Das Kopfkino des Romans

Stephan Brössel hat eine grundlegende Typologie und Geschichte des filmischen Erzählens verfasst

Von Jörg SchusterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Schuster

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die produktive Konkurrenz zwischen Literatur und Film beschäftigt die kulturwissenschaftliche Forschung seit langem. Insbesondere für die Literatur- und Kulturgeschichte der 1910er und -20er Jahre ist es common sense, dass der Film eine unerhörte Brisanz für die Schriftstellerinnen und Schriftsteller besitzt; die intensive, teilweise polemische Auseinandersetzung mit dem neuen Medium ist unter dem Schlagwort ‚Kinodebatte‘ bestens dokumentiert und erforscht. Wichtige neue Impulse brachte in den letzten Jahren und Jahrzehnten der innovative methodologische Ansatz der Intermedialität, der genaue Analysen der Wechselwirkung etwa zwischen literarischen Texten und Filmen ermöglichte.

Dass jedoch sowohl in systematischer als auch in historischer Hinsicht noch einiger Nachholbedarf besteht, zeigt die Studie von Stephan Brössel. Was er unternimmt, ist nicht mehr und nicht weniger als eine ebenso grundlegende wie nützliche narratologische Präzisierung der Intermedialitätstheorie. Zwar ist Brössels Prämisse, das ‚Filmische‘ trete überwiegend in Erzähltexten auf und sei an narrative Muster gebunden, etwas gewagt – in welchem Ausmaß Filmtechniken auch für die Lyrik entscheidend sein können, zeigen Gedichte des 20. Jahrhunderts von der Naturmagie Oskar Loerkes oder Peter Huchels bis hin zur cineastischen Poesie Rolf Dieter Brinkmanns. Dennoch ist es sinnvoll und produktiv, sich auf die Korrelation zwischen Erzähltexten und Film zu konzentrieren. Nicht zufällig bemerkte schon Kurt Pinthus, das „Kinopublikum [sei] im Wesentlichen ein Romanlesepublikum“, und wies damit auf eine grundsätzliche Affinität zwischen dem Erzählen im Film und im Roman hin.

Ertragreich ist das von Brössel entworfene Modell insbesondere, indem es erlaubt, filmisches Erzählen sehr präzise auch unabhängig von konkreten intermedialen Bezügen zwischen bestimmten Filmen und literarischen Texten zu analysieren. Seine Typologie differenziert zwischen offenen und verdeckten Formen und fragt nach Aspekten wie Erzählinstanz, Perspektive, Raum und Zeit. Hierzu wird zunächst dargelegt, auf welche Weise im Film denn erzählt wird. Der Befund, dass sich die Narration im Film nicht nur durch sprachliche Mittel wie Zwischentitel oder voice over, sondern mithilfe selegierender und strukturierender optischer Techniken wie Schnitt und Montage vollzieht, lenkt den Blick auf Formen des ‚visuellen‘, mitunter nicht subjektgebundenen Erzählens in der Literatur.

Zweifellos hätte diese wichtige theoretische Grundlegung etwas konziser und stringenter ausfallen können. Spätestens wenn auch noch Modelle des Handlungs- und Sozialsystems Literatur bemüht werden, fühlt sich der Leser mehr desorientiert als informiert. Auch ist nicht immer klar markiert, wo das Grundlagenwissen endet und der innovative Mehrwert im Blick auf das filmische Erzählen beginnt. Literarische und filmische Beispiele werden dabei oft mit einer gewissen Beliebigkeit und ohne Datierung integriert; warum nur nach 1930 entstandene Texte – von Friedo Lampe, Wolfgang Koeppen, Peter Weiss und Alexander Kluge – gesondert als Fallstudien behandelt werden, bleibt unbegründet.

Tut sich der Leser daher mit den grundlegenden systematisch-typologischen Überlegungen nicht unbedingt leicht, so wird er spätestens mit den historischen Kapiteln zum präfilmischen Erzählen im poetischen Realismus des 19. Jahrhunderts und zur Korrelation von Film und Literatur in der Moderne des frühen 20. Jahrhunderts belohnt. Insbesondere im Blick auf die poetisch-realistische Literatur wird der Nutzen einer Herangehensweise deutlich, die filmisches Erzählen nicht zwangsläufig auf das Medium Film bezieht, sondern im Sinne der spezifischen narrativen Gestaltung eines literarischen Texts – schon vor der Erfindung des Films – versteht. Dass es sich dabei keineswegs um einen Anachronismus handelt, zeigt Brössel in seiner differenzierten Herleitung filmischen Erzählens aus der Wahrnehmungsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Die hier zu beobachtende, auf fotografischen Reproduktionsverfahren und auf sich rasant entwickelnden Fortbewegungstechnologien wie der Eisenbahn beruhende Revolution der optischen Wahrnehmung führt zu einem Konnex zwischen Visualität und verbalem Erzählen, der für das poetisch-realistische Erzählen spezifisch erscheint und die Erfindung des technischen Mediums Film literarisch vorwegnimmt.

Ebenso differenziert und präzise wie die überraschende Antizipation filmischen Erzählens im 19. Jahrhundert stellt Brössel die Wechselwirkungen zwischen Film und literarischem Erzählen ab 1910 dar. Entwickelt sich der Film, der zunächst auf ein nicht-narratives Kino der Attraktionen und Sensationen beschränkt bleibt, bald zur literarisch-narrativen Form, so lassen sich umgekehrt an Filmtechniken orientierte, polyperspektivische Verfahren wie der short cut in der Literatur beobachten. Das Herstellen von kinematographischer Wirklichkeit verdankt sich innovativen filmischen Mitteln wie bewegter Kamera, Filmschnitt und Montage; sie ermöglichen eine spezifische Weise des Erzählens, wie sie im Poetischen Realismus literarisch antizipiert und in der Literatur der Moderne wiederum adaptiert und transformiert wird.

Titelbild

Stephan Brössel: Filmisches Erzählen. Typologie und Geschichte.
De Gruyter, Berlin 2014.
291 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110350586

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