Ein unmoralisches Angebot

Natalie Buchholz geht in ihrem Roman „Unser Glück“ der Frage nach, wie die Macht von Vermietern sich auf eine Paarbeziehung auswirken kann

Von Miriam SeidlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Seidler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erik hat durch einen glücklichen Zufall eine günstige Studentenwohnung in München gefunden, die er sich mit seinem Freund Coordt teilt. Als Erik beschließt, Deutschland hinter sich zu lassen und in Lateinamerika neu zu beginnen, bietet er die Wohnung Coordt für eine Vermittlungsgebühr von 2500 Euro an. Das Geld – so seine Begründung – könnte er gut als Starthilfe für seinen Neustart gebrauche. Coordt ist entsetzt von dem Angebot seines besten Freundes und lehnt entrüstet ab. Sie ziehen beide ihres Weges und haben fortan keinen Kontakt mehr.

Coordt sucht acht Jahre später für sich, seine Frau Franziska und den gerade geborenen Sohn Frieder eine größere Wohnung. Das Angebot ist verlockend: 120 lichtdurchflutete Quadratmeter in bester Lage in Schwabing zu einem bezahlbaren Preis. Einziger Nachteil: Der knapp 70-jährige Ex-Mann der Vermieterin wohnt weiterhin in der Wohnung und droht Coordt bereits bei der Besichtigung:

Der Mann sah über den Rand der Lesebrille erst auf seine Ex-Frau, dann auf Coordt und schließlich ins Buch. „Ziehen Sie hier ein, mache ich Ihnen das Leben zur Hölle. Sie werden ihr Feuer zu spüren kriegen“, gab er unvermittelt von sich. Die Art, wie er es sagte, klang nach einem Scherz, und dennoch schwang etwas Bedrohliches mit.

Auch dieses Angebot irritiert Coordt, doch die Depression, unter der seine Frau nach der Geburt des Sohnes leidet und die von der Enge der Wohnung und ihren diffusen Ängsten vor der Feinstaubbelastung an der Ausfallstraße verstärkt wird, lassen Coordt zusagen.

Die beiden Episoden stammen aus Natalie Buchholz zweitem Roman Unser Glück. Zeigt der Protagonist Coordt im ersten Fall ein Gerechtigkeitsempfinden, das das unmoralische Angebot seines Jugendfreundes als unangebracht ablehnt, so sieht die Situation einige Jahre später anders aus. Bei der Wohnungsbesichtigung beobachtet er, wie alle Paare vor ihm die Wohnung schnell wieder verlassen. Die Nachricht von einem potenziellen Mitbewohner schreckt sie ab. Coordt und seine Frau Franziska entscheiden sich dazu, das Angebot zu akzeptieren. Die Aussicht auf diese Traumwohnung ist einfach zu verlockend. Die Versuchsanordnung erinnert entfernt an Erzählungen E.T.A. Hoffmanns. Der Einbruch einer fremden Macht, die man mehr erahnt, als dass sie real wäre, dringt in eine an sich schon problematische Beziehung ein.

Während Franziska im neuen Umfeld auflebt, kann Coordt den nur durch eine Tür von der Familienwohnung getrennten Nachbarn nicht vergessen. Er wartet regelrecht darauf, dass dieser die Grenze übertritt und in das Reich der Familie einbricht. Seine innere Unruhe wird zudem dadurch verstärkt, dass seine Frau zunehmend über ihre Verhältnisse lebt und sich auf eine ihm fremde Weise an das neue Viertel anpasst. Lange muss Coordt und mit ihm der Leser nicht warten. Als er erschöpft von einem beruflichen Aufenthalt in Frankfurt zurückkehrt, sitzt der Mann bei seiner Frau auf dem Sofa. Er hat ihr ein Angebot unterbreitet: Er ist todkrank und möchte die rund sechs Monate, die ihm noch bleiben, von Franziska betreut und gepflegt werden. Coordt muss in dieser Zeit aus der Familienwohnung ausziehen. Er möchte in Franziska die Tochter sehen, die er nie hatte. Als Gegenleistung schenkt der Mann Franziska nach seinem Tod die Wohnung, die er inzwischen seiner Ex-Frau abgekauft hat.

