Transnordische Projektionen

Bernd Brunner laboriert in „Die Erfindung des Nordens“ an der kulturhistorischen Rekonstruktion einer diffusen Kategorie

Von Katharina AlsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katharina Alsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Wunderkammer des dänischen Gelehrten Ole Worm (1588–1654), Museum Wormianum, eröffnet und beendet Bernd Brunners Kulturgeschichte des Nordens. Schlägt man den Band auf, so ziert ein Kupferstich dieser reich bestückten Kammer aus Kopenhagen den Buchvorsatz, zugleich ist sie Thema des ersten und letzten Kapitels. Wie auf der Abbildung zu sehen ist, vereint Worms historische Sammlung vielerlei Artefakte auf engstem Raum: Tierische Schädelskelette stehen neben Kriegerfigurinen oder einem ausgestopften Riesenalk (ein färöisches Exemplar der mittlerweile ausgestorbenen Seevogelart, die optisch einem Pinguin gleicht). Der Stoßzahn eines Narwals aus dem Nordpolarmeer liegt neben einem Hocker aus Walwirbelknochen und Kleidungsstücken aus geschecktem Pelz. Die Wände sind bis zur Decke behängt mit Jagdwaffen wie Harpunen und Pfeilen, mit Hörnern und Wildgeweihen. Die Zimmerdecke selbst ist ausstaffiert mit einem Kanu und (über-)lebensgroßen Tierpräparaten von Fischen, Vögeln sowie einem Eisbären mit auffallend spitzen Zähnen. Im Nachsatz des Buches wird die motivische Klammer des Museum Wormianum geschlossen, indem die gelehrte Sammelwut des 17. Jahrhunderts in die Kunstwelt der Gegenwart transportiert wird: Der dortige Abdruck zeigt die Rauminstallation One Room (2003) der US-amerikanischen Fotografin Rosamond Purcell, die Worms historische Wunderkammer nach Vorlage des Kupferstichs nachgebaut hat. Mit diesen beiden Bildern als Changierspiel zwischen Original und Rekonstruktion, zwischen Damals und Heute, empfängt und entlässt der Autor seine Leser*innen. Erstens deutet er damit die immense Zeitraumabdeckung des Buchs an. Es geht von mittelalterlichen Handschriften, den altnordischen Sagas, bis zu Schlagwörtern der Gegenwart wie IKEA, Björk oder auch Dogma 95. Zweitens spiegelt die Worm’sche Wunderkammer im Sinne einer visuellen Metapher auch die im Text verhandelte Materialfülle wider. Worms historische Sammlung ist nicht nur inhaltlich relevant, sondern Brunners Studie auch strukturell verwandt: Beide mögen vielschichtig sein und vielleicht Unentdecktes bergen, doch sind sie zugleich randvoll mit Schnickschnack, der stellenweise sinnwidrig kategorisiert oder gar fehl am Platz scheint. Die Selektionsprinzipien, die der Materialwahl hier (bei Brunner) wie dort (bei Worm) zugrunde liegen, bleiben größtenteils im Ungewissen.

Das Unterfangen, dem sich Die Erfindung des Nordens verschrieben hat, ist jedenfalls kein geringes: Es soll, so Brunner, ein kulturgeschichtlicher Katalog zu Vorstellungen vom Norden im Wandel der Zeiten erstellt werden. Der Norden erweist sich dabei selbst als bewegliche Kategorie. Variierende Zuschreibungspraxen sind nachzuverfolgen: Der Norden – oder treffender: Die ‚vielen Norden‘ sind mehr als nur Koordinaten räumlicher Orientierung. Sie sind mit kultureller und politischer Bedeutung aufgeladen, existieren sowohl als konkrete Orte als auch im Modus der Idee und Projektion. Bezeichnend ist, dass Brunner mit diesem Ansatz einen viel weiteren Rahmen anlegt als den der nordischen Länder und Regionen im engeren Sinn. Dies wären die skandinavischen Länder Dänemark, Norwegen, Schweden und Finnland, dazu Island, die Färöer und Grönland im Nordatlantik, die am Bottnischen Meerbusen gelegenen Åland-Inseln sowie die grenzüberschreitenden Gebiete der indigenen samischen Bevölkerung. Alternativ stellt Brunner unter dem Schlagwort des Nordens ein ‚transnordisches‘ Panorama zur Diskussion und verweist – wenn auch leider keiner erkennbaren Systematik folgend – auf Gebiete, die heute zu Kanada, Schottland oder Sibirien zählen. Inseln und Inselgruppen im Nordmeer wie Spitzbergen oder Jan Mayen werden ebenso erwähnt wie (als südlichste Referenz des gesamten Buchs) Bouvetøya, eine von Norwegen abhängige Vulkaninsel nördlich der Antarktis. Passend dazu wird die vermeintlich manifeste geographische Verortbarkeit des Nordens von Brunner hinterfragt und dieser Irrtum mit einer simplen Formel auf den Punkt gebracht: Wo genau Norden ist, ist nicht pauschal festzulegen, sondern relational, flexibel, standortabhängig zu bestimmen. Wie man lernt, stand auch die historische Kartographie bisweilen Kopf. Der Norden wurde früher auf Landkarten mal unten, mal rechts eingezeichnet, bis im 16. Jahrhundert schließlich die Nordung zur Norm wurde.

Mit dem Projekt, die Kulturgeschichte einer der vier Haupthimmelsrichtungen zu schreiben, ist Brunner übrigens nicht allein. Seine Monographie bildet nicht nur das polare Pendant zu Dieter Richters Buch Der Süden. Geschichte einer Himmelsrichtung (2009) und eine Ergänzung zu Johann Michael Möllers Der Osten. Eine politische Himmelsrichtung (2019). Auch für spezifische Teilregionen des Nordens finden sich jüngere Veröffentlichungen, darunter etwa Die neue Arktis. Der Kampf um den hohen Norden (2019) des Journalisten Marzio G. Mian, der geopolitische Dilemmata rund um den Klimawandel in den Fokus stellt. Eine kritische Perspektive zu Auswirkungen des Klimawandels auf den geographischen Norden findet sich bei Brunner leider nur in verknappter Form. So weist er darauf hin, dass das Wunschziel vergangener Jahrhunderte, eine eisfreie Nordpassage per Schiff zu finden, unaufhaltsam näher rückt. Dies ist symptomatisch für seinen Umgang mit Gegenwartsphänomenen: In den letzten Kapiteln werden reihenweise Begriffe aus der zeitgenössischen (Populär-)Kultur angeführt, ohne sie jedoch in Bezug zu setzen oder in übergeordnete Argumentationslinien einzubauen. Dadurch entsteht eine stellenweise chaotisch wirkende Oberflächlichkeit. Unzweifelhaft stellt sich bei der Lektüre von Brunners Anekdotensammlung eine erfrischende Kurzweiligkeit ein, die zum Teil gerade durch die Vagheit und Disparatheit der zahlreichen Narrative entsteht. Allerdings weisen die Recherchen neben kleineren Ungenauigkeiten auch ernstzunehmende inhaltliche und sprachpolitische Defizite auf. Drei dieser Defizite sollen im Folgenden erläutert werden.

Erstens: Wie im Verlauf der Lektüre deutlich wird, haben die Betrachtungen Brunners ihren (unmarkierten) Ausgangspunkt stets im deutschsprachigen Kulturraum. Das wird etwa an der Quellenauswahl ersichtlich: Bevorzugt werden Philosophen und Kulturgrößen der deutschen Geschichte wie Johann Gottfried Herder, Immanuel Kant, Heinrich Heine oder die Brüder Grimm herangezogen. Der moderne Literaturkanon Skandinaviens hingegen wird ausgeklammert. Auch finden sich umfassende Textpassagen über die rassenideologische Vereinnahmung und „Verherrlichung alles Nördlichen“ im nationalsozialistischen Deutschland. Eine solche germanozentrische, mitteleuropäische Perspektive wird stillschweigend eingenommen, ohne sie als Setzung zu reflektieren. Ein metareflexiver Kommentar über die Verortung des Buchs wäre zur Leser*innenführung wünschenswert gewesen. Der Norden erscheint in Brunners Buch somit größtenteils als Fremdzuschreibung, die von Außenstehenden verschiedentlich imaginiert wurde. Vor allem Reiseberichte prägen die Lektüre. Statt einer differenzierten Darstellung und Multiperspektivierung des Blicks nicht nur auf, sondern auch aus dem (oder ‚den‘) Norden werden zahlreiche Stereotype aktualisiert, ohne näher auf die Heterogenität nordischer Regionen und Kulturen einzugehen. Die häufig romantisierten Einzelaspekte (Saunakultur, Hygge oder auch unberührte Natur) bleiben leider seltsam pauschal.

Zweitens: Die Kolonial- und Unterdrückungsgeschichten Nordeuropas, die in den letzten Jahren immer mehr ins Zentrum der skandinavistischen und nordistischen Forschung gerückt sind, werden in Brunners Kulturgeschichte ausgeklammert oder nur sehr unvollständig angeführt. Zu kolonialen Vorgängen in Grönland wird beispielsweise lediglich erwähnt, dass es zahlreiche missionarische Unternehmungen gab. Unterdrückungsgeschichten der indigenen Sámi finden gar keine Nennung. Auch sprachpolitische Verbote aus der Historie wie zum Beispiel des Finnischen oder des Färöischen werden nicht thematisiert. Diese Position, die einen ‚nordischen Exzeptionalismus‘ in Bezug auf Kolonialismus und Imperialismus suggeriert, ist angesichts der aktuellen Forschung als veraltet zu bezeichnen. So verwundert es auch nicht, dass bei Brunner keine übergeordneten Zwecke – allen voran mögliche imperialistische Motive – der vielen geschilderten Reisen und Expeditionen in den geographischen Norden diskutiert werden.

Drittens: Die benannten thematischen Lücken gehen mit einer unkritischen Verwendung von kolonialistisch geprägter Sprache einher – obwohl Brunner einen kritischen Umgang eigentlich als Selbstanspruch formuliert. Eine solche begriffliche Laxheit ist in ihrer Signalwirkung natürlich fatal. Wiederholt wird etwa von „den Lappen“ oder „Lappland“ berichtet, statt die Eigenbezeichnungen der Sámi einzubringen oder zumindest auf die Begriffsproblematik hinzuweisen. Auch ist abwechselnd mal von „Ureinwohnern“, mal von „indigener Bevölkerung“ die Rede, obwohl diese Ausdrücke nicht deckungsgleich sind. Bei Orten in Finnland fallen regelmäßig die schwedischen statt der finnischen Namen (zum Beispiel Åbo statt Turku). Damit wird an ein schwieriges historisches Erbe angeknüpft, da die finnische Sprache lange Zeit als sogenannte ‚Bauernsprache‘ systematisch aus öffentlichen Diskursen verdrängt worden war. Solche ungleichen Kräfteverhältnisse, die sich durch die Geschichte ziehen und bis in die Gegenwart hineinwirken, erläutert Brunner jedoch nicht. Ähnliches gilt für Städte in Grönland: Brunner verwendet kommentarlos die historische dänisierte Bezeichnung Godthaab, wenn er von der grönländischen Hauptstadt Nuuk spricht. Dadurch entsteht ein inkonsistentes Gesamtbild. Schade ist diese fehlende Sensibilität für (inner-)nordische Machtasymmetrien und marginalisierende Sprachpolitiken vor allem auch deshalb, weil die fanatisch-ideelle Vereinnahmung des Nordischen während des totalitären NS-Regimes detailliert und wachsam nachgezeichnet wird. Dies schafft ein Missverhältnis der Gründlichkeitsgrade, mit denen sich dem Thema ‚Norden‘ angenähert wird.

