Der Wert der Freiheit

Alice Botas Buch „Die Frauen von Belarus“ berichtet vom „Mut und dem Drang nach Freiheit“ der weiblichen Hälfte der Landesbevölkerung

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Noch vor gut einem Jahr war der Freiheitskampf der BelarussInnen in der hiesigen Presse nahezu allgegenwärtig. Mit dessen Niederschlagung sank auch das Interesse der deutschen Öffentlichkeit an Lukaschenkos Wahlfälschung und der Unterdrückung im östlichen Nachbarland der EU. Die deutsche Politik hat – ebenso wie die westliche insgesamt – seither auf Lukaschenkos Terror gegenüber der eigenen Bevölkerung mit doch eher moderaten Sanktionen reagiert und nicht nur der deutschen Wirtschaft war einmal mehr das ökonomische Hemd näher als die demokratische Hose. So berichtete die taz am 9.7.2021 ausführlich darüber, wie deutsche Konzerne „Kasse mit Lukaschenkos Regime“ machen, und die Tageszeitung Die WELT weiß am 22.6. des Jahres zu vermelden, dass Belarus 2020 „Waren im Wert von rund 730 Millionen Euro nach Deutschland aus[führte]“, das immerhin sein „viertgrößte[r] Handelspartner“ ist. Österreich wiederum ist einem Bericht der Salzburger Nachrichten vom 29.5.2021 zufolge „der drittgrößte Investor“ in Belarus. Das mag erklären, warum das Alpenland auf die Asylanfrage der belarussischen Olympionikin Kristina Timanowskaja nicht einmal reagierte. Europäische Großkonzerne wie l’Oreal, Nestlé, Mars oder Henkel halten Lukaschenko gemeinsam mit US-amerikanischen (Coca-Cola, Colgate u. a.) finanziell über Wasser, indem sie „63 Prozent der in einer Woche ausgestrahlten 874 Werbespots“ des Staatsfernsehens schalten und so dessen Kassen fleißig mit Einnahmen füllen. Dabei sind Wirtschaftssanktionen „das wohl schmerzhafteste Bestrafungsinstrument“, wie Alice Bota in ihrem Buch über [d]ie Frauen von Belarus sicher zu Recht erklärt.

Was nun das öffentliche Interesse der westlichen Welt betrifft, so wurde es angesichts spektakulärer Verbrechen des Regimes zwar immer wieder entfacht, war jedoch nie von langer Dauer. So etwa nach der „staatliche[n] Entführung“ eines Flugzeuges mitsamt seinen mehr als 100 PassagierInnen, dem bereits erwähnten Entführungsversuch der Sportlerin oder zuletzt nach dem skandalösen Urteil gegen die Flötistin Maria Kolesnikowa, die nach einem Geheimprozess Anfang September aufgrund frei erfundener Anschuldigungen zu elf Jahren Haft verurteilt worden war, weil sie gemeinsam mit der Lehrerin Swetlana Tichanowskaja und der IT-Managerin Veronika Zepkalo das weibliche Triumvirat des Widerstandes gegen den Wahlbetrug bildete und dabei ebenso wie die anderen beiden einen langen Atem bewies. 

Das kurz aufflammende öffentliche Interesse erwies sich jedes Mal schnell als bloßes Strohfeuer. Darum ist Botas Buch umso wichtiger. Seine Autorin berichtet nicht nur über den widerständigen Weg der drei weiblichen Ikonen der belarussischen Opposition, sondern auch vom „Kampf um Grundrechte. Um Freiheit. Um Selbstbestimmung“ von Millionen anderer Frauen des Landes. Denn in dem Buch geht es „ausnahmsweise“ einmal „nicht um Männer“, sondern um die „Geschichten der Überwindung“ und „Selbstermächtigung“ der „viele[n] unbekannte[n] Frauen“, die gegen Lukaschenko und seine gefälschte Wiederwahl auf die Straße gingen. 

Dass der Protest gerade von Frauen getragen wurde, mag in Anbetracht der Tatsache überraschen, dass sie es waren, die Lukaschenko in den ersten Jahren seiner Herrschaft am stärksten unterstützt hatten, wie aus Botas Buch zu erfahren ist. Andererseits aber erstaunt die über Jahre andauernde Treue der Anhängerinnen Lukaschenkos angesichts seines schon immer unverhohlen „despotische[n] Charakter[s] gerade in seinem Verhältnis zum weiblichen Geschlecht“. Doch eben dieser Charakterzug habe vielen Belarussinnen „imponiert“, erklärt Bota.

Die Autorin hat nicht nur mit Kolesnikowa, Tichanowskaja und Zepkalo Gespräche geführt, sondern auch mit zahlreichen anderen oppositionellen Frauen, die bezeichnenderweise nicht selten als ehrenamtliche Helferinnen in der Pflege und im medizinischen Bereich arbeiten. Die meisten aber üben anspruchsvolle Tätigkeiten in der IT-Branche aus. Sie alle erzählten der Autorin ihre persönliche Geschichte, wie und warum sie sich der Opposition anschlossen und woher sie den Mut und die Kraft für ihren ausdauernden, aber stets friedlichen Widerstand nahmen. Nicht wenige von ihnen berichteten von der „routiniert durchgeführt[en]“ Folter, mit der die Schergen des Regimes nach den Festnahmeorgien versuchten, die Frauen „zu vernichten“. Bei diesen Folterungen waren sexuelle Angriffe bis hin zu Vergewaltigungen gang und gäbe. Die eine oder andere der Befragten stellt zudem theoretische Überlegungen an. So analysiert eine der Oppositionellen die Bewegung aus frauenrechtlerischer Perspektive und legt dar, warum der Aufstand der Frauen gegen das Regime nicht feministisch gewesen sei.

