Variationen über das Anthropozän

T. C. Boyles jüngster Erzählband besieht das Menschsein zwischen Kultur und Natur, zwischen zivilisatorischer Prägekraft und katastrophischem Ausgeliefertsein

Von Sebastian BöckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Böck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Den Menschen lieb‘ ich, mehr noch die Natur.“ Mit diesem Zitat aus Lord Byrons Versepos Childe Harold’s Pilgrimage (1812–1818) hebt die im Februar bei Hanser erschienene Kurzgeschichtensammlung Sind wir nicht Menschen? von T. C. Boyle an. Um den Menschen geht es und dessen Begegnung mit der Natur; der eigenen ebenso wie der ihn umgebenden. Und mag der herbeizitierte Zweiklang aus Humanismus und Naturerhabenem zunächst auch darüber hinwegtäuschen: Harmonisch verlaufen die allerwenigsten dieser Begegnungen. Entsprechend unversöhnlich komplementiert der Autor sein Motto mit Philip Larkins Requiem auf das Menschengeschlecht (This Be the Verse, 1971): „Vererbtes Elend, ungesund / Lagert sich’s ab in Schichten. / Steig schleunigst aus, du solltest auch / Auf Nachkommen verzichten.“ 

Damit ist der Erwartungsrahmen bereits abgesteckt. In neunzehn pointierten Short Stories fächert Boyle das Konfliktfeld auf: Men versus Nature möchte man es plakativ umreißen, würde dem bunten Boyle’schen Handlungs- und Figurenkosmos damit allerdings nicht gerecht werden. Keineswegs monothematisch, sondern gewohnt nuanciert und variantenreich dekliniert der Meister der erzählerischen Kurzform hier sein Leitmotiv. Die Palette reicht dabei von Haustieren, die sich mittels Gentechnik auf die eigene Wohnungseinrichtung oder den individuellen Musikgeschmack abstimmen lassen, über eine nicht mehr nur bedrohte, sondern (durch Weltraumschrott, Pandemien, Dürren, Sturmfluten oder die unaufhaltsame Ausbreitung eingeschleppter Arten) zunehmend auch bedrohliche Umwelt bis hin zur „Relive Box“, dem neuesten Unterhaltungsmedium, mit welchem sich dem Alltagsgrau in glanzvollere Stationen der eigenen Vergangenheit entfliehen lässt.

Wer an dieser Stelle nun aber – unterstützt von einem leicht irreführenden Verlagsmarketing –Fortschrittsdystopien in Black Mirror-Manier erwartet, wird enttäuscht werden. Auf Sci-Fi-Horror zielen Boyles Geschichten an keiner Stelle ab. Zwar lässt sich deren plot in einer nahen, stark gegenwartsgesättigten Zukunft verorten, ihre story kreist jedoch nicht um technologische Errungenschaften und deren Segen respektive Schrecken, sondern durchweg um das fragile Zwischen-, das allzu Menschliche ihrer Protagonisten. Für diese (zumeist mittelalten bis älteren Männer) bilden argentinische Ameisen, Riesen-Burritos sowie kirschrot phosphoreszierende Pitbulls lediglich ‚unerhörte Begebenheiten‘, jene hintergründigen handlungs- und reflexionsauslösenden Momente, die sie mit der Einsicht in die eigene Endlichkeit, Hybris, Perspektivlosigkeit, mit dem Scheitern ihrer Beziehungen oder dem Zusammenbrechen ihres positivistischen Weltbildes konfrontieren. Im Vordergrund stehen hingegen getriebene Gastronomen, pornosüchtige Lehrer, um das Leben ihrer Kinder besorgte Eltern, Betrogene, Bestohlene und Flüchtlinge – kurzum: gebrochene oder vom Zerbrechen bedrohte, nicht selten tragikomische Figuren, die diese naheliegende und zugleich befremdliche Welt bevölkern und uns auffordern, ein Stück weit in ihren Spuren zu gehen.

Vor dem Hintergrund der derzeitigen Corona-Krise erhalten manche der Geschichten aus dieser gar nicht mal so aktuellen Anthologie (zwölf der Geschichten wurden bereits 2017 in The Relive Box and Other Stories, die Mehrzahl über das zurückliegende Jahrzehnt verteilt im New Yorker oder Harper’s Magazine veröffentlicht) eine fast unheimliche Aktualität. Scheinen einige der Diskursfäden, die der Autor in seinen Fiktionen verspinnt, mittlerweile doch von der Wirklichkeit eingeholt worden zu sein:

„Das dauert zwei Jahre, mindestens“, sagte ich, und ich wollte gar nicht, dass es zurechtweisend klang, aber ich fürchte, genau das tat es. Ich war aufgebracht – all die kleinen Dinge des Lebens, die Dinge, die man in guten Zeiten selbstverständlich fand, bekamen eine ganz andere Dimension. So angespannt war die Situation inzwischen. / 

Bevor er sich umdrehte und losrannte, zog er eine Maske aus der Tasche – eine schmutzige, der man ansah, dass sie benutzt worden war –, legte die Gummischlaufen um die Ohrmuscheln und stülpte das Ding über Mund und Nase […]. /

Eine Woche, und wie viele würden noch kommen? Er stellte eine schnelle Berechnung an. Ein Jahr hatte zweiundfünfzig Wochen – also das Doppelte davon und noch sechsundzwanzig dazu. Es war, als würde man rückwärts auf einen Berg steigen: Ganz gleich, wie viele Schritte man machte – man bekam den Gipfel nie zu sehen.

Empfiehlt dieser T. C. Boyle sich folglich als Beipackzettel für die Pandemie? Für den nächsten Lockdown sollte ein Exemplar von Sind wir nicht Menschen? im Bücherregal jedenfalls nicht fehlen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

T. C. Boyle: Sind wir nicht Menschen. Stories.
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren und Anette Grube.
Carl Hanser Verlag, München 2020.
400 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783446265585

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