen Hochschulen. 1974 wurde er an die Universität Wuppertal berufen, wo er die „Forschungsstelle für Prager deutsche Literatur“ einrichtete. Das war der Beginn für seine intensive Auseinandersetzung mit Leben und Werk von Franz Kafka. Sie führte zur Veröffentlichung mehrerer Bücher über den Prager Autor, vor allem aber zur Mitarbeit an der Kritischen Ausgabe von Kafkas Schriften und Tagebücher, die 2002 vom Fischer-Verlag in einer Kassette mit fünfzehn Taschenbuch-Bänden vorgelegt wurde. Für die Herausgabe der Briefe an Felice (2003) zeichnete Born zusammen mit Erich Heller verantwortlich, die erweiterte Neuausgabe der Briefe an Milena – die 13. Auflage erschien 2004 – besorgte er zusammen mit Michael Müller.

Seine jüngste Veröffentlichung zu Franz Kafka geht zurück auf eine Aufsatzsammlung aus dem Jahr 2000, die vergriffen ist und jetzt, um zwei Beiträge erweitert, wieder vorgelegt worden ist. Die Aufsätze in dem Band erschienen zwischen 1968 und 1996 in verschiedenen Literatur-Zeitschriften und literarischen Schriftenreihen. Die Beiträge lassen sich in zwei Rubriken aufteilen. Die eine enthält Aufsätze, die sich vorwiegend mit einem Text oder mit mehreren Texten von Kafka befassen, mit dem Roman Der Prozess, mit der Türhüterlegende aus dem Kapitel „Im Dom“ dieses Romans, mit der Erzählung Das Urteil und mit zwei Briefen an Felice. Zur zweiten Gruppe gehören Aufsätze, die spezielle Probleme aufgreifen, Probleme der Interpretation etwa, oder die Kafkas Werk unter literaturwissenschaftlichen und rezeptionsgeschichtlichen Fragestellungen untersuchen, so in den Kapiteln „Kafka als Kritiker der Moderne“, „Kafka als Leser“ oder „Kafka und die Prager deutsche Literatur“. Die Aufsatzsammlung wird von einem Text abgeschlossen, der ein wenig aus dem Rahmen der anderen Beiträge fällt, aber einen interessanten Blick auf die Rezeption des Werks von Kafka wirft: Er behandelt Thomas Manns Verhältnis zu Kafkas Werk.

Jeder Interpret eines literarischen Werkes steht bei seinem Bemühen um ein adäquates Verständnis des Textes auch vor der Frage, ob biographische Informationen genutzt werden können und wie stark sie in die Interpretation einbezogen werden sollen. Die sprachlich-dichterische Eigenständigkeit des Werks darf dabei nicht verloren gehen. Bei Kafka scheint die Überbetonung des biographischen Hintergrunds eines Textes manchmal nahezuliegen, weil die Biographie einen Zugang und eine interpretatorische Sicherheit verspricht, die der Leser in den Texten von Kafka, wenn er nur diese heranzieht und sprachlich und inhaltlich analysiert, nicht ohne weiteres vorfindet. Es ist manchmal einfacher, sich bei der Interpretation von biographischem Material leiten zu lassen als allein vom Text. Die nahezu 2000 Seiten starke dreibändige Kafka-Biographie, die Reiner Stach zwischen 2002 und 2014 vorgelegt und die kaum je zu überbietende Maßstäbe in der Schilderung des Lebens von Kafka und seiner Zeit und in der biographisch orientierten Interpretation seines Werks gesetzt hat, entgeht der Gefahr, biographische Einzelheiten überzubetonen, nicht immer. Wenn Stach zum Beispiel im Schloss-Kapitel das Buch als „autobiographischen Roman“ bezeichnet und für die Brücke des berühmten ersten Abschnitts des Romans reale Entsprechungen anführt, die Kafka beim Schreiben im Kopf gehabt haben mag, dann ist das interessantes Beiwerk, aber auch überflüssig und entbehrlich.

Jürgen Born relativiert im Kapitel „Leben und Werk im Blickfeld der Deutung“ die Wichtigkeit biographischer Einzelheiten für das Verständnis eines Kafka-Textes. „Man wird“, betont er, „die Hilfe kaum zurückweisen wollen, welche die Biographie der Deutung zu gewähren vermag. Umsichtiger Gebrauch dieser Hilfe mag dem Leser die Wege öffnen zu einem tieferen und zugleich genaueren Verständnis der Dichtung.“ Er zeigt, dass der Erzähler Kafka durchaus Impulse für sein Schreiben aus seiner biographischen Wirklichkeit erfährt, dass er aber beim Fortgang des Schreibens die biographische Wirklichkeit in eine poetische überführt und sie in dieser völlig aufgehen lässt.