Maria Kolesnikowa allerdings wird von Bota sehr zu Recht der Ehrentitel Feministin verliehen. Swetlana Tichanowskaja „verkörpert“ der Autorin zufolge hingegen „die Hausfrau“ und Veronika Zepkalo „[stellt] die Synthese beider Frauen dar“.  Auch wenn das Buch zahlreiche Frauen des Widerstandes porträtiert und zu Wort kommen lässt, richtet sich sein Hauptaugenmerk doch auf die drei prominenten Oppositionsführerinnen. Dabei zeichnet Bota nicht nur deren jeweilige Geschichte nach und analysiert ihre Rolle als Gegenspielerinnen Lukaschenkos, sondern wirft auch einen Blick auf ihre charakterlichen Unterschiede und Eigenarten. So legt sie etwa dar, wie aus der „Hausfrau“ Tichanowskaja eine „weltberühmte[.] Politikerin“ wurde. „Es war eine Revolution in mir“, sagt diese selbst. Doch möchte sie im Grunde „wieder Ehefrau und Mama sein“. Auch hoffe sie, „keine verantwortungsvollen Entscheidungen treffen [zu] müssen“. 

Zepkalo, die betont, dass „Freiheit […] es wert [ist], um sie zu kämpfen“, durchlebte hingegen eine Wandlung, die aus der „Ehefrau an der Seite eines Regime-Politikers“ eine „erbitterte[.] Gegnerin“ Lukaschenko machte. Eine Entwicklung, die Bota nicht ganz geheuer zu sein scheint. Jedenfalls habe sie sich „nicht ohne Widersprüche“ vollzogen, die Zepkalo nicht erklären könne.

Ganz anders hingegen der gradlinige Weg Kolesnikowas. Es scheint, als hege Bota für „die Unabhängigste, die Kompromissloseste“ unter den dreien die größten Sympathien. Sie ist es denn auch, die sie den Lesenden menschlich besonders nahebringt. Dies mag nicht zuletzt den abgedruckten Briefen zu danken sein, die Kolesnikowa aus dem Gefängnis an ihre Schwester schrieb.

Bota informiert jedoch nicht nur über bekannte und unbekannte Gegnerinnen Lukaschenkos, sondern kritisiert auch die westlichen, insbesondere die deutschen Reaktionen auf Lukaschenkos Wahlbetrug und seinen anschließenden Terror, der sich zwar auch gegen die internationale Luftfahrt, insbesondere aber gegen die Menschen in Belarus richtet, vor allem gegen den mutigen Widerstand der Frauen von Belarus. Die berechtigte Kritik der Autorin trifft nicht nur die deutsche Regierung und Wirtschaft, sondern namentlich die feministische Zeitschrift EMMA, die antisexistische Organisation Pinkstinks und das queerpolitische Missy Magazin, die sich allesamt kaum für den Kampf der Belarussinnen interessieren. „Es wäre absurd“, räumt Bota trotz ihrer nachdrücklichen Kritik entschuldigend ein, „von Feministinnen zu erwarten, sich für die Belange jeder Frau auf der Welt einzusetzen.“

Doch, genau das ist der Kern des Feminismus! Und so hat Alice Schwarzers EMMA immerhin Ende letzten Jahres Maria Kolesnikowa ein kurzes Porträt gewidmet (Nr. 353, November/Dezember 2020) und in ihrer jüngsten Ausgabe (Nr. 358, September/Oktober 2021) ein Interview mit der belarussischen Oppositionellen Iryna Herasimowitsch geführt.

Botas Buch über die widerständigen Frauen von Belarus ist nicht nur sehr informativ, sondern aufgrund der persönlichen Zugangsweise der Autorin auch gut lesbar. Ihre Formulierungen sind dabei nicht selten pointiert („In ihren 69 Jahren erlebte die Sowjetunion mehr Schaltjahre als Frauen an Schaltstellen der Macht“) und ihre Vergleiche treffend. Etwa, wenn sie die „merkwürdige Beziehung“ beschreibt, die bis zu seinem Wahlbetrug zwischen Lukaschenko und den belarussischen Frauen herrschte: „Sie erinnert an eine unheilvolle Ehe: Er beleidigt, sie beschwichtigt. Er erniedrigt, sie erträgt. Sein Stil: groß herablassen. Ihr Stil: ertragend, abwiegelnd.“

Zwar seien die Proteste heute „versiegt“ und „der Kampf verloren“, resümiert Bota, doch „was die drei Frauen im Sommer 2020 entfacht haben, wie die belarussische Gesellschaft ihre Kraft entdeckt und verändert hat, das ist nicht abgeschlossen und vorbei“. Denn die seitherigen „Veränderungen wirken nach“. Auch ende die belarussische Revolution keineswegs, „wenn Lukaschenko weg ist“, sondern fange dann erst richtig an. Entschieden aber werde der Kampf letztlich in Moskau.

Zu hoffen ist, dass Botas Buch seinen Teil dazu beitragen kann, dass er im Sinne der Demokratie ausgehen wird. Dazu bedarf es möglichst zahlreicher LeserInnen, die ihrerseits dazu betragen, dass der Protest gegen Lukaschenkos Regime nicht völlig vergessen wird, sondern auch hierzulande anschwillt.

Titelbild

Alice Bota: Die Frauen von Belarus. Von Revolution, Mut und dem Drang nach Freiheit.
Berlin Verlag, Berlin 2021.
240 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783827014429

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch