Von der Todesfuge und hessischer Fleischwurst

Hans Christoph Buch schreibt ohne Punkt und Komma

Von Karl-Josef MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karl-Josef Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf den ersten drei Seiten seines Romans Stillleben mit Totenkopf verzichtet Hans Christoph Buch auf Satzzeichen. Atemlos jagt der Autor seine Leser durch das afrikanische Totenreich von Bangui, „der Hauptstadt der Zentralafrikanischen Republik Hauptstadt ist zu viel gesagt Republik ebenfalls“.

„Der Tod ist ein Bademeister der Blätter aus dem Pool des Ledger Plaza Hotels fischt“ ‒ elfmal, wenn wir uns nicht verzählt haben, verwendet Buch auf diesen ersten drei Seiten seines Romans die Formulierung „der Tod ist“. Bei ihm ist er kein „Meister aus Deutschland“, wie in Paul Celans Todesfuge, wo die Definition viermal verwendet wird, aber wie bei Buch kann der Leser nicht stillhalten, bis er den gesamten Text gelesen hat; auch Celan hat sein bekanntestes Gedicht ohne Punkt und Komma verfasst.

Wo das Buch beginnt, dort endet es auch: in Bangui. Bilden die ersten drei Seiten eine Art Prolog – „BANGUI, AUGUST 2017 (Statt eines Prologs)“ – so die letzten sieben einen Epilog in Form eines offenen Briefes an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, datiert „Bangui, August 2017“. Vorangestellt sind dem Brief die ersten vier Zeilen des Chanson Le déserteur des französischen Schriftstellers Boris Vian aus dem Jahr 1954, der wiederum als Reaktion auf das Verbot des Liedes – es durfte bis zum Ende des Algerienkrieges 1962 nicht im französischen Radio gespielt werden – einen offenen Brief an Paul Faber, ein Mitglied des Rates des Départements, schrieb mit dem Titel Lettre ouverte à Monsieur Faber.

Wir wissen nicht, ob jemals einem anderen Autor ein so unterhaltsames und dabei ernsthaftes Memento Mori gelungen ist. Die toten Freunde, die Buch im Prolog zuwinken, reihen sich ein in all die vorüberziehenden Toten: vom früh verstorbenen Literaten Wolfgang Maier, der „an einem Wurstzipfel erstickt“ bis hin zu den „Schülern und Studenten, die erstmals ihr Wahlrecht ausübten“ und dabei einem Massaker zum Opfer fielen. Das genaue Datum ist bekannt: „es war Sonntag, der 29. September 1987“ , in Port-au-Prince auf Haiti. 

Weil überall gestorben wird und der Tod allgegenwärtig ist, darf Buch oft und unvermittelt Schauplatz und Thema wechseln. In Wetzlar, seiner Geburtsstadt, wäre er als Säugling fast ums Leben gekommen. Am Montag, den 9. Oktober 1944, Buch ist fast auf den Tag genau ein halbes Jahr alt, steigen in Südengland Flugzeuge in die Luft, „um die Goethestadt vom Erdboden zu tilgen.“ Eines der Ziele sind die Leitz-Werke. Vom Fabrikanten Ernst Leitz ist bekannt, dass er „verfolgten Juden zur Flucht aus Nazideutschland verhalf.“ Eine geschlossene Wolkendecke verhindert den Angriff, die Flieger steuern Koblenz „als Ausweichziel“ an, „die Innenstadt von Koblenz verglüht im Feuersturm und muss nach dem Krieg komplett neu aufgebaut werden.“ Ohne die Wolken „wäre die Stadt (Wetzlar) in Schutt und Asche versunken, ich wäre in der Wiege verbrannt oder mit Eltern und Geschwistern im Bombenhagel ums Leben gekommen“.

Es ist in der Kürze nicht möglich, all die wechselnden Schauplätze und historischen Zusammenhänge zu skizzieren, an die Buch sich erinnert. Auch wenn der Leser immer wieder von plötzlichen und wie unvermittelt anmutenden Perspektivwechseln überrascht wird, verliert er letztlich doch nie die Orientierung. Denn egal was der Autor uns erzählt, seine Gedanken kreisen immer um den Tod und damit verbunden um das Leben mit all seinen Absurditäten.

Dabei steht jedes Wort von Hans Christoph Buch unter dem Vorbehalt möglicher absoluter Sinnlosigkeit. Klaus Habermüller ist ein Chaot, er ist das, was landläufig eine gescheiterte Existenz genannt wird; ein Clown, einer, der in voller Lautstärke Gustav Mahler hört, während neben ihm im R4 vor einer Dorfmetzgerei im Taunus sein Freund Wolfgang Maier an einem Zipfel Fleischwurst erstickt. Dieser Klaus Habermüller ‒ eine Figur, wie Thomas Bernhard, aber vielleicht auch Samuel Beckett sie sich hätten ausdenken können ‒ ist er es möglicherweise, der den Kern allen Schreibens, zumal des sogenannten engagierten, benennt?

Wenn ich die Augäpfel mit dem Handrücken reibe, bis Kreuze und Sternchen hinter den geschlossenen Lidern tanzen, sehe ich ihn auf dem zinnoberroten Sofa meiner Studentenbude sitzen, Uhlandstraße 188, die in verschwitzten Socken steckenden Füße vor sich auf dem Tisch, und mit Frankfurter Akzent eine Rede halten, die sich wie eine Endlosschleife im Kreis dreht: ‚Ihr Literaten macht es euch leicht, ständig bringt ihr irgendwas zu Papier, um die eigene Nichtigkeit nicht ertragen zu müssen.‘

Buch verzichtet darauf, den Frankfurter Akzent schriftlich fassen zu wollen, man sollte sich aber probehalber in etwa vorstellen, wie das geklungen haben muss: ‚Ihr Lidderade machd es eusch leischd …‘. Und aus der ernsthaften Nichtigkeit wird die ‚Nischdischkeid‘, angesichts derer nur hessische ‚Fleischworschd‘ Trost zu bieten in der Lage ist – begleitet von lautstarker Mahler-Musik und mit tödlichen Folgen.

Hans Christoph Buch verzichtet darauf, die Ereignisse und Erinnerungen, die er in seinem Roman schildert, sinnvoll zu ordnen und einem logischen Erzählstrang zu unterwerfen. Darin liegt die enorme Wirkung seines Buches. Es wirkt manchmal schnoddrig geschrieben, aber das täuscht, denn belesen, wie der Autor ist, stellt er immer wieder erstaunliche Verbindungen her zwischen der sogenannten Hochkultur und dem, was ihm, wie man floskelhaft sagt, unter den Nägeln brennt. So auch im offenen Brief an Bundespräsident Steinmeier:

Dieser Brief ist eine Zumutung, ich weiß […] Dass die Zentralafrikanische Republik, die am Rand des Abgrunds und an der Schwelle zum Völkermord steht, in den Medien unterbelichtet bleibt, liegt nicht nur an Desinteresse oder Unkenntnis. ‚Auswegloses Leiden erregt kein Mitleid, sondern Abscheu‘, schreibt Lessing im Laokoon. Die Wahrheit dieses Satzes habe ich am eigenen Leib gespürt: Das Fieber des Bürgerkriegs steckte mich an, ich hatte die Nase voll vom Blabla der Experten und den Lügen der Politiker und wurde vom Teil der Lösung zum Teil des Problems.

Titelbild

Hans Christoph Buch: Stillleben mit Totenkopf.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2018.
249 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783627002527

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