Vom lange andauernden Unglück
Der Roman „Der Reisende“ von Ulrich Alexander Boschwitz ist eine großartige Neu- oder Wiederentdeckung
Von Martin Ingenfeld
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDeutschland im November 1938: Das Attentat auf einen deutschen Diplomaten in Paris wird dem Nazi-Regime zum willkommenen Anlass, einen Ausbruch vermeintlichen Volkszorns gegen die in Deutschland lebenden Juden zu inszenieren. Zu diesem Zeitpunkt leben, unter den Bedingungen ihrer seit 1933 zunehmenden Entrechtung und Diskriminierung, noch Hunderttausende Juden im Deutschen Reich. Hunderte von ihnen werden bei den folgenden Pogromen ermordet, weit mehr noch in Konzentrationslagern inhaftiert, Synagogen sowie Wohnungen und Geschäfte in jüdischem Besitz werden zerstört. Die nationalsozialistische Propaganda aber, für die die Juden seit jeher Feinde Deutschlands waren, wird ihnen auch dafür noch die Schuld zuschieben. Otto Silbermann, der Protagonist in Ulrich Alexander Boschwitzʼ nun neu oder wieder zu entdeckendem Roman Der Reisende, kann das nur ungläubig und fassungslos zur Kenntnis nehmen: „Da hat also ein siebzehnjähriger Junge, anstatt sich das Leben zu nehmen, in die Richtung geschossen, aus der ihm solche Ratschläge wohl erteilt wurden. Und damit hat er, damit haben wir alle das Deutsche Reich angegriffen.“
Mit knapper Not entkommt Silbermann den Männern, die seine Wohnung verwüsten, über die Hintertreppe. Was ihm noch bleibt, ist sein nacktes Leben, eine Aktentasche voll mit Bargeld – der Rest seines Vermögens – und die Hoffnung, aus Deutschland ausreisen und nach Paris gehen zu können, wo sein Sohn Eduard bereits lebt. Seine Frau Elfriede hingegen, die sich zu ihrem Bruder an die Ostsee flüchtet und, der Logik der Rassengesetzgebung gemäß als arisch geltend, selbst nichts zu befürchten hat, wird er nicht mehr wiedersehen. So zeigt uns der Roman diesen Otto Silbermann, wie er mit der Bahn kreuz und quer durch Deutschland reist, erst seinem Geld hinterher, dann beim Versuch, das Land zu verlassen, schlicht aufgrund von Alternativlosigkeit, und wie er sich mit seinem Schicksal und mit den Leuten, die ihm unterwegs begegnen, auseinanderzusetzen hat. Es ist bemerkenswert zu lesen, wie beklemmend der damals gerade erst 23-jährige Boschwitz, selbst im Pariser Exil lebend, die Situation in Deutschland beschreibt, und dabei zu erkennen, wie nahe er mit den düsteren Vorahnungen, die sich im Roman in Silbermanns Gedankenströme mischen, der noch folgenden Realität kommen sollte.
Nicht minder bemerkenswert aber ist, dass dieses Buch mit gut 80 Jahren Verspätung erst jetzt zum ersten Mal in deutscher Sprache erscheint, was in erster Linie Peter Graf, einem Berliner Verleger und Literaturagenten, zu danken ist. Im Jahr 2013 hatte er bereits Ernst Haffners Blutsbrüder neu herausgegeben, einen Anfang der 1930er Jahre angesiedelten „Berliner Cliquenroman“, der sich mit dem Leben und Überleben einer Gruppe obdachloser Jugendlicher in der Spätphase der Weimarer Republik befasste und dessen Neuerscheinen im Jahr 2013 auf großes Interesse stieß. Nun hat Graf – wie es dazu kam, schildert er in seinem Nachwort – im Deutschen Exilarchiv der Frankfurter Deutschen Nationalbibliothek das Originaltyposkript von Boschwitzʼ Roman ausgegraben und in sorgsam lektorierter Fassung dem lesenden Publikum zugänglich gemacht.
Der Autor von Der Reisende, Ulrich Alexander Boschwitz, wurde 1915 geboren und entstammte selbst einer zum Protestantismus konvertierten Berliner Kaufmannsfamilie. Anders als Otto Silbermann verließ er Deutschland allerdings rechtzeitig und lebte ab 1935 in Skandinavien beziehungsweise später in Westeuropa im Exil. Bei Kriegsbeginn in England als „enemy alien“ interniert und im Sommer 1940 nach Australien deportiert, starb er auf dem Rückweg nach Europa. Am Abend des 29. Oktober 1942 wurde das Schiff, die Abosso, mit der er von Kapstadt nach Liverpool reisen wollte, im Nordatlantik von einem deutschen U-Boot versenkt. Dabei hatte Boschwitz erst wenige Wochen zuvor sein Romanmanuskript im Hinblick auf eine spätere deutsche Veröffentlichung nochmals überarbeitet. 1939 respektive 1940 bereits in England und den Vereinigten Staaten erschienen (unter den Titeln The man who took trains beziehungsweise The Fugitive), sollte das Buch, Boschwitzʼ zweiter Roman, gleichwohl bis zum heutigen Tag – mit Ausnahme einer französischen Übersetzung – keine weitere Ausgabe erhalten. Dasselbe gilt für seinen bereits 1937 nur in schwedischer Übersetzung veröffentlichten Roman Menschen neben dem Leben.
