Bruchstellen
In „Zwischen Du und Ich“ erzählt Mirna Funk von der Macht der Vergangenheit über die Gegenwart
Von Luisa Banki
Mirna Funks zweiter Roman setzt die in ihrem Debüt Winternähe (2015) begonnene Erkundung der Lebenswelten junger Jüdinnen und Juden in Berlin und Tel Aviv fort, verlagert dabei aber den thematischen Akzent von der Darstellung allgemeinerer gesellschaftlicher und politischer Missstände, wie deutschem Antisemitismus oder israelischer Militarisierung, hin zu einer Beleuchtung individueller Traumata und biographischer „Bruchstellen“. Im Zentrum stehen mit der Deutschen Nike und dem Israeli Noam zwei Figuren, die schwer an ihren jüdischen Familiengeschichten tragen und deren Liebesbeziehung an vergangenem Leiden und gegenwärtigem Schweigen scheitert. In beiden Familien ziehen sich die Wunden, die Verfolgung und Ermordung während der Shoah geschlagen haben, offen durch die Generationen. Jede Kindheit in diesen Familien ist seither mit Abwesenheiten und Schweigen belastet. Diese Lasten zeigt der Roman in oft eher angedeuteten biographischen Skizzen der Großeltern und Eltern eindrücklich auf und zeichnet die Spuren der gewaltvollen und unbewältigten Vergangenheit bis in die Gegenwart seiner Zentralfiguren nach.
Nike zieht mit Mitte dreißig von Berlin nach Tel Aviv, um dort sowohl für den Deutschen Akademischen Austauschdienst zu arbeiten als auch mit dem Erwerb der israelischen Staatsbürgerschaft einen lebensgeschichtlichen Neuanfang zu wagen. Sie ist gebildet, beruflich erfolgreich und schwer gehemmt. Sie verschweigt schamvoll ihre Erfahrung einer gewaltvollen Beziehung mit einem Mann, der sie zwischenzeitlich als glücklicher Familienvater auf dem Radweg des Lebens überholt hat. Ihre von starken, widerborstigen Frauen bevölkerte Familie lässt sie mit ihrer Suche nach einer jüdischen Lebensführung allein. So erreicht sie Israel und trifft Noam. Dieser hat schönes volles Haar, war – zumindest zeitweilig – als Kolumnist für Haaretz erfolgreich und ist doch vor allem immer noch ein misshandeltes Kind. Funk gelingt es besonders bei ihrem männlichen Protagonisten – von dem sie im Unterschied zu den Ich-Erzählungen der Nike-Kapitel distanzierter in der dritten Person erzählt –, eindrücklich zu zeigen, wie die Verwundungen des Kindes das Leben des Erwachsenen prägen. Vernachlässigt und missbraucht als Kind ist Noam auch als Vierzigjähriger nicht in der Lage, sich selbst zu versorgen, geschweige denn zu lieben. Er lebt in Schmutz und Unglück, gefangen in einer gewaltreichen Beziehung mit seinem Onkel, die für beide Männer überlebensnotwendig ist und sie doch gleichzeitig am Leben hindert.
Der Roman ist dramaturgisch klug gebaut und erzählt spannend und eingängig, woran auch bisweilen missglückte sprachliche Wendungen oder gelegentlich etwas holprige Tempowechsel zwischen detailverliebten, kleinschrittigen Schilderungen und sprunghaften Auslassungen nichts ändern. Die besten Formulierungen, schärfsten Beobachtungen und eindrücklichsten Beschreibungen gelingen Funk, wenn sie nicht erklärt, sondern erzählt.
Funk arbeitet in ihrem Roman wie auch in ihrer Publizistik unermüdlich daran, einem mehrheitsgesellschaftlichen deutschsprachigen Lesepublikum nicht allein eine Vorstellung ihrer jüdisch-feministischen Position zu vermitteln, sondern einen allgemeineren Blick auf Differenzen, auf Erfahrungen der Benachteiligung, Ausgrenzung oder Misshandlung aufgrund von Geschlecht, Aussehen, religiöser oder kultureller Zugehörigkeit zu ermöglichen. Diese didaktische Absicht ist wertvoll, wird im Roman aber teilweise so offensichtlich, dass die literarische Qualität leidet. Wenn etwa Statistiken zu häuslicher Gewalt in Dialoge eingebaut werden oder ein Gespräch über den Genozid in Ruanda sich recht unverhohlen als musterhaftes Beispiel für einen selbstkritischen Umgang mit weißen Privilegien und Unwissenheiten geriert, dann wird der Roman unter der Hand zu Gebrauchsliteratur, die den Leser*innen „wokeness“ weniger ‚eintrichtert‘ als ‚einhämmert‘.
Nichtsdestotrotz ist die Geschichte von Nike und Noam als Geschichte eines Scheiterns einer Liebe und gleichzeitig – zumindest für Nike – als Geschichte einer Befreiung und einer Öffnung auf die eigene Geschichte und Gegenwart hin lesenswert. Wie mit der titelgebenden Anspielung auf Martin Bubers dialogisches Prinzip versprochen, lotet der Roman die Möglichkeiten zwischenmenschlicher Beziehungen aus. Er verweist auf all die gesprochenen, geschriebenen und verschwiegenen Worte und all die toten und lebenden Menschen, die zwischen Ich und Du stehen, und erzählt davon, dass die meisten Beziehungen eher ‚Vergegnungen‘ als Begegnungen sind – verpasste Gelegenheiten, ein anderes Ich wahr- und anzunehmen.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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