Was er unter „umsichtiger“ Berücksichtigung biographischer Informationen meint, zeigt er am Beispiel der Romans Der Prozess. Er unterscheidet dabei zwischen „Realitätspartikel“, Einzelheiten aus der Biographie, die meist nur von „begrenztem Erkenntniswert“ sind, und „bestimmten Grundsituationen“, die das Werk bestimmen und für die es im Leben des Autors und seiner Zeit Parallelen gibt. Solche „kongruenten Themenkomplexe“ sind für Born das soziale Verhalten, mitmenschliche Beziehungen oder Selbstverantwortlichkeit, vor allem aber archetypische Grundsituationen der menschlichen Existenz wie „die Situation der Gefangenschaft und das Streben nach Befreiung, die Situation des Ausgeschlossenseins und das Streben danach, eingelassen oder ‚aufgenommen‘ zu werden, der Weg durch unendliche Labyrinthe, das Erwarten einer Botschaft, die über unendliche Welten zu uns gelangen soll“. Von hier aus lassen sich, Born betont das an mehreren Stellen in seinen Beiträgen, fruchtbare Entsprechungen zwischen Biographie und Interpretation finden.

Im ersten Kapitel seines Buches zeigt Born genauer, wie er die Interpretation eines Werks von Kafka versteht. Es handelt sich wieder um den Roman Der Prozess. Born spricht vom „Janusgesicht“ dieser Dichtung und meint damit, dass sich Josef K. und das Gericht unversöhnlich gegenüberstehen. Diese Doppelstruktur analysiert er anhand vieler Textbeispiele überzeugend. Sein Verfahren ist dabei eine genaue inhaltliche Beschreibung der Teile und ihre Einordnung in das Romanganze in Form einer Deutung oder Interpretation.

Interessant ist, wie er den Prozessablauf versteht. Das Wort Prozess kann so verstanden werden, dass das Gericht im Fortgang der Handlung immer tiefer in das Bewusstsein des Helden eindringt und dieses Bewusstsein am Ende vollkommen bestimmt. Oder es kann bedeuten, dass der Angeklagte seine Schuld nicht sieht, auch nicht einsieht, dass aber seine Schuldgefühle dennoch zunehmen, seine Entscheidungen und Handlungen mehr und mehr steuern und er am Ende von sich aus die Bestrafung sucht, ohne dass er weiß, wofür er bestraft wird. Born betont, dass sich auch wegen solcher Mehrdeutigkeit in Kafkas Werken vorschnelle Antworten in Interpretationen verbieten.

Bereits 1986 erschien Borns Aufsatz zur Türhüterlegende. Er schlägt darin vor, die berühmte Parabel „gegen den Strom zu lesen“, so wie Rilke das den Lesern seines Malte Laurids Brigge nahegelegt hat. Born zeigt, dass der „Mann vom Lande“ deshalb scheitert, weil er nicht gewagt hat, seine Ängste vor dem Türhüter und vor möglichen Schwierigkeiten nach dem Eintritt in das Gesetz zu überwinden. Er erkennt nicht, dass der Türhüter offensichtlich nur den Zweck hat, ihn auf die Probe zu stellen. „Zweifellos war der Eingang für den Mann bestimmt, nur hätte er, anstatt auf ausdrückliche Erlaubnis zu warten, von sich aus eintreten sollen.“ Eine solche Deutung des Textes, der sich längst verselbständigt hat und meist unter dem Titel Vor dem Gesetz veröffentlicht wird, war vor dreißig Jahren eine überraschende, neue Interpretation. Sie zeigt, wie eigenständig und einfühlsam, aber auch wie souverän Jürgen Born mit Kafkas Werken umgeht. Mittlerweile hat diese Deutung längst Einlass in die gängige Sekundärliteratur gefunden.

In einem Kapitel des Buches untersucht Born Kafkas Erzählung Das Urteil. Es ist eigentlich die konsequenteste Umsetzung dessen, was er an anderer Stelle des Buches fordert, nämlich das Werk zunächst als eigenständiges Kunstwerk zu betrachten und erst an zweiter Stelle auf biographische Informationen zurückzugreifen. „Erzählende Dichtungen“, so führt er in den Vorbemerkungen aus, „sollten (…) nicht unmittelbar mit der Lebensgeschichte ihres Autors in Beziehung gesetzt werden und, wenn überhaupt, dann stets im Bewusstsein dessen, dass der Erzähler (auch der Ich-Erzähler) nicht der Autor ist.“ Das sind zwar Gemeinplätze; sie sollten aber Kafka-Interpreten gelegentlich in Erinnerung gerufen werden.