Zur Verteidigung von Brunners Text ist jedoch in Erinnerung zu rufen, dass es sich um ein Sachbuch handelt, das keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt. Deshalb dürfen die Kriterien für Exaktheit und Gewissenhaftigkeit der Recherchen nicht zu streng angelegt  werden. Trotzdem ist es eine vertane Chance, wenn kritische und (sprach-)sensible Zugriffe großenteils verwehrt oder nur inkonsequent gewährt werden. Das Werk bleibt damit hinter den selbst gesteckten Zielen zurück. Eigentlich sind es ja gerade die von Brunner immer wieder betonten (zu) „heilen Welten“ im öffentlichen Bild des Nordens sowie dessen Konstruktionscharakter in all seinen Ambivalenzen, die für historisch-kritische Positionen sehr gut anschlussfähig wären. Denn der Norden, so Brunner, ist nichts, „was in einer bestimmten Form für alle Zeiten Bestand hätte, er unterliegt dem historischen Wandel – und wird dabei immer wieder neu erfunden bzw. konstruiert“.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die selbst ernannte Charakterisierung des Buchs als „Katalog“ zutreffend und somit geglückt ist. Es wird den Leser*innen tatsächlich ein Sammelsurium an die Hand gegeben, das sich als Kompendium kurzer wie kurzweiliger Anekdoten zum (imaginierten) Norden liest. Auch beim Nerd-Bingo könnte man mit der einen oder anderen kuriosen Reisegeschichte, die Brunner erzählt, sicherlich punkten. Einzig im Rahmen von Reisegeschichten treten übrigens auch Frauen in Erscheinung, ansonsten ist die hier vorgestellte Kulturgeschichte durchweg männlich dominiert. Mit der deutschen Schriftstellerin und Feministin avant la lettre, Emilie von Berlepsch, wird auf Seite 98 des 288 Seiten langen Werks eine erste Frau genannt, die im Jahr 1799 nach Schottland reiste. Bezeichnend für die untergeordnete Rolle, die historische Frauenfiguren in Brunners Buch spielen, ist leider auch die Charakterisierung, mit der von Berlepsch eingeführt wird: Sie war, so die primäre Information, „eine gute Bekannte von Herder“. Damit nicht genug: Mit Verweis auf ihre vierbändigen Reisebeschreibungen Caledonia (1802–04) wird sie zudem als „offene, zuweilen etwas naive Person“ typisiert. Die Schriftstellerin und Salonnière Johanna Schopenhauer, die im frühen 19. Jahrhundert durch England und Schottland reiste, ist die zweite Frau, die im Buch genannt wird. Sie wird in einem ähnlichen Duktus, nämlich über ihre persönliche Verbindung zu einem kulturprägenden Mann, präsentiert. Sie war, wie Brunner informiert, die „Mutter des Philosophen Arthur Schopenhauer“. Dass sie ebenfalls Mutter der Schriftstellerin Adele Schopenhauer war und zudem ein beträchtliches eigenes Œuvre hinterlassen hat, wird verschwiegen.

Neben den angeführten begrifflichen Ungenauigkeiten und einer unzureichenden Sensibilität für historische Machtasymmetrien ist es vor allem die Dramaturgie des Buchs, die einem langfristigen Zugewinn der Lektüre entgegenwirkt. Das sich anhäufende anekdotische Wissen wird durchgehend in einer Art Stakkatostil präsentiert, doch es konkretisiert oder verdichtet sich nicht zu übergeordneten narrativen Strängen. Der strukturelle Schwerpunkt liegt somit in der Akkumulation von Beispielen, nicht jedoch in einer eleganten Leser*innenführung. Es bleibt die Kopenhagener Wunderkammer von Ole Worm als textuelles und visuelles Motiv, das Eingang und Ausgang der Lektüre bildet und – aller Kritik zum Trotz – auf der Metaebene aufzuzeigen vermag: Auch (oder gerade) Ungeordnetes und Disparates kann noch Jahrhunderte später von Interesse sein und birgt vielleicht Erkenntnispotenziale, von denen auch geneigte Leser*innen zum Zeitpunkt des Entstehens noch nichts ahnen können.

Titelbild

Bernd Brunner: Die Erfindung des Nordens. Kulturgeschichte einer Himmelsrichtung.
Galiani Verlag, Berlin 2019.
318 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783869711928

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