Ex oriente lux?
Johann Michael Möller vermisst den aktuellen Ostdiskurs
Von Karl Adam
Die klassische europäische Geschichtsschreibung erzählt laut dem US-Anthropologen Eric Wolf vom antiken Griechenland, das das antike Rom hervorgebracht hat, aus dem wiederum das christliche Europa hervorging; mit Renaissance, Aufklärung, Demokratie und industrieller Revolution. Daraus gingen wiederum die Vereinigten Staaten von Amerika mit ihrem Recht auf Leben und Freiheit und dem Streben nach Glück hervor. Ein Grundmuster dieser Erzählung ist das vom fortschrittlichen Westen und vom zurückgebliebenen Osten. Seit den Perserkriegen der Antike wird diese Erzählung perpetuiert: Hier die freien Griechen, dort die Despotie der Perser, bis weit in das 20. Jahrhundert hinein. Und bis heute prangen Thermopylen-Zitate in Gedenkanzeigen für Gefallene der „Ostfront“.
Der langjährige FAZ-Korrespondent, WELT-Redakteur und MDR-Hörfunkdirektor Johann Michael Möller, der auch Vorstandsmitglied des Petersburger Dialogs ist, hat nun einen gehaltvollen Essay zum Osten als „politische Himmelsrichtung“ vorgelegt. Ihm ist es um Deutschland, um die „neuen Bundesländer“, um „Mitteleuropa“ und um Eigen- und Fremdwahrnehmungen „des Ostens“ zu tun. In konzentrischen Kreisen, teils ausgreifend, teils rückführend, wird vermittels zahlreicher Kleinstabschnitte ein Panorama des aktuellen und des historischen Ost-Diskurses gezeichnet, das nicht zuletzt sprachlich als sehr gelungen bezeichnet werden kann.
Getragen werden Möllers Überlegungen stets von einer Melancholie des Abschieds. Melancholie, weil bei unseren östlichen Nachbarn „jetzt fast tausend Jahre“ deutsche „Kulturgeschichte zu Ende gehen. Doch in unserem Land dreht sich fast niemand mehr um.“ Das Erbe der deutschen Ostsiedlung in Königsberg, Schlesien, Siebenbürgen – es interessiere das heutige Deutschland nicht mehr. Es bliebe den nun Einheimischen überlassen, Gedenkorte zu pflegen und auf Traditionen zu verweisen. Ob Möller hier verbreitete Trends reflektiert oder nicht doch eher auf Spezialisten getroffen ist, sei dahingestellt. Der aktuelle Zustand ist im Sinne eines friedlichen europäischen Miteinanders gegenüber dem revanchistischen „Im-Bewusstsein-Halten“ der „verlorenen Ostgebiete“ früherer Tage jedenfalls unbedingt vorzuziehen.
Über die deutsche Ostforschung, die bis 1945 und weit darüber hinaus nationalistische und rassistische Stereotype forcieren konnte, möchte er nicht „pauschal“ den Stab brechen lassen. Ein einzelner Wissenschaftler wie Otto Hoetzsch (1876–1946), der mitunter als „russophil“ bezeichnet wurde, kann für eine wie auch immer geartete Ehrenrettung jedoch kaum herhalten. Und der Umstand, dass der „höchst umstrittene“ Hermann Aubin (1885–1969), Protagonist „ethnischer Entmischung“ und Verfechter von „Bevölkerungsverschiebungen allergrößten Ausmaßes“ (Denkschrift aus dem Jahre 1939), laut Möller „inzwischen wieder zitiert“ wird, kann nicht ernsthaft als Beleg für eine Entgiftung der Materie geltend gemacht werden.