Born versucht, die „innere Wahrheit“ der Erzählung Das Urteil aufzuspüren. Er entwickelt dabei seine Gedanken ganz aus dem Text heraus, aus einer genauen Analyse der Sprache und dessen, was erzählt wird. Er zeigt, wie Georg seinen Schuldgefühlen nicht mehr entrinnen kann und am Ende regelrecht eine Selbstbestrafung sucht. Parallelen zu Josef K. sind nicht zu übersehen.

Längst gehört Kafka zur Weltliteratur. Wie kaum ein anderer Autor hat er die Literatur der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts beeinflusst und dem Lebensgefühl vieler Menschen in seinen Büchern Ausdruck verliehen. In den beiden Schlussbeiträgen seines Buches zeigt Born, wie anders die Rezeption dieses weltberühmten Autors zu seinen Lebzeiten und in den Jahren bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs verlief. In einer Anthologie mit Beiträgen Prager Autoren, die 1919 erschien, waren Autoren aufgeführt, die längst kaum jemand mehr kennt, Kafka dagegen wurde noch nicht einmal erwähnt. In ganz Amerika, ein anderes Beispiel, wurden von dem Roman Das Schloss zwischen 1930 und 1940, in zehn Jahren also, weniger als eintausend Exemplare verkauft. Und dennoch gab es von Anfang an Schriftsteller und Verleger, die das große künstlerische Potential des Prager Dichters erkannten. Max Brod gehörte natürlich dazu, er an erster Stelle, Kafkas Prager Freunde, Werfel zum Beispiel, sein Verleger Kurt Wolff und Schriftsteller wie Hermann Hesse oder Carl Sternheim, um nur einige Namen zu nennen. Kafka hatte über viele Jahre nur wenig Bewunderer, aber es waren bedeutende und weit angesehene Literaten darunter.

Der bekannteste Schriftsteller, der Kafkas Werk lobte und schätzte, war Thomas Mann. Schon 1927 nennt er in einer Buchbesprechung in der Frankfurter Zeitung Kafkas Bücher „grundeigentümliche Gebilde von sublimer Sorgfalt, (…) beängstigend, traumkomisch, treumeisterlich und krankhaft, die sonderbar eindringlichste Unterhaltung, die man sich denken kann.“ Born zeigt, wie Mann später, in seinen Exiljahren, mitgeholfen hat, Kafkas Werk in Amerika bekannter zu machen. Auf Bitten des New Yorker Verlegers Alfred Knopf schreibt er ein Vorwort zur Neuausgabe der englischen Übersetzung des Romans Das Schloss und fördert auf diese Weise mit seinem berühmten Namen den Verkauf und allmählichen Erfolg des Romans in Amerika.

Born legt allerdings auch dar, und das ist spannend zu lesen, dass Mann trotz seiner öffentlichen Bewunderung für Kafka insgeheim ein doch eher distanziertes Verhältnis zu vielem, was Kafka schrieb, hatte. „Wenn Thomas Mann“, heißt es da an einer Stelle, „auch Kafkas Bedeutung als Künstler erkannte und die Klarheit und Genauigkeit von dessen Prosa bewunderte (…), so scheint ihm doch die geheimnisvolle Welt der Erzählungen und Romane Kafkas weitgehend fremd geblieben zu sein.“

Das Buch Franz Kafka oder Die Magie einer Prosa ist für jeden Kafkaleser ein großer Gewinn. Es stellt wichtige Aspekte der Interpretation der Romane und Erzählungen Kafkas, auch seiner Briefe an Felice, vor und zeigt, wie man in das Werk hineinfinden und ein besseres Verständnis der literarischen Welt dieses bedeutsamen, aber auch manchmal rätselhaften Autors gewinnen kann.

Wer das gesprochene Wort einem Text vorzieht, kann das tun. Jeder Käufer des Buches erhält zusätzlich eine CD. Jürgen Born und Axel Grube, der Autor also und sein Verleger, sind hervorragende Sprecher, denen man, auch wenn die Ausführungen einmal komplizierter und die Zusammenhänge komplexer werden, gerne und mit Gewinn zuhört.

Titelbild

Jürgen Born: Franz Kafka oder Die Magie einer Prosa. Buch mit Hörbuch (ungekürzte Lesung).
onomato Verlag, Düsseldorf 2015.
196 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-13: 9783944891156

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