Zwischen Alleinsein und Geborgenheit

In seinem literarischen Debüt „Raumpatrouille“ erzählt Matthias Brandt von seiner Kindheit als Sohn des Bundeskanzlers

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es scheint so etwas wie ein Trend zu sein: Schauspieler, die Bücher schreiben. Josef Bierbichler und Joachim Meyerhoff haben es genauso getan wie Daniel Brühl und Robert Seethaler. Nicht nur sehen, sondern auch lesen kann man in inzwischen regelmäßigen Abständen Neues von Armin Mueller-Stahl und Ulrich Tukur, die ganz nebenbei auch noch veritable Musiker sind. Dominique Horwitz und Miroslav Nemec spielen nicht nur in Krimis mit, sondern schreiben auch welche. Mario Adorf und Erika Pluhar drücken sich schon länger literarisch aus. Und jüngst erst sind als schreibende Debütanten Christian Berkel und Burghart Klaußner in Erscheinung getreten. Warum also nicht auch Matthias Brandt, dritter und jüngster Sohn von Ex-Bundeskanzler Willy Brandt und seiner zweiten, in Norwegen zur Welt gekommenen Frau Rut?

Raumpatrouille hat der sein Erstlingswerk nach der beliebten Science-Fiction-Fernsehserie benannt, die erstmals 1966 – da wurde Brandt fünf Jahre alt – über die Mattscheiben der Bundesrepublik flimmerte und dafür sorgte, dass sich die Straßen leerten. Passend dazu posiert auf dem Titelbild des Bändchens ein vom Betrachter weg in die Ferne schauender Knabe im Kosmonautenanzug. Das spielt wohl auf jene der in dem Band enthaltenen 14 Geschichten an, in der der Junge von seiner Mutter mit 20 D-Mark in die Stadt geschickt wird, um sich die Bücher für das nächste Schuljahr zu kaufen. Doch zunächst zieht es ihn in die Spielwarenabteilung des Bonner Kaufhofs, wo es ihm eine Astronautenausrüstung so antut, dass er darüber den ursprünglichen Zweck seines Ausflugs ganz vergisst und statt mit Büchern mit „einer Art Pyjama […], dessen Stoff eine gummierte silberfarbene Beschichtung erhalten hatte“, nach Hause zurückkommt. Weder Kosmonaut noch – zweiter Wunschberuf des Kindes – Postbote ist Brandt schließlich geworden, sondern einer, der auf Bühne und Leinwand so gekonnt wie glaubhaft in Dutzende von Rollen schlüpft.

Geschichten aus dem Kosmos eines ganz besonderen – auch ganz besonders einsamen – Kindes hat Brandt in seinem Debüt versammelt. Schnörkellos erzählt, mit vielen Details an die Zeit, in der sie spielen – Ende der 1960er, Anfang der 70er Jahre – gekoppelt, jedoch von keiner Chronologie zusammengehalten. Bekannte Namen tauchen auf: Herbert Wehner als brummiger Fahrradfahrer oder Ex-Bundespräsident Heinrich Lübke, mit dem es sich bei einer Tasse Kakao wunderbar plaudern ließ. Aber auch das für die Sicherheit des vierten Kanzlers der Bundesrepublik Deutschland verantwortliche Personal spielt eine Rolle, Wachleute und Personenschützer, denen aus der abgeschirmten Villa in den nahen Wald zu entkommen für das Kind Herausforderung und diebische Freude zugleich ist und deren nach Feinmechaniköl und dem Leder des schwarzen Pistolenholsters riechende Waffe eines Tages zur großen Versuchung für den Sohn des „Chefs“ wird.

Problematisch ist es allemal, einen Bundeskanzler zum Vater zu haben. Auch wenn das dem Kind nicht immer bewusst ist. Doch dass man beim Besuch eines Bonner Volksfestes – des allherbstlichen „Rummels auf der anderen Rheinseite“ – in einer großen Wagenkolonne bis direkt an die verlockenden Fahrgeschäfte herangekarrt wird und ganz allein mit Vater und Mutter Autoscooter, Losbude und Riesenrad ausprobieren darf, umwimmelt lediglich von etlichen Fotografen, darf zwar einerseits als Privileg genossen werden, macht auf der anderen Seite aber auch die Distanz deutlich, in der man zu anderen lebt. Denn es fehlen bei dem Ausflug eben jene, mit denen man sich anderentags gern über das Erlebte austauschen würde, all die Klassenkameraden und Freunde, die man um ihr Leben beneidet, darf man denn einmal bei einem von ihnen übernachten.

Die Mutter spielt anscheinend eine größere Rolle im Leben des Kindes als der Vater. Mit ihr fährt der Junge in die Ferien zu seinen norwegischen Verwandten. Sie ist um ihn, wenn er krank ist, nimmt ihn mit zum geschätzten Professor Terentius nach Düsseldorf, der Stadt, die dem Kind im Vergleich zu Bonn wie eine Metropole vorkommt. Der angesagte Homöopath – für die Mutter ungleich kompetenter als der heimische Kinderarzt – behandelt sowohl die Migräne der Mutter als auch die Mandelentzündung des Knaben mit Ozonspritzen: „Die Spritzen waren nicht Einwegspritzen aus Kunststoff, sondern von einem Metallrahmen eingefasste gläserne Ungetüme, an die eine ungefähr zehn Zentimeter lange Injektionsnadel geschraubt war.“ Nach der Behandlung sitzen die beiden Erwachsenen dann noch so lange beieinander, bis der Rauch ihrer Zigaretten das Behandlungszimmer bis zur Decke eingenebelt hat. Tempi passati!

Aber auch an den Vater gibt es wunderbare Erinnerungen. Die schönste davon findet sich in der letzten Geschichte des Bandes. Sie trägt den Titel Was ist und erzählt von einer Begegnung zwischen Sohn und Vater im Arbeitszimmer des Letzteren. Erschöpft vom Tagwerk ist der Kanzler über einem Berg von Akten eingeschlafen. Das Klopfen an der Tür hat er überhört. Als er plötzlich aus dem Schlaf aufschreckt und sein Kind bemerkt, bittet es ihn aus seiner Verlegenheit darüber, ins verbotene Reich des Vaters eingedrungen zu sein, aus dem Buch vorzulesen, das es bei sich trägt. Dass sich der Vielbeschäftigte tatsächlich dazu herablassen würde, dem Wunsch Folge zu leisten, scheint für den Sohn undenkbar, hat doch bisher immer die Mutter das Amt der Vorleserin übernommen: „Aber dann legte er auf einmal seinen linken Arm um mich und begann vorzulesen. Ich konnte kaum glauben, was geschah […] Vorsichtig rutschte ich näher. Den Kopf schließlich, nach kurzem Zögern, erst an seiner Schulter, dann in seinem Schoß […] Das alles wollte ich nicht loslassen, und während ich das dachte, schlief ich ein.“

Noch in diesem Jahr erscheint mit Blackbird  Matthias Brandts erster Roman. Nach der vorliegenden Geschichtensammlung darf man gespannt sein, wie er in diesem Buch seine Jugendjahre heraufbeschwört. Denn in Raumpatrouille versteht er es nicht nur glänzend, seine Leser mitzunehmen in die Welt des kleinen Jungen, der er einmal war, sondern ihm gelingt es auch, mit wenigen Sätzen das Charakteristische jener Zeit aufleuchten zu lassen.

Titelbild

Matthias Brandt: Raumpatrouille. Geschichten.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018.
173 Seiten, 9,99 EUR.
ISBN-13: 9783462051575

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