Überhaupt vermisst der Leser bei den Ausführungen Möllers dessen eigenen Standpunkt. Dieser lässt sich allenfalls aus der Ablehnung gegenüber anderen Teilnehmern des Ost-Diskurses schließen. Hauptgegner ist der britische Schriftsteller James Hawes, der in seiner Kürzesten Geschichte Deutschlands im Anbetracht der Wahlerfolge der AfD den Osten zum deutschen Verhängnis schlechthin gemacht hatte. Zum Schicksalsfluss stilisiert Hawes dabei die Elbe. Rechts davon liegt, mit Max Weber gesprochen, „Ostelbien“ – mit unklarer Abgrenzung in die Tiefen des Ostens. Links der Elbe, zwischen Rhein und Donau, läge jener Teil, der mit Folgen bis heute rechtlich, religiös und diplomatisch am Römischen Imperium orientiert war. Während sich hier aus den Stammesherzogtümern des frühen Mittelalters die Territorialherzogtümer des Hochmittelalters herausbildeten, wurden unter Otto dem Großen nach 935 im Osten eroberte Gebiete in „Marken“ aufgeteilt. Hierbei handelte es sich um Grenzgebiete, in denen die Macht des Königs nur teilweise griff und in denen vergleichsweise unabhängige Markgrafen in seinem Namen mit harter Hand regierten. Dieser Umstand intensivierte sich nach dem gegen die Elbslawen gerichteten Wendenkreuzzug 1147. Nach Ansiedlung vieler landhungriger Deutscher, hatte das Land fortan einen slawisch-deutsch gemischten Charakter.
De facto handelte es sich um Kolonialgebiet; mit allen Ressentiments auf beiden Seiten, die so etwas zu allen Zeiten und an jedem Ort mit sich bringt – so Hawes.
Im weiteren Verlauf erleben wir hier dann den Aufstieg der Junker, jener ostelbischen Herrschaftskaste, die später verlässlich Offiziere für die preußische Armee bereitstellt und sich im Gegenzug ihre gutsherrliche Herrschaftsgewalt garantieren lässt. Überhaupt Preußen: Bei Hawes erscheint es als undeutsche „Subnation“, die die westlichen Teile Deutschlands schließlich in östliche Händel und Balkankonflikte hineinzog, mit denen sie gar nichts zu tun hatten. Von Martin Luther („Reformation“) bis Otto von Bismarck („Kulturkampf“) wird vor allem die Loslösung vom römischen Erbe betrieben, was dann geradewegs in den Untergang in zwei Weltkriegen führt. Mit den Wahlergebnissen im Westen, so Hawes, wäre die NSDAP niemals stärkste Kraft geworden.
Möller erklärt als dies zur „alten Leier“ und empfiehlt Hawes, statt mit „den alten geschichtspolitischen Klamotten“ zu kommen, sich viel eher zu fragen, warum im heutigen Europa „durch fast jedes Land inzwischen ein tiefer gesellschaftlicher Riss verläuft“. Den Ansatz, die deutsch-deutschen Verhältnisse nach 1990 einmal mit den Mitteln der Migrationsforschung zu untersuchen, wie sie Frank Bollmann 2017 in der FAZ vorgenommen hat, erklärt Möller unumwunden zum „schlechten Scherz“. Kurzum: Jeglichen Versuchen, den Osten als „das Andere“ oder auch nur das „etwas Andere“ des Westens zu konstruieren, und dies an langen geschichtlichen Linien festzumachen, erteilt er eine klare Absage. Die Geburtsstunde des „Ostdeutschen“ sieht er mit der Autorin Jana Hensel vielmehr erst im Jahre 1990. Erst die Wende habe jene Erfahrungsgemeinschaft hervorgebracht, die heute, dreißig Jahre später, statt zur inneren Einheit zu desintegrativen Tendenzen führt, die sich auch am unterschiedlichen Wahlverhalten festmachen. Aufgrund dieser Erfahrungsgemeinschaft sei mittlerweile eine größere Nähe zu den Visegrád-Staaten erkennbar, was sich auch im wieder virulent werdenden Mitteleuropa-Konzept wiederspiegelt.