In dieser Situation funktioniert Coordts moralischer Kompass:

Coordt atmete hörbar aus. „Ich weiß nicht, Fani, ich habe kein gutes Gefühl dabei. Er will einen Keil zwischen uns treiben, siehst du das nicht?“
„Das kann er doch gar nicht.“
„Aber er versucht es, und ich habe keine Ahnung, wieso. Ich kann nachvollziehen, dass er sich jemanden wünscht, der bis zum Schluss für ihn da ist. Ich kann auch verstehen, dass er sich dich wünscht, das würde ich auch, wäre ich an seiner Stelle. Aber das erklärt nicht, weshalb ich ausziehen muss, weshalb er mich von meiner Familie trennt. Das ist … das ist krank.“

Doch Franziska ist nicht bereit, aus der neuen Wohnung auszuziehen. Mit dem Hinweis, dass es für sie als Heimkind nicht in Frage kommt, das Angebot auszuschlagen, setzt sie ihren Mann moralisch unter Druck. Um den Familienfrieden zu wahren, geht Coordt auf das unmoralische Angebot ein. Er zieht aus und fürchtet in den nächsten Monaten nicht nur darum, die gute Beziehung zu seinem Sohn aufs Spiel zu setzen, sondern ist auch nicht in der Lage, der Entfremdung zu seiner Frau, die ihn nicht an ihrem Leben teilnehmen lässt, etwas entgegenzuhalten. Im Folgenden schildert Buchholz, die aus der Innenperspektive des jungen Familienvaters erzählt, gekonnt dessen zunehmende Verzweiflung. Als Erinnerungen des verlassenen Manns erzählte Rückblenden ergeben ein Psychogramm der Paarbeziehung. Kurze stakkatohafte Sätze, manchmal auch auf Reihungen von Substantiven verkürzt, lassen den Leser atemlos an den Ereignissen teilnehmen. Er wird zum Komplizen der Figur. Die emotionale Notlage bedarf nicht vieler Worte.

Der Titel des Romans – Unser Glück – erinnert an den Werbeslogan eines Immobilienmaklers oder die Schlussformel von Märchen. Diese suggeriert, dass mit der Eheschließung nicht nur zusammenfindet, was zusammengehört, sondern dass damit zugleich der gemeinsame Weg des Paares vorbestimmt ist. Natalie Buchholz entwirft eine andere Sicht der Dinge: Mit der Eheschließung fängt das Drama erst an. Das Glück muss gemeinsam erarbeitet werden, damit es bis zum Lebensende überdauert. Ist die Erfüllung der romantischen Liebe langweilig und daher keine weitere Erzählung wert, so ist das Scheitern einer Beziehung in seinen unterschiedlichen Facetten eines der zentralen Themen der Literaturgeschichte. Mit ihrer Variation des Themas entwickelt Natalie Buchholz ein Szenario, das nicht nur den unausgesprochenen Problemen einer Paarbeziehung einfühlsam nachgeht. Zugleich wird am Beispiel der Wohnungsnot in München aufzeigt, dass die Verführung durch Besitz und der bedingungslose Wunsch, zu den Glücklichen und Erfolgreichen zu gehören, eine große Herausforderung für eine Paarbeziehung sein kann. Und so verfolgt der Leser gespannt, ob und gegebenenfalls wie Franziska und Coordt wieder zusammenfinden. Dabei ist er ­– wie die Parallelgeschichte um Erik zeigt – mit der Frage konfrontiert, unter welchen Umständen eine Beziehung, sei es unter Freunden oder Liebenden, aufrechterhalten werden sollte. Ist der Preis, den Coordt bezahlt, eventuell zu hoch?

Titelbild

Natalie Buchholz: Unser Glück. Roman.
Penguin Verlag, München 2022.
204 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783328601883

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