Am Anfang des Reisenden noch ein wohlhabender Kaufmann, der mit einem alten Kriegskameraden die Rettung seines Unternehmens verhandelt und im Hinblick auf eine Ausreise nach Westeuropa sein Berliner Mietshaus zu verkaufen versucht (wenn auch weit unter Wert), steht Silbermann bald ohne Familie, ohne Obdach und ohne Aussicht auf Hilfe vor dem Nichts. Nur eine große Summe Bargelds, die er bei sich trägt, ermöglicht ihm für eine gewisse Zeit, auf der Suche nach einem Ausweg durch das Land zu reisen. Wo jedoch andere Leidensgenossen gar nichts mehr zu verlieren haben, wirken sein immer noch verbliebener Wohlstand und seine in hoffnungsvollen Momenten aufkeimende Aussicht auf einen Neuanfang im Ausland für Silbermann wie Steine, die ihn zurückhalten, während er keinen Weg findet, mithilfe vertrauensvoller Partner sein Geld in seine Flucht zu investieren. Aber was es als Jude in Nazi-Deutschland heißt, auf andere angewiesen zu sein, wo man selbst von alten Freunden in der Aussicht auf rasche Selbstbereicherung mit noch dazu höhnischen Rechtfertigungen im Stich gelassen wird, muss Silbermann leidvoll erfahren. Ganz abgesehen davon, dass er selbst dort, wo er über Jahre ein guter und zuverlässiger Geschäftspartner war, nicht mehr gern gesehen wird.
Der antisemitische Verfolgungsdruck entwickelt zudem eine perfide Dynamik, der sich Silbermann nicht entziehen kann. Nicht lange dauert es, bis die Wahnideen seiner Verfolger sich auch in Silbermanns eigene Gedanken einschleichen. Wo er, der äußerlich nicht den rassistischen Vorstellungen vom Erscheinungsbild eines jüdischen Mannes entspricht, tunlichst versucht, unauffällig durchs Land zu reisen und keinen Verdacht auf sich zu lenken, reagiert er mit immer größerem Unbehagen, wenn er selbst mit anderen Juden oder vermeintlich jüdisch aussehenden Leuten in Kontakt tritt oder sich auch nur in ihrer Nähe aufhält. Ist es nicht vielleicht sogar so, dass er, Silbermann, ganz zu Unrecht mit diesen Leuten vergemeinschaftet wird, mit denen er doch eigentlich nichts zu tun hat und ohne die er in Frieden leben könnte, die überhaupt an seinem schlimmen Schicksal Schuld tragen? Es ist geradezu unheimlich, wie Boschwitz, dessen Erzähler sich über weite Strecken des Romans sehr ruhig und beinahe sachlich distanziert auf die Person Otto Silbermann konzentriert, dessen Bewusstseinsvorgänge entfaltet. Von vornherein ein ambivalenter Charakter, der etwa seinem in Paris lebenden Sohn, der sich erfolglos um eine Einreisegenehmigung für seine Eltern bemüht, telefonisch Undank und mangelnde Hilfsbereitschaft vorwirft, verformt sich Silbermanns Charakter im Laufe der Zeit zwischen Widerstandswille und Selbstmordgedanken immer stärker. Und so sehr man als Leser mit seinem Schicksal mitfühlt, so sehr erschrickt man über die Gedanken, die ihm durch den Kopf gehen. Es gehört zu den Verdiensten dieses Romans, dass er es seinen Lesern dadurch nicht einfach macht und ihnen die Möglichkeit verschließt, beispielsweise in der Vorstellung eines heldenhaft tapferen, eines ungebrochenen Otto Silbermann Zuflucht zu finden.
Ulrich Alexander Boschwitz hat sein Buch unmittelbar unter dem Eindruck der Novemberpogrome in Deutschland innerhalb weniger Wochen am Ende des Jahres 1938 niedergeschrieben. Das Nachwort weist darauf hin, dass dem Roman darüber hinaus biografische Zusammenhänge zugrunde liegen, beispielsweise hinsichtlich eines erfolglosen Ausreiseversuchs über die deutsche Grenze. Die Hilflosigkeit, die Boschwitz in Paris im Blick auf das Schicksal der in Deutschland lebenden Juden, auch seiner Familienangehörigen empfunden haben muss, ist dem Buch mit jeder Seite anzumerken. Doch gegenüber der Teilnahmslosigkeit, mit der die europäischen Nachbarstaaten Deutschlands das dort sich ereignende Unrecht registrieren und ignorieren, mit der sie viele Verfolgte an ihren Grenzen zurückweisen, bleiben er und sein Buch machtlos. Nicht nur Zorn und Fassungslosigkeit darüber spielen in Silbermanns Gedanken mit, sondern es fehlt seiner finsteren Fantasie auch nicht mehr viel, um sich das antisemitische Vernichtungswerk auszumalen, das seine nicht-jüdischen Landsleute wenig später in die Welt setzen werden. Man müsse froh sein, wenn man sein nacktes Leben retten könne, doch gebe es ja immer noch Glück im Unglück, bescheidet da ein mitreisender Gesprächspartner dem Otto Silbermann, worauf dieser nur erwidert: „Sonst würde das Unglück auch niemals so lange dauern.“
|
||