In dieser Lesart ist dann der postnationale Westen nicht mehr das große Vorbild der postsozialistischen Nachwendestaaten des Ostens, sondern vielmehr ein abschreckendes Beispiel. Ostermitteleuropa definiere sich in der Selbsterzählung in weiten Teilen noch immer als „Bollwerk gegen die asiatischen Reiterhorden“ und als „Vormauer der Christenheit an den Grenzen der abendländischen Zivilisation“. Weite Teile der Bevölkerung in den wiedergekehrten Nationalstaaten empfänden sich als „Kern des wahren Europas und als Motor des neuen, jenseits der alten EU“, fasst Möller mit Karl-Peter Schwarz (FAZ), der sächsischen Ex-Grünen Antje Hermenau und dem ungarischen Politikwissenschaftler György Schöpflin zusammen.
Mit herkömmlichen Rechtspopulismusdefinitionen kann der Autor dabei wenig anfangen. Lieber spricht er mit dem Göttinger Politikwissenschaftler Torben Lütjen von „radikalen Selbstermächtigungsphantasien“, die nicht in autoritärer Tradition stehen, und mit dem Soziologen Andreas Reckwitz von den Rechtspopulisten als Teil einer postmodernen „Gesellschaft der Singularitäten“. Seine diesbezüglichen Überlegungen gipfeln im Bonmot vom Rechtspopulismus als „postmoderne Anti-Postmoderne-Bewegung“, analog zum Nationalsozialismus als „moderne Anti-Moderne-Bewegung“.
Die Wahl der AfD kann in dieser Sichtweise mithin als „emanzipativer“ Akt gelesen werden. Die Publizistin Liane Bednarz hat darauf hingewiesen, wie sich die Partei als „Vollenderin“ der friedlichen Revolution geriert und durch sprachliche Provokationen bei programmatischer Unschärfe eine Parallelität zwischen dem Ende der DDR und der Politik der Gegenwart konstruiert: „Da ist die Rede von ‚Blockparteien‘ (gemeint sind die etablierten Parteien), einer ‚Art Politbüro‘ (gemeint ist die Merkel-Regierung) oder der AfD als ‚das aktuelle Neue Forum‘.“ Johannes Leithäuser hat in der FAZ von „ostdeutschen Achtundsechzigern“ gesprochen: „Es sind nicht die Jungen, die anklagende Fragen an die Eltern stellen; es sind die Alten, die ihren (West-)Kindern Vorwürfe machen, ihnen einstige Sicherheiten genommen zu haben.“
Viele der oben beschriebenen Selbsterzählungen referiert Möller unkritisch und insinuiert so zumindest eine gewisse Plausibilität. Beim bulgarischen Politologen Ivan Krastev, der zum Stichwortgeber des Rechtspopulismusdiskurses geworden ist und die Migrationskrise von 2015 zum Brandbeschleuniger erklärt hat, hört es jedoch mit seinem Verständnis auf. „Erstaunlich lange“ habe man diesen „gewähren lassen“, wenn von „liberaler Heuchelei“, einem „Nachahmungsimperativ“ der West- gegenüber den Mittelosteuropäern oder einer einzigen „Enttäuschungsgeschichte“ nach 1989 die Rede war. Möller führt nun überraschenderweise die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann gegen Krastev ins Feld, die von dessen „kollektiv-psychologischer“ wieder zur „politisch-strategischen“ Ebene kommen will: „Wer die Gültigkeit der Menschenrechte akzeptiert, kann nicht vom Nachahmungsimperativ reden. Es geht nicht um Enttäuschungen und Demütigungen, auch wenn sie als solche empfunden werden. Es geht um eine viel grundsätzlichere Frage: Will man Europa universell denken, oder will man das nicht?“
Mit Assmann gegen Krastev, aber mit Hensel gegen Hawes? Möller entgeht schlussends der Bredouille, in die seine Überlegungen führen, durch eine dialektische Volte: „Wir werden uns – ob wir es wollen oder nicht – daran gewöhnen müssen, den Widerstand gegen die globale Welt und ihre ubiquitären Eliten als hochmodern zu begreifen; nicht als Zeichen von Rückständigkeit oder regressivem Verhalten.“ Welche Synthese sich aus diesem Spannungsverhältnis dereinst ergeben wird, bleibt der Zukunft überlassen.
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